As Time Goes By

Die unbegrenzte Bibliothek

Ich träume immer wieder von dieser Bibliothek. Sie sitzt zwischen zwei anderen Gebäuden eingequetscht, wie ein zu dicker Mensch in einem Kinositz. Von außen deutet nichts darauf hin, dass sie besonders ist. Ein brauner Backsteinkasten, schmale Fenster, eine grüne Tür aus den Siebzigern mit abblätternder Farbe. Das Schild „Bibliothek“ ist so schlicht, dass man es leicht übersieht.Heute ist es wieder so weit. Ich schiebe die grüne Tür auf, und da ist dieses vertraute Knarzen. Dieses Geräusch, das mir direkt in die Magengrube fährt, wie der erste Schluck eines kalten Biers an einem heißen Tag. Es bedeutet: Du bist zurück.Drinnen riecht es nach altem Papier, Staub und diesem undefinierbaren Etwas, das nur alte Bücher haben. Kein Mensch in Sicht, nicht mal die Bibliothekarin mit den drei Haarfarben, die sonst immer an der Theke sitzt und aussieht, als könnte sie nicht entscheiden, ob sie dich anschnauzen oder ignorieren soll.Die Regale stehen so eng, dass man kaum dazwischen passt. Man muss sich seitwärts hindurchschieben, der Bauch berührt fast die Buchrücken auf der einen Seite, der Arsch die auf der anderen. Wenn man Pech hat, bleibt man an einem herausstehenden Buch hängen. Ist mir früher ständig passiert, als ich noch diese dämliche Umhängetasche hatte.Ich weiß genau, wohin ich will. Dritte Reihe links, bis zum Ende, dann rechts, zwei Regale weiter. Dort gibt es einen kleinen Tisch mit einer Leselampe, die grelles gelbes Licht wirft. Der Stuhl dort quietscht, wenn man sich bewegt, und hat eine Sitzfläche so hart wie Steinfußboden. Trotzdem ist es mein Platz.Heute sind die Regale anders angeordnet. Ich finde den Weg nicht. Nach zehn Minuten stehe ich vor einem Regal, das neu aussieht. Dunkles Holz, glänzend, riecht nach Politur. Die Bücher darin haben alle den gleichen roten Einband, als wären sie Teil einer Serie. Ich ziehe eines heraus. Der Titel sagt mir nichts.“El Mar del Tiempo“, steht da. „Das Meer der Zeit.“ Spanisch. Seltsam, ich dachte, ich hätte die spanische Abteilung schon vor Jahren durchstöbert, damals, als ich diese Sprachphase hatte. Nach drei Monaten Duolingo dachte ich, ich könnte Cervantes im Original lesen. Hat nicht geklappt.Ich blättere durch das Buch. Die Seiten sind leer. Komplett leer. Ich ziehe ein zweites Buch heraus. Auch leer. Ein drittes, dasselbe. Als ich ein viertes Buch herausziehe, ist etwas anders. Die erste Seite trägt einen handgeschriebenen Eintrag:Weißt du noch, wie wir in dieser kleinen Tapas-Bar in Barcelona saßen? Du wolltest unbedingt diesen Tintenfisch probieren, obwohl ich dir gesagt habe, dass du ihn hassen würdest. Dein Gesicht, als du den ersten Bissen genommen hast – unbezahlbar.Ich starre auf die Worte. Sie sind in meiner Handschrift geschrieben, aber ich kann mich nicht erinnern, das geschrieben zu haben. Noch seltsamer: Ich war nie in Barcelona. Zumindest glaube ich das. Ich blättere um. Die nächste Seite zeigt ein Foto. Ein Foto von mir, wie ich an einem Tisch sitze, vor mir ein Teller mit etwas Schwarzem darauf. Mein Gesicht ist zu einer Grimasse verzogen.Was zum Teufel?Ich klappe das Buch zu und stelle es zurück. Mir ist plötzlich heiß. Ich lockere den Kragen meines T-Shirts, obwohl er eigentlich schon locker ist. Es fühlt sich an, als würde die Luft dicker werden, schwerer zu atmen.Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken. Ein leises Klingeln, wie eine Fahrradklingel. Es kommt von weiter hinten in der Bibliothek. Ich folge dem Geräusch, quetsche mich durch immer engere Regalreihen. Die Bücher scheinen jetzt nach mir zu greifen, ihre Ecken verhaken sich in meinen Klamotten, als wollten sie mich festhalten.Das Klingeln wird lauter. Ich biege um eine Ecke und stehe plötzlich in einem offenen Raum. Die Decke ist hoch, viel höher als das Gebäude von außen vermuten lässt. Tageslicht fällt durch ein Glasdach herein. In der Mitte des Raumes steht ein altes Fahrrad, ein rostiger blauer Drahtesel mit einem geflochtenen Korb vorne dran. Im Korb liegt ein Buch.Ich nähere mich vorsichtig. Das Fahrrad sieht aus, als könnte es jeden Moment in seine Einzelteile zerfallen. Der Sattel ist abgewetzt, das Leder rissig, die Kette orangebraun vor Rost. Trotzdem ist es mir vertraut. Hatte ich nicht als Kind so ein Fahrrad?Das Buch im Korb ist grün, nicht rot wie die anderen. Ich nehme es heraus. Es ist schwerer, als es aussieht. Der Titel ist in goldenen Lettern geprägt: „Erinnerungen, die niemals waren“.Ich öffne es. Anders als die roten Bücher ist dieses vollgeschrieben. Die Schrift ist winzig, die Seiten vollgestopft mit Worten.Heute bin ich wieder durch die Straßen von Valencia gelaufen. Die Häuser in der Altstadt pressen sich aneinander wie verliebte Teenager. Die Farben – gelb, Ocker, manchmal ein sattes Rot – leuchten in der Sonne, als wären sie erst gestern gestrichen worden. In einer Seitengasse habe ich diesen Laden gefunden. Ein schmales Geschäft, kaum breiter als eine Tür, vollgestopft mit Kristallgläsern. Der alte Mann darin hat mir erzählt, dass jedes Glas eine Geschichte enthält. Wenn man genau hinsieht, kann man die Geschichten in den Reflexionen des Lichts sehen. Ich habe ein kleines blaues Glas gekauft, mit einer winzigen Luftblase im Fuß. Der Alte meinte, es enthielte die Geschichte eines Seemanns, der nicht schwimmen konnte und trotzdem sein Leben lang zur See fuhr.Ich blättere weiter.Die Katze lag zusammengerollt auf dem Balkon unseres Ferienhauses, direkt in der Sonne. Ihr oranges Fell leuchtete wie Feuer. Als ich mich näherte, öffnete sie ein Auge, musterte mich, entschied dann, dass ich keine Beachtung verdiente, und schloss das Auge wieder. Diese herrliche Gleichgültigkeit! Ich habe ein Foto gemacht, aber es ist nichts geworden. Manche Dinge lassen sich einfach nicht einfangen.Moment mal. Ich hatte nie eine orangefarbene Katze. Und ich war nie in Valencia. Oder doch? Die Unsicherheit lässt mich schwindeln.Ich setze mich auf den Fußboden, das Buch schwer auf meinen Knien. Die Verwirrung in meinem Kopf wird stärker. Vielleicht waren all diese Dinge in einem früheren Leben? Oder habe ich sie mir nur ausgedacht? Die Grenze zwischen Erinnerung und Vorstellung verschwimmt, wird durchlässig wie ein billiger Plastikbecher.Ich blättere weiter, finde eine andere Passage.Der Markt in Marrakesch war ein Angriff auf alle Sinne. Die Gerüche von Gewürzen – Zimt, Kreuzkümmel, Safran – vermischten sich mit dem Duft von gegrilltem Fleisch und dem Gestank von Abwasser und Tiermist. Die Händler schrien ihre Waren aus, eine Kakophonie aus Arabisch, Französisch und gebrochenem Englisch. Dazwischen Motorroller, die sich hupend ihren Weg bahnten, blökende Ziegen, lachende Kinder. Ich habe drei Stunden gebraucht, um den Ausgang zu finden, und als ich es endlich geschafft hatte, habe ich festgestellt, dass mein Geldbeutel weg war. Seltsamerweise hat es mich nicht gestört. Es fühlte sich an wie ein angemessener Preis für das Erlebnis.Marokko jetzt auch? Wann soll ich denn bitte in Marokko gewesen sein? Ich klappe das Buch zu, zu verwirrt, um weiterzulesen.Als ich aufblicke, bemerke ich, dass sich der Raum verändert hat. Die Wände sind näher gerückt, der Platz ist kleiner geworden. Das Glasdach ist verschwunden, stattdessen hängt eine nackte Glühbirne von der Decke. Sie flackert unregelmäßig. Das Fahrrad ist ebenfalls weg.Ein neues Regal steht jetzt direkt vor mir. Die Bücher darin sind weder rot noch grün, sondern haben alle unterschiedlichen Farben. Ein buntes Durcheinander, wie ein überfüllter Kleiderschrank. Manche Bücher sind dick, andere dünn. Einige sehen brandneu aus, andere abgegriffen und zerfleddert.Ohne nachzudenken, greife ich nach einem blauen Buch. Es ist so dünn, dass es kaum mehr als ein Heft ist. Der Umschlag fühlt sich rau an, wie Sandpapier. Kein Titel, kein Autor.Als ich es öffne, fällt ein Zettel heraus. Ein schmaler Streifen Papier, wie ein Kassenbon. Darauf steht in verblasster Schrift: „Bibliotheksausweis #7392, gültig bis: unendlich“.Auf der ersten Seite des Buches steht nur ein Satz:Alle Geschichten, die du jemals erlebt hast oder erleben wirst, warten hier auf dich.Ich blättere um. Die nächste Seite zeigt eine Landkarte. Sie sieht aus wie eine dieser alten Seekarten, mit Meeresungeheuern in den unbekannten Gebieten und windblasenden Engelsgesichtern an den Rändern. Die Karte zeigt ein Land, das ich nicht kenne, mit Städten, deren Namen ich noch nie gehört habe.Als ich mir die Karte genauer ansehe, beginnen sich die Namen zu verändern. „Neverwas“ wird zu „Dorthin wolltest du immer“. „Lost Harbor“ wird zu „Hier warst du glücklich“. „Mountains of Regret“ wird zu „Was hättest du anders machen können“.Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, ohne genau zu wissen, warum. Diese Karte berührt etwas in mir, etwas Tiefes und Vergrabenes.Die Glühbirne über mir flackert wieder, geht dann ganz aus. Ich sitze im Dunkeln, das Buch in der Hand, die Karte kaum noch zu erkennen.Als das Licht zurückkommt, ist es anders. Weicher, wärmer. Sonnenlicht. Ich sitze nicht mehr auf dem Bibliotheksboden, sondern auf einer Steinbank. Um mich herum ist ein Garten, eingefasst von hohen Mauern. Die Luft riecht nach Jasmin und Orangenblüten. In der Ferne höre ich das Meer rauschen.Das blaue Buch liegt noch immer auf meinem Schoß, aber es hat sich verändert. Es ist jetzt dicker, der Einband aus weichem Leder. Als ich es öffne, sehe ich, dass alle Seiten vollgeschrieben sind. Es ist das gleiche winzige Gekritzel wie in dem grünen Buch, aber noch mehr davon, Seite um Seite.Ich beginne zu lesen, und mit jedem Wort kommen die Erinnerungen zurück. An Orte, an denen ich nie war. An Menschen, die ich nie getroffen habe. An ein Leben, das ich nie gelebt habe – oder vielleicht doch?Die Albaicín-Viertel von Granada im Morgenlicht zu sehen, ist wie einen Traum beim Aufwachen festzuhalten – unmöglich und trotzdem versucht man es immer wieder. Die weißen Häuser schmiegen sich an den Hügel, als wollten sie zurück in die Erde, aus der sie gebaut wurden. Von der Terrasse unseres winzigen Zimmers konnte ich die Alhambra sehen, dieses unmögliche Gebäude, das aussieht, als hätte jemand einen orientalischen Palast auf einen spanischen Hügel gezaubert. Das Licht hier hat eine eigene Qualität, eine Weichheit, die alles in Gold taucht. Selbst der Kaffee schmeckte anders, intensiver irgendwie, als würde auch er vom Licht verändert.Das ist meine Sprache, meine Art zu denken. Aber ich war nie in Granada. Oder? Die Unsicherheit wächst, wird zu Panik.Ich schaue von dem Buch auf. Der Garten ist verschwunden. Ich sitze wieder in der Bibliothek, zwischen den engen Regalreihen. Es ist still, kein Klingeln mehr, kein Flackern.Von irgendwoher weht ein kühler Luftzug. Ich fröstele, obwohl ich einen dicken Pullover trage. Moment, einen Pullover? Ich war doch gerade noch im T-Shirt.Ich schaue an mir herunter. Tatsächlich trage ich jetzt einen dunkelgrünen Wollpullover, den ich nicht kenne. Er riecht nach Salzwasser und Sonnencreme.In der Tasche des Pullovers finde ich etwas. Ein kleines blaues Glas mit einer winzigen Luftblase im Fuß. Genau wie in der Beschreibung. Ich halte es gegen das Licht, versuche, die Geschichte des schwimmunfähigen Seemanns darin zu sehen. Natürlich sehe ich nichts. Nur Glas und Licht.Ich stelle das Glas auf dem Boden ab und schlage das Buch wieder auf. Die Seiten sind leer. Alle Geschichten sind verschwunden.Am Ende des Ganges erscheint ein Lichtschein. Eine Taschenlampe. Jemand kommt.“Wir schließen“, sagt eine Stimme. Die Bibliothekarin mit den drei Haarfarben. Sie leuchtet mir ins Gesicht. „Sie müssen jetzt gehen.““Die Bücher“, sage ich, „die roten Bücher, und dann das grüne, und dieses blaue hier…““Wir haben hier keine farbigen Bücher“, sagt sie unfreundlich. „Alle unsere Bücher haben neutrale Einbände. Bibliotheksvorschrift. Und jetzt raus hier, ich will nach Hause.“Ich stehe auf, das leere blaue Buch noch immer in der Hand. Die Bibliothekarin macht eine ungeduldige Handbewegung. Ich lege das Buch auf den Boden, neben das kleine blaue Glas.Sie leuchtet darauf. „Was ist das?““Ein Buch und ein Glas.““Ich sehe nichts“, sagt sie. Ihr Lichtkegel trifft auf nackten Boden. Kein Buch, kein Glas.Ich kneife die Augen zusammen, schaue genauer hin. Sie hat recht. Da ist nichts.“Kommen Sie jetzt“, sagt sie und dreht sich um.Ich folge ihr durch das Labyrinth der Bücherregale. Als wir die grüne Tür erreichen, drückt sie mir etwas in die Hand. „Sie haben das verloren“, sagt sie.Es ist ein Bibliotheksausweis. Nummer 7392. Gültig bis: unendlich.Ich wache auf mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Etwas Wichtiges. Meine Hand tastet automatisch nach dem Bibliotheksausweis, aber natürlich ist da nichts. Nur das zerknitterte Laken.Der Traum verblasst bereits, löst sich auf wie Nebel in der Morgensonne. Ich versuche, mich an Details zu erinnern, an die Bücher, die Farben, die Geschichte mit der Katze und dem Ferienhaus. Aber je mehr ich versuche, desto weniger kann ich greifen.

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