Die Stadt der Totengräber

Ich stehe am Rand der Grube, die wir heute Morgen ausgehoben haben. Der Boden ist trocken und rissig, als würde er selbst nach Wasser schreien, das es nirgendwo mehr gibt. In der Grube liegen die Überreste von drei Menschen – ihre Knochen sind sorgfältig sortiert, die Kleider in Bündel gerollt. Wir werden sie später verwenden. Nichts darf verschwendet werden. Nicht hier. Nicht jetzt.
Der Wind weht über den Friedhof, trägt den Geruch von Staub und Verfall mit sich. Es ist ein Geruch, an den ich mich längst gewöhnt habe, aber heute lässt er mich erschaudern. Vielleicht liegt es an dem Mann, der dort drüben steht, neben der Bahre, auf der seine Frau liegt. Er hat sie seit Tagen nicht aus den Augen gelassen, redet mit ihr, als würde sie ihm gleich antworten. „Sie atmet noch“, sagt er immer wieder, wenn jemand versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber das sagen sie alle.
„Lass uns helfen“, sage ich leise, als ich näher komme. Meine Stimme klingt fremd in meinen eigenen Ohren, gedämpft von der Maske, die ich trage. Die gleiche Maske, die jeder hier trägt, um die giftige Luft zu filtern. Sie verändert unsere Gesichter, macht uns zu Schatten unserer selbst. Der Mann sieht mich nicht an. Sein Blick ist fest auf die Frau gerichtet, deren Haut grau und pergamentartig ist. Ihre Lippen sind rissig, ihre Augen geschlossen. Sie sieht friedlich aus, wie jemand, der endlich Ruhe gefunden hat.
„Sie ist nicht tot“, murmelt er. „Hörst du mich? Sie ist nicht tot.“
Ich nicke langsam, obwohl ich weiß, dass er lügt. Oder sich selbst belügt. Seit Jahren leben wir so: Wir nehmen, was die Toten hinterlassen, und machen daraus etwas Neues. Ihre Knochen werden zu Dünger für die spärlichen Pflanzen, die wir irgendwie am Leben erhalten. Ihre Kleider werden gesäubert und zu Zelten genäht, die uns vor der gnadenlosen Sonne schützen. Selbst ihre Asche wird gesammelt, um das Wasser zu reinigen, das wir aus der Tiefe pumpen. Alles hat einen Zweck. Alles muss weitergehen.
Aber dieser Mann… er will sie nicht gehen lassen.
„Ich weiß, dass du sie liebst“, sage ich vorsichtig. „Aber sie braucht Frieden. Und wir… wir brauchen, was sie uns geben kann.“
Er dreht sich zu mir um, und ich sehe die Wut in seinen Augen. Sie brennt heiß und hell, eine Flamme inmitten all der kalten Leere. „Was sie uns geben kann?“ Er spuckt die Worte aus wie Gift. „Ihr seid keine Menschen mehr. Ihr seid Aasgeier, die sich an den Toten laben.“
Ich zucke zusammen, aber ich widerspreche ihm nicht. Was soll ich sagen? Dass er recht hat? Dass wir genau das sind? Dass wir keine andere Wahl haben?
„Du hast Hunger“, sage ich stattdessen. „Wir alle haben Hunger. Wenn wir nicht tun, was wir tun, sterben wir. Ist es das, was du willst?“
Er antwortet nicht. Stattdessen nimmt er ihre Hand in seine, streicht sanft über ihre Finger, die bereits steif und kalt sind. Ich sehe, wie seine Schultern beben, höre das leise Schluchzen, das er nicht zurückhalten kann.
„Bitte“, sage ich leiser. „Lass uns helfen.“
Für einen Moment glaube ich, dass er nachgeben wird. Dass er endlich loslassen kann. Doch dann schüttelt er den Kopf, und sein Gesicht verhärtet sich. „Nein“, sagt er. „Sie atmet noch.“
Ich trete einen Schritt zurück, weil ich spüre, dass ich nichts mehr tun kann. Manche Menschen lassen niemals los. Sie klammern sich an die Toten, bis auch sie selbst zu Staub zerfallen.
Als ich zurück zur Grube gehe, sehe ich die anderen, die bereits damit begonnen haben, die Knochen zu sortieren. Sie arbeiten schweigend, ihre Bewegungen mechanisch, als hätten sie vergessen, dass diese Knochen einmal Menschen waren. Vielleicht haben sie es wirklich vergessen. Vielleicht ist das der einzige Weg, weiterzumachen.
Doch dann höre ich es – ein leises Flüstern, das durch den Wind zu mir dringt. Zuerst denke ich, es kommt von dem Mann, aber als ich mich umdrehe, steht er immer noch dort, stumm und reglos. Das Flüstern wird lauter, drängender, bis es sich anfühlt, als würde es direkt in meinem Kopf widerhallen.
„Warum lässt du mich nicht gehen?“, flüstert eine Stimme.
Ich fahre herum, suche nach der Quelle, aber da ist niemand. Nur die Grube, die Bahre, der Mann und die Toten.
„Wer… wer bist du?“, frage ich, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch.
„Ich bin sie“, antwortet die Stimme. „Alle von ihnen.“
Mein Herz hämmert in meiner Brust, während ich die Grube anstarre. Die Knochen scheinen sich zu bewegen, sich neu anzuordnen, als würden sie zum Leben erwachen. Einer der Arbeiter schreit auf, als ein Skelett plötzlich nach ihm greift, seine knochigen Finger um sein Handgelenk schließt.
„Hört auf damit!“, schreit die Stimme, und der Wind peitscht um uns herum, wirbelt Staub und Asche auf. „Lasst uns ruhen!“
Ich falle auf die Knie, presse die Hände gegen meine Ohren, aber das Flüstern wird nur lauter. Es ist überall, in der Luft, im Boden, in meinem Kopf. Die Toten wollen nicht länger ignoriert werden. Sie wollen nicht länger benutzt werden.
Und dann sehe ich sie – die Frau auf der Bahre. Ihre Augen sind offen, und sie starren mich an. Ihre Lippen bewegen sich, formen Worte, die ich nicht hören muss, um sie zu verstehen.
„Sie atmet noch“, flüstert der Mann neben ihr, aber seine Stimme klingt anders jetzt. Als würde sie nicht mehr von ihm kommen.
Ich renne los, weg von der Grube, weg von den Toten, weg von allem. Doch egal, wie weit ich komme, das Flüstern folgt mir. Es sitzt in meiner Brust, in meinen Gedanken, in meiner Seele.
Denn sie haben recht. Wir haben sie nie gehen lassen. Und jetzt lassen sie uns nicht gehen.