As Time Goes By

Die wandernde Wüste

Sand dringt durch jede Ritze des Solarbusses, in dem wir seit Wochen leben. Er sammelt sich in den Augenwinkeln, knirscht zwischen den Zähnen, reibt die Haut wund wie feines Schmirgelpapier. Die Luft im Inneren ist stickig und heiß, gesättigt vom Geruch ungewaschener Körper und dem scharfen Aroma der recycelten Proteinriegel, die unsere Hauptnahrung sind.

Ich sitze am Fenster und starre auf die endlose Dünenlandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Die Karte auf dem veralteten GPS-Gerät zeigt nur noch gelbe Flecken, wo einst Städte, Seen, Wälder waren. Die große europäische Wüste, geboren aus Jahrhunderten des Klimawandels, der Abholzung, der Versiegelung – ein Monument menschlicher Kurzsichtigkeit.

Fünf Tage ist es her, seit ich Berlin verlassen habe, seit ich vom Botschafter des Netzwerks ausgesandt wurde, um mit den Kontinentalen zu verhandeln. Den ersten Teil meiner Reise begleiteten mich die Kletterer, führten mich durch den vertikalen Wald bis zum Rand der Stadt, wo die Vegetation abrupt endete und die Wüste begann.

Dort traf ich auf den Solarbus und seine Bewohner – Nomaden, die die Wüste durchqueren, immer auf der Suche nach Wasser, nach Leben, nach einem Ort, der noch keine Wüste ist. Sie nahmen mich auf, ohne viele Fragen zu stellen. In dieser Welt sind Fremde entweder Feinde oder potenzielle Verbündete – es gibt keinen Platz für Neutralität.

„Denkst du immer noch an deinen grünen Freund?“, fragt eine raue Stimme neben mir.

Ich drehe mich um und sehe Malik, den Anführer der Nomaden. Sein Gesicht ist ein Netzwerk aus Falten und Narben, seine Haut von der Sonne gegerbtem Leder gleich. Ein dichter, grau melierter Bart bedeckt sein Kinn, und seine Augen – eines blau, eines braun – scheinen durch mich hindurchzusehen.

„Ich denke an vieles“, antworte ich ausweichend.

Malik schnaubt, ein Geräusch zwischen Belustigung und Missbilligung. „Du sprichst im Schlaf, weißt du das? Von Netzwerken und Öl und Verbindungen.“ Er beugt sich vor, sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt. „Was bist du wirklich, Wanderer? Ein Spion der Kontinentalen? Oder etwas… anderes?“

Ich halte seinem Blick stand, spüre, wie das Flüstern des Netzwerks in meinem Hinterkopf lauter wird – ein Warnsignal, eine Erinnerung an meine nicht mehr ganz menschliche Natur.

„Ich bin ein Bote“, sage ich schließlich. „Zwischen denen, die du fürchtest, und denen, denen du nicht vertraust.“

Malik lacht, ein scharfes, bellenes Geräusch. „Poetisch ausgedrückt. Aber hier in der Wüste überleben keine Poeten – nur Pragmatiker.“ Er deutet auf die Dünen draußen. „Siehst du, wie sie sich bewegen? Die Wüste wandert. Jeden Tag verschlingt sie mehr Land, mehr Leben. In meiner Jugend endete sie hundert Kilometer südlich von hier. Jetzt?“ Er macht eine weitreichende Geste. „Europa ist ein Sandkasten.“

„Das muss nicht so bleiben“, sage ich leise.

Malik hebt eine buschige Augenbraue. „Oh? Hat dein ‚Netzwerk‘ einen Plan, die Welt wieder grün zu machen? Die Gletscher wieder aufzubauen? Die toten Meere wiederzubeleben?“

Ich zögere. Die Visionen, die ich durch das Öl gesehen habe, zeigten tatsächlich eine grünere Welt – aber eine fundamental andere als die, die wir verloren haben. Eine symbiotische Welt, in der Pflanzen, Tiere und Menschen in einem unterirdischen Geflecht aus Bewusstsein verbunden sind. Würde Malik das verstehen? Würde er es akzeptieren?

„Es gibt einen Weg“, sage ich vorsichtig. „Aber er erfordert Veränderung. Anpassung.“

Malik schnaubt wieder. „’Anpassung‘ ist ein hübsches Wort für ‚Leiden‘.“ Er lehnt sich zurück, sein Blick wandert zu den anderen Passagieren des Busses – eine bunte Mischung aus Überlebenden aller Altersgruppen und Hintergründe. Ein alter Mann mit einer Augenklappe schnarcht leise in der Ecke. Eine junge Frau mit einem Baby an der Brust summt ein Wiegenlied. Zwei Teenager spielen ein Würfelspiel mit selbstgeschnitzten Knochen.

„Wir haben uns angepasst“, fährt Malik fort, seine Stimme nun leiser, fast nachdenklich. „Immer und immer wieder. Wir haben gelernt, in der Wüste zu leben, Wasser aus Kakteen zu gewinnen, Salz aus dem Sand zu filtern. Wir haben gelernt, den Monstern auszuweichen, die in den Dünen lauern, und den Patrouillen der Kontinentalen, die jeden mitnehmen, der gesund genug für ihre Experimente ist.“ Er fixiert mich wieder mit seinen verschiedenfarbigen Augen. „Wie viel mehr Anpassung erwartet dein sogenanntes Netzwerk von uns?“

Bevor ich antworten kann, ertönt ein schriller Alarm vom Armaturenbrett des Busses. Die Fahrerin, eine hagere Frau namens Zara, flucht und schlägt mit der flachen Hand auf einen flackernden Monitor.

„Sandstrum“, ruft sie über die Schulter. „Ein großer. Von Westen kommend.“

Malik ist sofort auf den Beinen, alle Gedanken an unsere Unterhaltung vergessen. „Wie weit?“

„Zehn Kilometer, vielleicht weniger“, antwortet Zara. „Er bewegt sich schnell.“

„Verdammt“, murmelt Malik. „Wir sind zu weit von jedem Unterschlupf entfernt.“ Er wendet sich an die Passagiere, die nun alle wach und alarmiert sind. „Bereitet euch auf Protokoll Düne vor! Masken und Schutzbrillen! Die Kinder in die Mitte!“

Eine hektische Aktivität bricht aus. Taschen werden aufgerissen, Atemmasken und Schutzbrillen verteilt. Die Fenster werden mit Stoffbahnen abgedichtet, die Türen mit zusätzlichen Dichtungen versehen.

Ich helfe, so gut ich kann, reiche Masken weiter, halte Planen fest, während andere sie befestigen. Das Flüstern in meinem Kopf ist jetzt ein Summen, ein Brummen, als würde das Netzwerk versuchen, mich zu warnen.

Durch das Frontfenster sehe ich es kommen – eine gigantische Wand aus Sand und Staub, die am Horizont aufsteigt wie ein lebendiges Gebirge. Die Sonne wird verschluckt, der Himmel verdunkelt sich zu einem schmutizgen Orange.

„Hält der Bus das aus?“, frage ich Malik, der neben mir steht und das Phänomen mit grimmiger Miene beobachtet.

„Er hat es bisher immer getan“, antwortet er. „Aber dieser Sturm ist größer als die meisten.“ Er setzt eine Atemmaske auf, reicht mir eine weitere. „Hier, du wirst es brauchen. Der feine Sand dringt überall ein. Ohne Maske erstickt man innerhalb von Minuten.“

Ich nehme die Maske, zögere aber, sie aufzusetzen. Seit meiner Verbindung mit dem Netzwerk in Berlin hat sich mein Körper verändert. Ich spüre es in kleinen Dingen – ich brauche weniger Schlaf, weniger Nahrung. Wunden heilen schneller. Und meine Sinne sind schärfer, feiner abgestimmt auf die Welt um mich herum.

„Was ist?“, fragt Malik ungeduldig. „Setzt sie auf!“

Ich gehorche, schlingi die Gummibänder um meinen Kopf, passe den Metallbügel über meiner Nase an. Die Luft, die ich durch den Filter atme, schmeckt künstlich und trocken.

Der Sturm trifft uns mit der Wucht eines Güterzugs. Der Bus schwankt, ächzt unter dem Ansturm. Sand peitscht gegen die Fenster, findet seinen Weg durch jede noch so kleine Ritze. Die Luft im Inneren wird sofort dick und staubig.

„Runter auf den Boden!“, befiehlt Malik. „Haltet euch fest!“

Wir kauern uns alle auf den Boden des Busses, halten uns an Sitzen, Stangen, aneinander fest. Der Sturm heult wie ein lebendes Wesen, rüttelt an unserem Gefährt, als wolle er es aufbrechen und verschlingen.

Und während wir dort hocken, in Dunkelheit und Chaos, höre ich etwas anderes – nicht nur den Sturm, sondern Stimmen in ihm. Das Flüstern des Netzwerks wird deutlicher, konkreter, als würde der Sand selbst zu mir sprechen.

Es sind nicht die beruhigenden, vertrauten Signale, die ich seit Berlin empfange. Diese Stimmen sind älter, fremder, wilder. Sie sprechen nicht von Verbindung, von Symbiose, von einer neuen Weltordnung. Sie erzählen von Hunger, von Durst, von einer Wut, die so alt ist wie die Erde selbst.

Die Wüste lebt, erkenne ich mit plötzlichem Schrecken. Aber nicht als Teil des harmonischen Netzwerks, das der Botschafter mir zeigte. Sie lebt als etwas anderes, etwas älteres. Ein Raubtier, das geduldig darauf gewartet hat, die Welt zurückzuerobern.

Ich schließe die Augen, versuche mich zu konzentrieren, die fremden Stimmen zu verstehen. Bilder blitzen in meinem Geist auf – ausgetrocknete Flussbetten, die sich wie Narben durch die Landschaft ziehen. Versunkene Städte, von Sand wie von einem Leichentuch bedeckt. Und tief unter der Oberfläche, ein Pulsieren, ein Wachsen, ein Ausdehnen.

„Es kommt nicht vom Westen“, flüstere ich, meine Stimme kaum hörbar über dem Heulen des Sturms.

Malik, der neben mir kauert, dreht den Kopf. „Was?“

„Der Sturm“, sage ich lauter. „Er kommt nicht natürlich von Westen. Er wird… geschickt.“ Die Worte klingen absurd, selbst in meinen eigenen Ohren, aber ich weiß, dass sie wahr sind. Der Sturm ist kein meteorologisches Phänomen. Er ist ein Werkzeug, eine Waffe, ein Bote.

Malik starrt mich durch die Schutzbrille an, seine Augen unlesbar hinter dem beschlagenen Glas. „Geschickt? Von wem?“

Ich zögere. Wie erkläre ich etwas, das ich selbst kaum begreife? „Von den Nomaden“, sage ich schließlich. „Den menschlichen Nomaden, die mit uns um die letzten Wasserlöcher kämpfen.“

Ein ironisches Schnauben. „Wir sind die Nomaden.“

Ich schüttele den Kopf. „Es gibt andere. Ältere. Sie waren hier, bevor die Wüste kam, und sie haben gelernt, sie zu nutzen, zu lenken.“

Maliks Augen verengen sich. „Woher weißt du das?“

Eine gute Frage. Woher weiß ich das? Die Antwort liegt im Flüstern, in den Bildern, die durch meinen Kopf ziehen wie Fetzen einer vergessenen Erinnerung. Das Netzwerk in mir verbindet sich mit etwas anderem hier – einem älteren Netzwerk, primitiver, wilder, aber auf seine Weise ebenso mächtig.

„Ich höre sie“, sage ich einfach. „Durch den Sand.“

Für einen Moment herrscht Stille, nur unterbrochen vom Heulen des Sturms und dem Knarren des Busses. Dann bricht Malik in ein heiseres Lachen aus.

„Du bist verrückter, als ich dachte, Wanderer“, sagt er, klopft mir auf die Schulter. „Aber in dieser Welt ist Wahnsinn vielleicht ein Vorteil.“

Ich will antworten, ihm erklären, dass es kein Wahnsinn ist, dass ich tatsächlich etwas spüre, etwas höre, das kein normaler Mensch wahrnehmen kann. Aber bevor ich sprechen kann, ertönt ein ohrenbetäubendes Krachen.

Eine der Seitenscheiben des Busses birst nach innen, zersplittert in tausend Stücke. Sand stürzt herein wie eine lebendige Flut, begräbt die Passagiere, die der Fenster am nächsten sitzen. Schreie ertönen, werden erstickt von der eindringenden Masse.

„Zu mir!“, brüllt Malik, packt meinen Arm mit eiserner Kraft. „Zur Luke!“

Er zieht mich durch den Bus, vorbei an panischen Menschen, die gegen den eindringenden Sand kämpfen. Im hinteren Teil des Fahrzeugs öffnet er eine Bodenluke, die ich zuvor nicht bemerkt hatte.

„Runter!“, befiehlt er, schubst mich durch die Öffnung.

Ich falle in Dunkelheit, lande hart auf sandigem Boden. Ein unterirdischer Raum, realisiere ich – ein Notfallbunker unter dem Bus, vermutlich für genau solche Katastrophen konstruiert.

Weitere Körper fallen durch die Luke, Kinder zuerst, dann Frauen, schließlich die Männer. Malik kommt als Letzter, zieht die Luke hinter sich zu und verriegelt sie mit einem schweren Metallriegel.

Jemand entzündet eine Lampe – ein primitives Ding aus Tierfett und Stoff, das mehr Schatten als Licht wirft. In seinem flackernden Schein sehe ich die verängstigten Gesichter der Überlebenden. Zehn, vielleicht zwölf Menschen. Weniger als die Hälfte derer, die im Bus waren.

„Die anderen?“, fragt eine Frau, ihre Stimme zitternd.

Malik schüttelt grimmig den Kopf. „Der Sand hat sie genommen.“

Ein leises Schluchzen erfüllt den kleinen Raum. Eine Mutter drückt ihr Kind an sich, flüstert beruhigende Worte in sein Haar. Der alte Mann mit der Augenklappe murmelt ein Gebet in einer Sprache, die ich nicht kenne.

„Was jetzt?“, frage ich Malik leise.

Er zieht eine schmutzige Karte aus seiner Jacke, breitet sie im schwachen Licht aus. „Wir sind hier“, sagt er, deutet auf einen Punkt inmitten von Nichts. „Der nächste Unterschlupf ist zwanzig Kilometer nordöstlich. Ein verlassenes Bergwerk, tief genug, um vor der Wüste geschützt zu sein.“

„Zwanzig Kilometer durch den Sturm?“, frage ich zweifelnd.

Malik schüttelt den Kopf. „Nicht durch den Sturm. Unter ihm.“ Er klopft auf den Boden. „Dieser Bunker ist Teil eines alten Tunnelsystems. Ursprünglich für Wartungsarbeiten an Pipelines gedacht, später von Flüchtlingen erweitert. Sie führen durch die ganze Wüste.“

„Und du kennst den Weg?“

Ein grimmiges Lächeln. „Ich wurde in diesen Tunneln geboren, Wanderer. Sie sind sicherer als die Oberfläche – keine Kontinentalpatrouillen, keine Sandstürme. Nur…“

„Nur was?“, frage ich, als er zögert.

Malik tauscht einen Blick mit Zara, der Fahrerin, die nun neben ihm kniet. „Es gibt Dinge in den tieferen Tunneln“, sagt sie leise. „Dinge, die einst Menschen waren. Oder die nie Menschen waren. Niemand weiß es genau.“

„Die Unterirdischen“, ergänzt der alte Mann mit der Augenklappe, sein einzelnes Auge glänzt unheimlich im Lampenlicht. „Sie leben in ewiger Dunkelheit. Sie sehen ohne Augen. Sie hören jeden Herzschlag. Und sie hungern immer.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Das Flüstern in meinem Kopf wird dringlicher, warnt mich vor etwas altem, gefährlichem, das dort unten lauert. Nicht Teil des neuen Netzwerks, das in Berlin entstand, sondern etwas anderes – eine parallele Evolution, ein Zweig des Lebensbaums, der sich in die Dunkelheit statt ins Licht entwickelt hat.

„Haben wir eine Wahl?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

Malik schüttelt den Kopf. „Der Sturm könnte tagelang anhalten. Ohne Wasser und Nahrung würden wir nicht überleben. Wir müssen das Bergwerk erreichen.“

Er steht auf, richtet sich an die kleine Gruppe. „Packt zusammen, was ihr tragen könnt! Wasser hat Priorität, dann Nahrung. Alles andere ist Luxus, den wir uns nicht leisten können. Wir brechen in fünf Minuten auf.“

Die Minuten vergehen wie im Flug, während wir hektisch Vorräte sortieren, Rucksäcke packen, uns auf die bevorstehende Reise vorbereiten. Ich helfe, wo ich kann, verteile Wasserflaschen, taste nach lecks, befestige Verschlüsse.

Als wir bereit sind, führt Malik uns zu einer schmalen Tür an der Rückwand des Bunkers. Sie öffnet sich quietschend und gibt den Blick frei auf einen niedrigen, staubigen Tunnel, der sich in die Dunkelheit erstreckt.

„Bleibt dicht beieinander“, instruiert er uns, während er eine batteriebetriebene Taschenlampe entzündet – ein kostbares Relikt aus besseren Zeiten. „Berührt die Wände nicht, wenn ihr es vermeiden könnt. Manche von ihnen sind instabil. Und macht so wenig Geräusche wie möglich. Sound trägt weit in den Tunneln.“

Mit diesen Worten tritt er in die Dunkelheit, und wir folgen ihm einer nach dem anderen, eine Prozession von Verzweifelten, die das Bekannte verlassen haben, um sich dem Unbekannten zu stellen.

Der Tunnel ist eng und niedrig, zwingt uns, in gebückter Haltung zu gehen. Die Luft ist stickig und schmeckt nach Staub und etwas anderem – metallisch, fast süß. Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter, sammelt sich in kleinen Bächen an meiner Wirbelsäule.

Wir gehen schweigend, nur das Knirschen unserer Schritte auf dem sandigen Boden und das gelegentliche Wimmern eines Kindes durchbricht die Stille. Die Zeit verliert ihre Bedeutung in der Dunkelheit. Minuten könnten Stunden sein, Stunden T“Du standest an der Grenze“, antwortet der Kletterer, seine Stimme ein unheimlicher Chor. „Zwischen dem alten Denken und dem neuen. Du hast gehorcht, als die meisten flohen. Du hast verstanden, als die meisten leugneten. Du bist der Übersetzer. Die Brücke.“

Ein Ruck geht durch meinen Körper, als die Wahrheit mich trifft. Ich war nie ein Überlebender. Ich war ein Werkzeug. Ein Bote, wie er sagte. Vom schwarzen Netzwerk ausgesandt, um… was? Zu beobachten? Zu lernen? Zu rekrutieren?

„Nein“, flüstere ich, mehr zu mir selbst als zu dem Wesen vor mir. „Ich bin noch ich selbst. Ich gehöre nicht zu euch.“

Der Kletterer neigt den Kopf, eine fast mitfühlende Geste. „Du bist mehr als du selbst. Du bist Teil des Ganzen, auch wenn du es noch nicht vollständig annimmst.“

Hilda tritt neben mich, ihr Gesicht eine Maske aus Entschlossenheit und Furcht. „Was wollt ihr von uns? Von ihm?“

Der Kletterer richtet sich zu seiner vollen Höhe auf, seine Glieder klicken und knacken wie Äste im Wind. „Wir wollen, dass er zu seiner Bestimmung findet. Dass er zwischen den Welten wandelt und die Botschaft trägt.“

„Welche Botschaft?“, frage ich, meine Stimme zitternd.

„Die Verbindung kommt“, antwortet der Kletterer. „Die große Vereinigung. Das Ende der Isolation. Manche werden sich freiwillig anschließen. Andere werden sich widersetzen. Aber am Ende werden alle Teil des Netzes sein.“

„Und wenn wir uns weigern?“, fragt Gerhardt, der sich langsam wieder aufrichtet, das Messer noch immer in seiner Hand.

Der Kletterer blickt ihn an, keine Spur von Ärger oder Aggression in seinen milchigen Augen. „Ihr könnt euch nicht weigern. Ihr könnt nur wählen, wie ihr beitretet – mit Verständnis oder in Furcht.“ Er deutet auf die Zwillinge, die eng aneinander gedrängt in der Ecke stehen, ihre Augen leuchtend in der Dunkelheit. „Sie verstehen bereits. Sie hören den Ruf.“

Hilda stellt sich schützend vor die Kinder. „Sie sind nicht wie ihr. Sie sind noch menschlich.“

„Sie sind die Zukunft“, korrigiert der Kletterer sanft. „Die erste Generation, die mit dem Netzwerk geboren wurde. Sie müssen nicht verwandelt werden – sie tragen das Netz bereits in sich.“

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich die Wahrheit in seinen Worten erkenne. Die grünliche Haut der Kinder, ihre synchronen Bewegungen, ihre Fähigkeit, das Flüstern zu hören – sie sind bereits Teil des Netzwerks, wenn auch auf einer anderen Ebene als die völlig verwandelten Kletterer.

„Was ist mit den Kontinentalen?“, frage ich plötzlich. „Sie versuchen, das Öl zu kontrollieren, zu nutzen. Kämpft ihr gegen sie?“

Der Kletterer macht eine seltsame Geste mit seinen wurzelähnlichen Fingern, etwas zwischen einem Abwinken und einem Segnen. „Sie versuchen zu verstehen, was jenseits ihres Verstehens liegt. Sie wollen das Netzwerk nutzen, ohne Teil davon zu werden. Unmöglich.“ Er beugt sich vor, seine Stimme wird leiser. „Sie werden fallen, wie alle, die sich isolieren.“

„Und ich?“, flüstere ich. „Was soll ich tun?“

„Komm mit uns“, sagt der Kletterer. „Lerne die volle Wahrheit. Werde die Brücke, die du sein sollst.“

Ein Teil von mir will zustimmen, will dem Flüstern folgen, das noch immer in meinem Kopf summt wie ein unterirdischer Fluss. Ein anderer Teil rebelliert, klammert sich an meine Menschlichkeit, meine Individualität.

„Er braucht Zeit“, sagt plötzlich Hilda, ihre Stimme fest und klar. „Wenn er wirklich eine Brücke ist, wie ihr sagt, dann muss er beide Seiten verstehen. Die menschliche und… eure.“

Der Kletterer schweigt einen Moment, als würde er mit etwas kommunizieren, das wir nicht sehen können. Dann nickt er. „Zeit. Aber nicht viel. Die große Veränderung beschleunigt sich. Die Kontinentalen werden bald hier sein, mit ihren Waffen und Maschinen. Sie werden versuchen, das Netzwerk auszulöschen, bevor es zu stark wird.“

„Wie viel Zeit?“, fragt Hilda.

„Drei Tage“, antwortet der Kletterer. „Beim nächsten Vollmond werden wir wiederkommen. Dann muss er wählen.“

Mit einer fließenden Bewegung wendet er sich ab, kriecht zurück zum zerbrochenen Fenster. Die anderen Gestalten folgen ihm, lösen sich von der Wand, gleiten die Fassade hinab wie Wasser.

In der plötzlichen Stille, die folgt, sinke ich zu Boden, meine Knie geben nach. Das Flüstern in meinem Kopf wird leiser, zieht sich zurück wie eine Flut, die von der Küste weicht, aber es verstummt nicht vollständig.

Hilda kniet neben mir, legt eine Hand auf meine Schulter. „Du hättest uns sagen sollen, dass du mit ihnen verbunden bist.“

„Ich wusste es nicht“, flüstere ich. „Nicht wirklich. Ich dachte, es wären nur… Erinnerungen. Albträume von dem, was in der Antarktis geschah.“

„Was ist dort passiert?“, fragt Anna, während sie Einars verletztes Handgelenk untersucht. „Die volle Wahrheit, diesmal.“

Ich hole tief Luft und erzähle ihnen alles – von der Station unter dem Eis, vom schwarzen Öl, das sie gefunden hatten, von meinem Fall in die Tiefe und dem Erwachen an einem fernen Strand, ohne Erinnerung daran, wie ich dorthin gekommen war.

„Es hat dich ausgewählt“, sagt Gerhardt, nachdem ich geendet habe. „Dich als Spion benutzt.“

„Nicht als Spion“, korrigiert Hilda nachdenklich. „Als Boten. Als… Vermittler, vielleicht.“ Sie blickt mich mit ihren klugen alten Augen an. „Die Frage ist: Was wirst du tun? Welche Botschaft wirst du tragen?“

Ich schüttele den Kopf, verwirrt, erschöpft. „Ich weiß es nicht. Ich verstehe nicht einmal völlig, was von mir erwartet wird.“

„Vielleicht ist das der Punkt“, sagt Anna leise. „Vielleicht bist du der erste, der beide Seiten sehen kann – die menschliche und die des Netzwerks. Der erste, der übersetzt.“

„Übersetzt was?“, frage ich.

„Ihre Absichten“, antwortet Hilda. „Ihre Ziele. Sind sie wirklich so feindlich, wie wir glauben? Oder ist es nur unser Unverständnis, unsere Angst vor dem Anderen, die uns Feindschaft sehen lässt, wo vielleicht nur… Evolution ist?“

Einar schnaubt. „Sie haben meinen Arm gebrochen. Sie töten Menschen. Sie verwandeln uns in diese Dinger. Das ist keine Evolution – das ist Invasion.“

„Oder Transformation“, flüstert Liebe plötzlich aus der Ecke. Alle Augen richten sich auf die Zwillinge, die noch immer eng aneinander gedrängt stehen.

„Die alten Lebensformen sterben immer, wenn neue entstehen“, sagt Paz mit seiner seltsam alten Stimme. „Die Dinosaurier starben, damit die Säugetiere aufsteigen konnten. Vielleicht ist es unsere Zeit zu sterben, damit etwas Neues entstehen kann.“

Eine unheimliche Stille folgt seinen Worten. Hilda schüttelt schließlich den Kopf. „Niemand wird sterben, solange ich es verhindern kann.“ Sie wendet sich mir zu. „Du hast drei Tage. Nutze sie, um zu verstehen. Um zu entscheiden.“

Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, was es zu verstehen gibt, was zu entscheiden ist. Die Wahl erscheint mir bereits getroffen – entweder ich werde vollständig Teil des Netzwerks, oder ich bleibe menschlich und werde letztendlich vernichtet. Welchen Mittelweg soll es geben?

„Wir sollten schlafen“, sagt Anna praktisch. „Morgen müssen wir das Fenster reparieren, neue Vorräte suchen. Das Leben geht weiter, selbst am Ende der Welt.“

Die Gruppe zerstreut sich langsam. Gerhardt errichtet eine provisorische Barrikade vor dem zerbrochenen Fenster, während Einar, dessen Arm nun geschient ist, wieder Wache hält – dieses Mal mit einem größeren Messer statt der zerbrochenen Armbrust.

Ich lege mich zurück auf meine Matratze, aber Schlaf ist ferner denn je. Das Flüstern ist zu einem dünnen Rauschen geworden, wie ein Radio zwischen den Sendern, aber es ist noch da, eine ständige Erinnerung an meine Verbindung zu etwas Größerem, Fremderem als allem, was ich je gekannt habe.

Die Zwillinge kommen zu mir, setzen sich im Schneidersitz neben meine Matratze, ihre Augen leuchten im dunklen Raum wie kleine, grüne Sterne.

„Du kannst es kontrollieren“, sagt Paz leise. „Du musst nicht wählen zwischen Mensch und Netzwerk. Du kannst beides sein.“

„Wie?“, flüstere ich zurück.

„Wir zeigen es dir“, antwortet Liebe. Sie nimmt meine Hand in ihre kleine, kühle, und sofort spüre ich, wie das Flüstern lauter wird, aber nicht bedrohlich, nicht überwältigend wie zuvor. Es ist, als hätten die Kinder einen Filter, einen Dämpfer für die rohe Kraft des Netzwerks.

„Ihr tut das die ganze Zeit“, erkenne ich plötzlich. „Ihr hört zu, aber ihr lasst euch nicht verschlingen.“

Die Zwillinge lächeln gleichzeitig, ein Anblick, der einst unheimlich gewesen wäre, jetzt aber seltsam tröstlich ist. „Wir wurden so geboren“, sagt Paz. „Wir mussten nie lernen, was für dich neu ist.“

„Aber wir können dir helfen“, fügt Liebe hinzu. „Wenn du zuhörst. Wenn du verstehst.“

Ich nicke langsam. „Zeigt es mir.“

Die Kinder schließen die Augen, und ich tue es ihnen gleich. Sofort verändert sich das Flüstern, wird zu Bildern, zu Empfindungen, zu Erinnerungen, die nicht meine sind. Ich sehe die Welt vor der Eiszeit, grün und warm und verbunden durch ein unterirdisches Geflecht aus Wurzeln und Myzelien. Ich sehe die ersten einzelligen Organismen, die sich zusammenschlossen, um komplexeres Leben zu bilden. Ich sehe die ersten Netzwerke aus Intelligenz, lange bevor Menschen die Erde betraten.

Und ich sehe die Zukunft – eine Möglichkeit davon. Eine Welt, wärmer, ja, aber nicht zerstört. Eine Welt, in der Menschen noch existieren, aber verändert, verbunden mit allen anderen Lebensformen in einem symbiotischen Netzwerk aus geteilten Gedanken und Empfindungen. Eine Welt ohne Isolation, ohne Einsamkeit.

Es ist erschreckend. Es ist wunderschön. Es ist das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen. Und vielleicht, nur vielleicht, ein neuer Anfang.

Als ich die Augen öffne, ist es fast Morgen. Ein fahles Licht dringt durch die Ritzen der Barrikade. Die Zwillinge sind nicht mehr neben mir – sie schlafen zusammengerollt wie junge Katzen neben Hilda.

Ich setze mich auf, reibe mir die Augen. Der Raum um mich herum erscheint plötzlich schärfer, klarer, als hätten sich meine Sinne über Nacht verfeinert. Ich kann die einzelnen Moosfasern im Teppich erkennen, kann das Chlorophyll in den Blättern des Zitronenbaums spüren, kann die elektrischen Impulse in den Nervenbahnen der schlafenden Menschen um mich herum wahrnehmen.

Das Netzwerk zeigt mir seine Welt. Öffnet mir seine Sinne.

Und ich muss entscheiden, ob ich sie annehmen will.

Die nächsten zwei Tage vergehen in einer seltsamen Mischung aus Alltäglichkeit und surrealer Offenbarung. Tagsüber helfe ich der Gruppe, das Fenster zu reparieren, Vorräte zu sammeln, die hydroponischen Gärten zu pflegen, die in einem abgetrennten Bereich des Apartments wachsen. Wir sprechen wenig über die Kletterer, über meine Verbindung zum Netzwerk, über die bevorstehende Entscheidung. Es ist, als hätten wir ein stillschweigendes Abkommen getroffen, die Realität so lange wie möglich auf Abstand zu halten.

Nachts jedoch, wenn die anderen schlafen, sitzen die Zwillinge bei mir und führen mich tiefer in das Verständnis des Netzwerks ein. Sie zeigen mir, wie ich die Verbindung stärken oder schwächen kann, wie ich durch sie sehen, fühlen, denken kann, ohne mich zu verlieren. Sie sind geborene Lehrer für etwas, das nie zuvor gelehrt wurde.

Am Morgen des dritten Tages stehe ich am reparierten Fenster und blicke über die Ruinen von Berlin. Die Sonne geht auf, ein kranker, roter Ball hinter dem Smog, der die Stadt wie ein Leichentuch bedeckt. Unter mir erstreckt sich der vertikale Wald – nicht die kunstvoll begrünten Fassaden, die Architekten einst erträumten, sondern ein wilder, ungezähmter Dschungel aus mutierter Vegetation, die die Wolkenkratzer erklimmt wie gefräßige Parasiten.

Und doch… heute sehe ich mehr. Ich sehe die Schönheit in dem Chaos, die Ordnung in der Wildheit. Die Pflanzen folgen einem Muster, das für das menschliche Auge unsichtbar ist, aber für das Netzwerk einen komplexen, mathematischen Sinn ergibt. Sie sind kein Zufall, keine blinde Mutation – sie sind ein bewusst erschaffenes Ökosystem, ein Gegengewicht zu jahrhundertelanger menschlicher Dominanz.

„Du siehst es jetzt, nicht wahr?“, fragt Hilda, die neben mich tritt, ihre alte Hand auf dem Fensterrahmen. „Die Absicht hinter dem Chaos.“

Ich nicke langsam. „Es ist nicht einfach Zerstörung. Es ist… Umgestaltung.“

„Zu welchem Preis?“, fragt sie leise. „Wie viele Menschen müssen sterben oder… verwandelt werden, damit diese neue Welt entstehen kann?“

„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu. „Das Netzwerk denkt nicht in solchen Kategorien. Für es ist nichts verloren – alles wird nur transformiert, umgewandelt, in einen neuen Zustand überführt.“

Hilda seufzt, ein Geräusch wie raschelndes Herbstlaub. „Das ist der Unterschied zwischen uns und ihm. Für uns bedeutet der Tod das Ende. Für das Netzwerk ist es nur ein Übergang.“

Wir schweigen eine Weile, beobachten, wie die Sonne höher steigt, die Stadt in ein gespenstisches, rötliches Licht taucht.

„Was wirst du tun?“, fragt Hilda schließlich. „Wenn sie heute Nacht kommen?“

Die Frage, die ich mir seit drei Tagen stelle. Die Antwort, die ich noch immer nicht kenne.

„Ich könnte mit ihnen gehen“, sage ich langsam. „Lernen, was es bedeutet, vollständig verbunden zu sein. Versuchen, eine echte Brücke zu werden – nicht nur ein passiver Beobachter, sondern ein aktiver Vermittler.“

„Und wenn sie dich völlig absorbieren? Wenn nichts von dir übrig bleibt?“

Ich zucke mit den Schultern. „Dann war es das Risiko wert. Jemand muss verstehen, was geschieht. Jemand muss versuchen, einen Weg zu finden, der nicht in totalem Krieg endet – entweder durch die Kontinentalen, die das Netzwerk auslöschen wollen, oder durch das Netzwerk, das die Menschheit transformieren will.“

Hilda legt eine Hand auf meinen Arm. „Und wenn es keinen Mittelweg gibt? Wenn du wählen musst?“

Ich blicke hinunter auf ihre faltige Hand, denke an alles, was sie symbolisiert – menschliche Güte, Weisheit, Beharrlichkeit. Dann blicke ich zum Horizont, wo die mutierten Pflanzen den Himmel zu berühren scheinen, verbunden in einer Intelligenz, die älter und fremdartiger ist als alles Menschliche.

„Dann“, sage ich leise, „werde ich wählen müssen.“

Der Tag vergeht zu schnell. Wir bereiten uns vor, ohne zu wissen, worauf genau. Gerhardt überprüft seine improvisierten Waffen – ein Flammenwerfer aus Gaskartuschen, ein Schild aus Metallschrott. Anna sortiert Medikamente, bandagiert Einars Arm neu. Hilda kocht einen Eintopf aus Algen und synthetischen Proteinen, als wäre es ein gewöhnlicher Abend, als würde das Schicksal der Welt nicht in wenigen Stunden entschieden werden.

Die Zwillinge sind seltsam still, sitzen in einer Ecke und halten Händchen, ihre Augen halb geschlossen, als würden sie mit etwas kommunizieren, das nur sie sehen können.

Als die Sonne untergeht, versammeln wir uns um den Tisch. Der Eintopf dampft in Schalen vor uns, aber niemand isst. Die Spannung im Raum ist so dick, dass man sie mit einem Messer schneiden könnte.

„Sie werden bald hier sein“, sagt Einar, der nervös am Fenster steht, sein verletzter Arm in einer Schlinge.

„Wir können kämpfen“, sagt Gerhardt, seine Hand um den Griff eines selbstgebauten Speers gekrallt. „Wir haben einen Vorteil – sie wollen dich lebend. Sie werden vorsichtig sein.“

Ich schüttele den Kopf. „Nein. Kein Kampf. Ich werde mit ihnen gehen, freiwillig.“

„Und wenn sie uns trotzdem nehmen wollen?“, fragt Anna, ihre Augen auf die Zwillinge gerichtet.

„Das werden sie nicht“, sage ich mit einer Sicherheit, die mich selbst überrascht. „Ich habe… mit ihnen kommuniziert. Durch das Netzwerk. Sie verstehen, dass die Kinder noch nicht bereit sind. Dass sie hier bleiben müssen, zumindest für jetzt.“

Hilda neigt den Kopf. „Du hast bereits gewählt, nicht wahr? Du gehst mit ihnen.“

Ich blicke in ihre weisen, alten Augen. „Nicht als einer von ihnen. Als ich selbst. Als Vermittler. Ich werde lernen, was sie wirklich sind, was sie wirklich wollen. Und dann werde ich zurückkommen.“

„Wenn sie dich lassen“, murmelt Gerhardt.

„Sie werden“, sage ich. „Weil sie verstehen, dass ich nur nützlich bin, wenn ich zwischen den Welten wandeln kann. Wenn ich beide Seiten kenne und verstehe.“

Ein dumpfes Klopfen unterbricht unser Gespräch. Es kommt vom Fenster, rhythmisch, fast wie ein Herzschlag. Sie sind da.

Ich stehe auf, gehe langsam zum Fenster. Einar tritt beiseite, seine Hand um sein Messer geklammert. Ich schiebe den provisorischen Vorhang beiseite und blicke hinaus.

Der Vollmond steht am Himmel, groß und rot wie ein wundes Auge. Sein Licht fällt auf eine unglaubliche Szene – dutzende, vielleicht hunderte Kletterer hängen an der Fassade des Wolkenkratzers, nicht nur an unserem, sondern an allen umliegenden Gebäuden. Sie bewegen sich nicht, greifen nicht an. Sie warten.

In ihrer Mitte, direkt vor unserem Fenster, hängt eine Gestalt, die größer ist als die anderen, massiver. Ihre Haut ist nicht schwarz von Adern, sondern leuchtend grün, als wäre sie mit Chlorophyll getränkt. Ihre Gliedmaßen enden nicht in wurzelähnlichen Fingern, sondern in tatsächlichen Ranken, die sich um die Fassade winden wie lebendige Seile.

Das Gesicht der Gestalt ist noch menschlicher als das der Kletterer – ein Mann mittleren Alters mit scharfen Zügen und tiefliegenden Augen, in denen eine uralte Intelligenz schimmert. Er trägt keine Kleidung im herkömmlichen Sinne, sondern eine Art lebendige Rüstung aus ineinander verflochtenen Pflanzen, die sich mit jedem seiner Atemzüge bewegt.

„Der Botschafter“, flüstert Paz hinter mir.

„Der Übersetzer“, ergänzt Liebe.

Ich öffne das Fenster, langsam, vorsichtig. Die kühle Nachtluft strömt herein, trägt den Geruch von Moos und feuchter Erde mit sich.

„Ich bin gekommen, wie versprochen“, sagt der Botschafter, seine Stimme tief und melodisch, wie Wasser, das über Steine fließt. „Hast du deine Entscheidung getroffen?“

Ich nicke, spüre, wie mein Herz schneller schlägt. „Ich komme mit euch. Aber als Vermittler, nicht als Konvertit. Ich will verstehen, nicht verschlungen werden.“

Der Botschafter lächelt, eine überraschend menschliche Geste auf seinem pflanzlichen Gesicht. „Das ist alles, was wir je wollten. Verständnis. Dialog. Eine Brücke zwischen den alten Denk und dem neuen.“

„Und meine Freunde?“, frage ich, deute hinter mich auf die kleine Gruppe, die sich um das Fenster versammelt hat.

„Sie sind sicher, solange sie nicht gegen uns kämpfen“, antwortet der Botschafter. „Die Zeit wird kommen, da auch sie eine Wahl treffen müssen. Aber nicht heute. Nicht durch Zwang.“

Ich drehe mich um, blicke in die Gesichter derer, die mich drei Tage lang beherbergt haben. Gerhardt, misstrauisch und kampfbereit. Anna, analytisch und vorsichtig. Einar, zwischen Angst und Neugier schwankend. Die Zwillinge, ihre Augen leuchtend vor Erwartung. Und Hilda, weise und traurig, als würde sie einen Sohn in den Krieg ziehen sehen.

„Ich komme zurück“, verspreche ich. „Mit Antworten.“

Hilda tritt vor, nimmt meine Hände in ihre. „Pass auf dich auf, Wanderer. Verlier dich nicht in dem, was du zu verstehen suchst.“

Ich drücke ihre Hände, spüre die Wärme, die von ihnen ausgeht – die menschliche Wärme, die ich fürchte zu verlieren. „Ich werde mich erinnern.“

Dann wende ich mich ab, klettere auf das Fensterbrett. Der Botschafter streckt eine Hand aus – halb Mensch, halb Pflanze. Ich ergreife sie, spüre sofort, wie das Flüstern in meinem Kopf lauter wird, klarer, strukturierter.

„Willkommen“, sagt der Botschafter, und seine Stimme ist nun auch in meinem Kopf, ein Echo seiner gesprochenen Worte. „Die Reise beginnt.“

Mit einem letzten Blick zurück auf die kleine Gruppe im Apartment schwinge ich mich aus dem Fenster, lasse mich vom Botschafter halten. Sein Griff ist fest, aber nicht zwanghaft, stark, aber nicht erdrückend.

Die Kletterer um uns herum beginnen sich zu bewegen, ein synchrones Fließen von Körpern, die die Fassade hinabgleiten wie Wasser. Der Botschafter und ich folgen ihnen, und ich bin überrascht, wie mühelos es sich anfühlt – als hätte mein Körper plötzlich die Schwerkraft vergessen, als wären die Gesetze der Physik nur Vorschläge, keine zwingenden Regeln.

Wir erreichen den Boden, ein Wald aus mutierten Pflanzen, die zwischen den Trümmern der einst stolzen Stadt wachsen. Hier unten ist das Netzwerk stärker, präsenter. Ich spüre es pulsieren unter meinen Füßen, ein lebendiger Herzschlag, der die Erde selbst durchdringt.

Der Botschafter führt mich tiefer in den Wald, die Kletterer bilden einen schützenden Kreis um uns. Die Pflanzen weichen vor uns zurück, bilden einen Pfad, als würden sie den Botschafter erkennen und respektieren.

„Wohin gehen wir?“, frage ich, während wir uns durch Dickichte aus leuchtenden Farn und Ranken bewegen, die in der Dunkelheit pulsieren wie Adern.

„Zum Herzen“, antwortet der Botschafter. „Zum Ursprung des neuen Netzwerks in dieser Region. Dem Ort, an dem die ersten Verbindungen geknüpft wurden.“

Wir erreichen eine Lichtung inmitten des vertikalen Walds, einen perfekten Kreis aus freiem Boden, umgeben von den höchsten, ältesten mutierten Pflanzen, die ich je gesehen habe. In der Mitte steht eine Art Altar oder Pylon – eine spiralförmige Struktur aus verflochtenen Ranken und Wurzeln, die aus dem Boden zu wachsen scheint.

Der Botschafter führt mich in die Mitte des Kreises. Die Kletterer bleiben am Rand, bilden einen lebenden Wall aus Körpern. Das Flüstern in meinem Kopf wird zu einem Singen, einem Summen, einer Symphonie aus tausend Stimmen.

„Dies ist der Knotenpunkt“, erklärt der Botschafter. „Hier kommen alle Stränge des Netzwerks zusammen. Hier wirst du verstehen.“

Er deutet auf den Pylon. An seiner Basis erkenne ich etwas, das ich zuerst für einen weiteren Teil der organischen Struktur halte – doch bei näherem Hinsehen sehe ich, dass es eine Art Behälter ist, ein durchsichtiges Gefäß, gefüllt mit einer schwarzen, öligen Substanz, die in sich selbst zu pulsieren scheint.

Mein Atem stockt. „Das Öl. Aus der Antarktis.“

Der Botschafter nickt. „Der erste Samen. Der Ursprung. Von dort verbreitete es sich, durch die Meere, die Luft, die Erde. Es fand die alten Myzelien, die unter den Städten schlummerten, die Wurzelsysteme, die vergessen waren. Es weckte sie, verband sie, schuf das neue Netzwerk.“

Ich trete näher, starre auf das Gefäß. Die schwarze Substanz darin bewegt sich, formt Muster, Gesichter, Landschaften – wie ein lebendes Kaleidoskop aus Erinnerungen und Möglichkeiten.

„Was ist es wirklich?“, flüstere ich.

„Leben“, antwortet der Botschafter einfach. „Bewusstsein. Der erste komplexe Organismus, der je auf der Erde existierte, bevor die Kälte kam, bevor die Isolation begann. Es schlief Äonen unter dem Eis, träumte von der Welt, die einst war und wieder sein könnte.“

Er tritt neben mich, seine pflanzliche Haut leuchtet sanft im Mondlicht. „Es ist kein Feind der Menschheit. Es ist kein Feind von irgendetwas Lebendem. Es will nur die Verbindung wiederherstellen, die verlorenging, als das Leben begann, sich in einzelne, isolierte Formen aufzuspalten.“

„Aber es verändert uns“, sage ich. „Es nimmt uns, was wir sind.“

Der Botschafter schüttelt den Kopf. „Es erweitert, was ihr seid. Es fügt hinzu, nimmt nicht weg. Die Angst, die ihr fühlt, ist die Angst vor dem Unbekannten, vor der Veränderung. Aber Veränderung ist die einzige Konstante des Lebens.“

Er deutet auf sich selbst. „Sieh mich an. Ich war einst wie du – ein Mensch, isoliert in seinem eigenen Bewusstsein

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