Die Stadt der Schatten

Ich presse mich tiefer in den schmalen Spalt zwischen zwei Solarpaneelen, während die Sonne gnadenlos auf die Atacama-Wüste herabbricht. Die Luft flirrt vor Hitze, und selbst hier, im Schatten unseres provisorischen Hauses, fühlt sich meine Haut an, als würde sie von unsichtbaren Flammen versengt. Das Metall der Paneelen ist glühend heiß, aber ich wage es nicht, mich zu bewegen. Wer sich tagsüber in der Wüste zeigt, stirbt. Die Sonne hasst uns. Sie hat uns immer gehasst.
„Warum tun wir das?“, murmelt eine Stimme neben mir. Es ist Luisa, ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht aschfahl unter einer dicken Staubschicht. Sie klingt erschöpft, als hätte sie diese Frage schon hundertmal gestellt und doch keine Antwort gefunden.
„Weil wir leben wollen“, antworte ich automatisch, ohne sie anzusehen. Es ist die einzige Antwort, die ich habe. Aber selbst ich spüre, wie leer sie klingt.
Die Solarpaneele um uns herum knarren leise, als würden sie sich unter der Last der Hitze beugen. Wir bauen unsere Häuser aus ihnen, weil wir keine andere Wahl haben. Sie spenden Schatten, fangen die letzten Reste Energie ein, die wir noch nutzen können. Doch selbst das reicht kaum. Die Batterien sind fast leer, die Generatoren kaputt. Alles, was wir noch haben, sind diese dünnen Streifen Dunkelheit, die wir uns mit unseren Händen aus der gnadenlosen Weite der Wüste schneiden.
„Die Sonne hasst uns“, murmelt ein alter Mann irgendwo hinter uns. Seine Stimme ist rau, gebrochen von Jahren des Überlebenskampfes. Er wiederholt diesen Satz jeden Tag, als wäre er eine Gebetsformel. Vielleicht ist er das auch. „Die Sonne hasst uns.“
Ich will ihm widersprechen, aber ich tue es nicht. Was soll ich sagen? Dass die Sonne uns nicht hasst, sondern einfach nur existiert? Dass sie nichts für uns empfindet, weder Liebe noch Hass? Das würde ihn nicht trösten. Manchmal braucht man jemanden, dem man die Schuld geben kann. Selbst wenn dieser Jemand ein Stern ist.
Als die Schatten länger werden und die Temperatur langsam sinkt, beginnt die Stadt zum Leben zu erwachen. Die Menschen kriechen aus ihren Verstecken, ihre Gesichter eingefallen, ihre Bewegungen schwerfällig. Wir wissen alle, was jetzt kommt: die Suche nach Wasser.
Wir graben nachts, weil der Boden dann kühler ist, weil die Sonne uns dann nicht sehen kann. Mit bloßen Händen oder rostigen Werkzeugen kratzen wir die trockene Erde weg, Zentimeter für Zentimeter, in der Hoffnung, auf einen Rest Feuchtigkeit zu stoßen. Manchmal finden wir etwas – einen winzigen Tropfen, der sich in einer Felsspalte gesammelt hat, eine brackige Pfütze, die tief unter der Oberfläche verborgen war. Aber meistens finden wir nichts.
Heute Nacht führt mich mein Weg zu einem alten Grabungsort am Rande der Siedlung. Der Boden hier ist bereits aufgewühlt, die Erde hart wie Stein. Ich sehe die anderen schon von Weitem, ihre Silhouetten gebeugt über den Löchern, die sie in die Wüste gegraben haben. Ihre Gesichter sind ernst, ihre Augen leer.
„Hier ist nichts mehr“, sagt jemand, als ich näher komme. Es ist Maria, ihre Lippen aufgesprungen, ihre Hände blutig von der Arbeit. „Wir haben alles genommen. Alles.“
Ich nicke stumm und beginne trotzdem zu graben. Was bleibt uns anderes übrig?
Der Wind heult durch die Wüste, trägt Staub und Sand mit sich. Er klingt wie ein Lied, ein endloses, melancholisches Klagelied. Ich höre die Stimmen der anderen, gedämpft und monoton, während sie weitergraben, weiterhoffen, weiterleben. Aber da ist noch etwas anderes. Ein Flüstern, tief unter der Erde.
„Hörst du das?“, frage ich und halte inne. Die anderen sehen mich an, ihre Augen voller Misstrauen.
„Was?“, fragt Maria.
„Da unten…“ Ich deute auf das Loch vor mir. „Da ist etwas.“
Sie schütteln den Kopf, aber ich kann sehen, dass sie es auch hören. Das Flüstern wird lauter, drängender, bis es sich anfühlt, als würde es direkt in meinem Kopf widerhallen.
„Lasst uns gehen“, murmelt jemand. „Das ist kein Wasser.“
Aber ich kann nicht aufhören. Meine Hände graben schneller, tiefer, bis ich plötzlich auf Widerstand treffe. Etwas Hartes, Glattes. Ich ziehe daran, und es gibt nach. Ein Schädel kommt zum Vorschein, seine leeren Augenhöhlen starren mich an.
„Es ist einer von ihnen“, flüstert Maria, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Doch der Schädel ist erst der Anfang. Je tiefer wir graben, desto mehr finden wir. Knochen, Skelette, ganze Körper, die hier begraben wurden, lange bevor wir kamen. Sie liegen dicht an dicht, als hätten sie versucht, sich gegenseitig zu schützen.
„Wer waren sie?“, fragt Luisa, ihre Stimme zittert.
„Wir“, antwortet der alte Mann, der plötzlich neben uns steht. Seine Augen sind weit aufgerissen, sein Gesicht grau vor Entsetzen. „Wir waren sie.“
Ich starre ihn an, unfähig zu begreifen, was er meint. Doch dann sehe ich es – die Ähnlichkeit zwischen den Knochen und uns. Die gleichen Werkzeuge, die gleichen Solarpaneele, die wir heute noch verwenden.
„Sie haben dasselbe getan wie wir“, murmelt der alte Mann. „Sie haben nach Wasser gegraben. Und dann… sind sie gestorben.“
Die Wüste schweigt, während wir dort stehen, umgeben von den Überresten unserer Vorfahren. Der Wind legt sich, und das Flüstern verstummt.
„Die Sonne hasst uns“, sagt der alte Mann ein letztes Mal, bevor er sich abwendet und in die Dunkelheit schlurft.
Ich bleibe zurück, die Hände voller Staub und Knochen, und frage mich, ob wir wirklich anders sind. Oder ob wir nur darauf warten, dass die Geschichte sich wiederholt.