Die Stadt der Lügen

Der Bildschirm flackert vor mir, die Pixel tanzen wie winzige Sterne in der Dunkelheit des Bunkers. Der schwache Schein des Monitors ist das einzige Licht hier unten, abgesehen von den Notleuchten, die alle paar Meter an den Wänden angebracht sind. Ihre kalten, bläulichen Strahlen werfen lange Schatten auf die Gesichter der Jugendlichen, die sich um mich versammelt haben. Sie starren gebannt auf das, was ich ihnen zeige – Bilder einer Welt, die es nicht mehr gibt.
„Das ist Paris“, sage ich und klicke auf ein Foto, das den Eiffelturm zeigt, umgeben von grünen Bäumen und lachenden Menschen. „Hier kann man sehen, wie schön es dort war.“
„Ist“, korrigiert mich eines der Mädchen, ihre Stimme fest und ungeduldig. „Wie es ist .“
Ich nicke stumm und zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht. Es ist dasselbe Lächeln, das ich schon Tausende Male gezwungen habe, jedes Mal, wenn sie uns fragen, wann wir nach draußen gehen können. „Ja“, sage ich. „Wie es ist .“
Die Jugendlichen glauben noch daran. Sie glauben, dass die Welt da draußen noch genauso ist wie auf den Bildern, die ich ihnen zeige. Dass die Städte noch stehen, dass die Luft noch atembar ist, dass das Leben weitergeht, als wäre nichts geschehen. Und wir Älteren… wir sagen nichts. Wie könnten wir auch? Manche Lügen sind wie Sauerstoff. Ohne sie würden sie ersticken.
„Warum sind wir dann noch hier?“, fragt ein Junge, dessen Name ich vergessen habe. Seine Augen sind groß und voller Hoffnung, als würde er wirklich glauben, dass die Antwort ihn befreien könnte.
„Wir warten auf den richtigen Moment“, antworte ich und deute auf eine Karte auf dem Bildschirm, die Oslo zeigt. „Es muss sicher sein. Wir müssen sicher sein.“
Er nickt zufrieden, aber ich sehe den Zweifel in seinen Augen. Er wird älter, beginnt zu verstehen, dass etwas nicht stimmt. Bald wird er Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.
„Können wir Musik hören?“, fragt ein anderes Kind, jünger als die anderen, kaum älter als zehn.
Ich öffne eine Playlist mit alten Songs, die ich aus den Archiven gezogen habe. Die Melodien füllen den Raum, sanft und traurig zugleich. Die Kinder summen mit, obwohl sie die Texte nicht kennen. Sie wissen nicht, dass diese Lieder von einer Zeit stammen, die längst tot ist. Vielleicht ist es besser so.
Als die Musik verklingt, bleibt eine Stille zurück, die schwer auf uns lastet. Ich spüre die Blicke der Älteren auf mir, diejenigen, die schon lange genug hier unten sind, um die Wahrheit zu ahnen. Sie sitzen in den Ecken des Raums, ihre Gesichter ausdruckslos, ihre Körper schlaff vor Resignation. Sie wissen, dass wir nie nach draußen gehen werden.
„Warum erzählst du uns das alles?“, fragt plötzlich eine Stimme hinter mir. Es ist Elias, einer der Ältesten unter den Jugendlichen. Seine Augen sind scharf, durchdringend, als könnte er direkt in meinen Kopf sehen. „Warum zeigst du uns diese Bilder, wenn wir doch nicht rauskönnen?“
Ich zögere, suche nach Worten, die ich nicht finden kann. Was soll ich ihm sagen? Dass ich es tue, weil es einfacher ist, als die Wahrheit auszusprechen? Dass ich es tue, weil ich Angst habe, was passieren würde, wenn ich es nicht täte?
„Weil ihr es wissen sollt“, sage ich schließlich, meine Stimme brüchig wie trockenes Laub. „Weil ihr verstehen müsst, woher wir kommen.“
Elias sieht mich lange an, dann nickt er langsam. Aber ich weiß, dass er mir nicht glaubt.
Später, als die Kinder schlafen, sitze ich allein im Archivraum und starre auf die leeren Bildschirme. Meine Finger gleiten über die Tastatur, öffnen alte Dateien, die ich schon hundertmal gelesen habe. Fotos von Städten, die nun Ruinen sind. Videos von Menschen, die längst tot sind. Nachrichten über Katastrophen, die niemand mehr aufhalten konnte.
Dann sehe ich es – eine Datei, die ich noch nie zuvor bemerkt habe. Sie ist klein, fast unscheinbar, versteckt zwischen tausend anderen. Als ich sie öffne, erscheint ein Text, geschrieben in einer Sprache, die ich kaum verstehe. Es ist eine Warnung, ein letzter Hilferuf von jemandem, der wusste, dass es zu spät war.
„Die Welt stirbt“, steht dort. „Und wir sterben mit ihr.“
Ich starre auf die Worte, bis sie vor meinen Augen verschwimmen. Dann schließe ich die Datei und lösche sie. Sie dürfen sie nicht finden. Sie dürfen es nicht wissen.
Als ich den Raum verlasse, höre ich ein leises Flüstern, das durch die Gänge des Bunkers hallt. Zuerst denke ich, es kommt von den Kindern, aber dann wird mir klar, dass es aus den Wänden selbst zu kommen scheint. Eine Stimme, tief und kehlig, die Worte in einer Sprache, die ich nicht kenne.
„Lügner“, sagt sie plötzlich, klar und deutlich.
Ich bleibe stehen, mein Herz hämmert in meiner Brust.
„Lügner“, wiederholt die Stimme. „Sie wissen es.“
Ich schüttele den Kopf, versuche, die Stimme zu ignorieren, aber sie wird lauter, drängender.
„Sie wissen es“, flüstert sie. „Und bald werden sie dich dafür hassen.“
Ich renne los, zurück in den Archivraum, und schließe die Tür hinter mir. Aber die Stimme folgt mir, sitzt in meinem Kopf, in meinen Gedanken.
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht wissen sie es längst. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie begreifen, dass die Welt da draußen nicht mehr existiert. Und dass wir sie angelogen haben.
Aber was bleibt uns anderes übrig? Ohne diese Lügen würden sie aufhören zu atmen. Ohne diese Lügen würden wir alle sterben.
Ich setze mich an den Computer und öffne eine neue Datei. Vielleicht ist es Zeit für eine neue Geschichte. Eine, die sie noch eine Weile am Leben erhält.
Denn manche Lügen sind wie Sauerstoff. Und ohne sie… gibt es keine Hoffnung.
„Komm“, sage ich sanft. „Komm mit uns.“
Als wir den Marktplatz verlassen, folgt uns der Hund wie ein Schatten, seine Schritte unsicher, aber entschlossen. Die anderen sehen ihn mit Misstrauen an, mit Skepsis, mit der harten Kalkulation des Überlebens – ein weiteres Maul zu füttern, eine weitere Verantwortung in einer Welt, die bereits zu viele Lasten trägt.
„Was soll das?“, fragt Jabari und deutet auf den Hund. Seine Stimme ist hart, sein Blick kalt. „Wir haben kaum genug zu essen für uns selbst.“
„Er kann uns helfen“, antwortet Amina. Ihre Hand ruht auf dem Kopf des Hundes, eine schützende Geste. „Er kann Wache halten, kann uns warnen, wenn Gefahr droht.“
„Oder er führt sie zu uns“, kontert Jabari. „Ein bellender Hund ist wie eine Einladung für jedes Raubtier im Umkreis von fünf Kilometern.“
„Komm“, sage ich sanft. „Komm mit uns.“
Als wir den Marktplatz verlassen, folgt uns der Hund wie ein Schatten, seine Schritte unsicher, aber entschlossen. Die anderen sehen ihn mit Misstrauen an, mit Skepsis, mit der harten Kalkulation des Überlebens – ein weiteres Maul zu füttern, eine weitere Verantwortung in einer Welt, die bereits zu viele Lasten trägt.
„Was soll das?“, fragt Jabari und deutet auf den Hund. Seine Stimme ist hart, sein Blick kalt. „Wir haben kaum genug zu essen für uns selbst.“
„Er kann uns helfen“, antwortet Amina. Ihre Hand ruht auf dem Kopf des Hundes, eine schützende Geste. „Er kann Wache halten, kann uns warnen, wenn Gefahr droht.“
„Oder er führt sie zu uns“, kontert Jabari. „Ein bellender Hund ist wie eine Einladung für jedes Raubtier im Umkreis von fünf Kilometern.“