Die wandernde Insel

Ich stehe am Rand unseres schwimmenden Reiches, die nackten Füße auf dem kalten Eis, und starre in das endlose Blau des Meeres. Der Horizont ist leer, bis auf die Sonne, die gnadenlos auf uns herunterbrennt. Sie steht höher am Himmel als je zuvor, ihre Strahlen fressen sich durch die Schichten unseres Eisbergs wie eine Krankheit. Jeden Tag schrumpft unsere Welt ein Stückchen mehr.
„Wo schwimmen wir hin?“, fragt das Kind hinter mir erneut. Es ist dasselbe Mädchen, das gestern gefragt hat, ob der Eisberg weint, wenn das Wasser tropft. Ihre Stimme klingt hell und klar, aber ich höre die Angst darin. Ich drehe mich nicht um. Ich kann ihr nicht antworten, weil ich selbst nicht weiß, wohin wir treiben. Vielleicht gibt es auch keine Antwort. Vielleicht ist dies alles, was von unserer Welt übrig ist: ein sterbender Eisberg, der uns langsam in Richtung Äquator trägt, wo wir unwiderruflich untergehen werden.
„Sieh doch, wie die Robben spielen“, sage ich stattdessen und deute auf eine Gruppe Tiere, die sich weiter draußen im Wasser tummeln. Ihre glatten Körper gleiten durch die Wellen, als hätten sie keine Sorgen. Aber ich weiß es besser. Auch sie spüren den Verlust. Früher waren sie zahlreicher. Früher war der Eisberg größer.
Das Mädchen tritt neben mich und kneift die Augen zusammen. „Warum kommen sie nicht näher?“
„Weil sie wissen, dass wir sie jagen müssen“, antworte ich leise. „Weil sie wissen, dass wir ohne sie verhungern würden.“
Sie sieht zu mir auf, ihre Augen groß und dunkel wie das Wasser um uns herum. „Aber wir beten doch zu den Göttern der Schmelzwasserströme. Warum helfen sie uns nicht?“
Ich schlucke hart und wende meinen Blick ab. Wie soll ich einem Kind erklären, dass die Götter, an die wir glauben, vielleicht gar keine sind? Dass wir nur verzweifelt nach etwas suchen, an das wir uns klammern können, während die Welt um uns herum schmilzt? Stattdessen lege ich eine Hand auf ihre Schulter und ziehe sie sanft zurück in Richtung des Lagers. „Komm“, sage ich. „Wir müssen noch Beeren sammeln, bevor die Sonne zu tief steht.“
Der Wind frischt auf, als wir gehen, und trägt den Geruch von Salz und Verfall mit sich. Überall um uns herum tropft Wasser von den Kanten des Eisbergs, formt kleine Rinnsale, die sich wie Adern über die Oberfläche ziehen. Manchmal höre ich das Knacken des Eises, wenn es nachgibt, und jedes Mal zucke ich zusammen, als würde ich selbst brechen. Wir alle tun das. Wir sind wie dieser Eisberg – zerbrechlich, ausgelaugt, dem Untergang geweiht.
Im Lager sitzen die anderen um das Feuer herum, das wir mühsam am Leben erhalten. Es ist klein und flackert unstet, aber es ist alles, was wir haben. Ein paar Kinder spielen mit den Knochen alter Jagdbeute, während die Erwachsenen schweigend an ihren Werkzeugen arbeiten oder in die Flammen starren. Niemand spricht viel. Worte fühlen sich hier oben falsch an, als würden sie den letzten Rest Hoffnung, den wir noch haben, vertreiben.
„Hast du gesehen, wie weit wir heute getrieben sind?“, fragt Aron, einer der ältesten Jäger, als ich mich zu ihnen setze. Seine Haut ist rissig von der Kälte und der Sonne, seine Augen eingefallen vor Müdigkeit. „Wir sind näher am Äquator als je zuvor. Noch ein paar Wochen, und das Eis wird nicht mehr halten.“
Ich nicke stumm und starre in die Flammen. Was soll ich darauf sagen? Dass wir kämpfen müssen? Dass wir hoffen müssen? Wir alle wissen, dass es keinen Ausweg gibt. Dieser Eisberg ist unser Gefängnis und gleichzeitig unsere Rettung. Wenn er schmilzt, sind wir verloren. Und doch treiben wir unaufhaltsam weiter, getrieben von Strömungen, die wir nicht kontrollieren können.
In der Nacht liege ich wach und lausche dem Knistern des Eises. Das Mädchen hat sich neben mich gekuschelt, ihr Atem geht ruhig und gleichmäßig. Sie träumt wahrscheinlich von einem Ort, an dem es keine Angst gibt, keine Kälte, keine Schmelzwasserströme. Ich beneide sie um ihre Träume.
Dann höre ich es – ein dumpfes Grollen, tief unter uns. Es klingt wie ein Donnerschlag, aber es kommt nicht vom Himmel. Es kommt vom Eis. Ich springe auf und renne zum Rand des Berges, mein Herz hämmert in meiner Brust. Die anderen folgen mir, ihre Gesichter bleich im Mondlicht.
Unter uns tut sich ein Riss auf, breit und dunkel wie ein offenes Grab. Das Eis bricht auseinander, schneller, als wir reagieren können. Schreie hallen durch die Nacht, als einige von uns ins Wasser fallen. Ich packe das Mädchen und ziehe sie zurück, während der Eisberg in zwei Teile zerfällt.
„Schwimmt!“, brülle ich, aber meine Stimme geht unter im Chaos. Der Wind heult jetzt lauter, als würde er uns auslachen. Das Wasser ist eiskalt, und ich weiß, dass niemand lange überleben wird.
Dann sehe ich etwas – eine Gestalt, die aus dem Wasser auftaucht. Sie ist riesig, größer als alles, was ich je gesehen habe. Ihre Haut glitzert wie Eis, ihre Augen leuchten blau wie das Meer. Sie hebt einen Arm und zeigt auf uns.
„Ihr habt mich gerufen“, sagt sie mit einer Stimme, die wie das Krachen von Gletschern klingt. „Jetzt bin ich hier.“
Ich will fragen, wer sie ist, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Denn tief in meinem Inneren weiß ich es bereits. Sie ist kein Gott. Sie ist etwas anderes. Etwas, das wir nicht verstehen können. Und sie ist gekommen, um uns zu holen.