Die schwimmende Stadt

Die schwimmende Stadt
Der Plastikmüll unter meinen Füßen knirscht wie zerbrochenes Glas. Ich halte den Atem an, als eine Welle gegen den Ponton schlägt und das ölverschmierte Wasser durch die Ritzen zwischen den Flaschen, Styroporbrocken und zerfetzten Fischernetzen drückt. Der Horizont ist ein einziger glitzernder Teppich aus Abfall, der sich bis zum verschwommenen Rand der Welt erstreckt. Miami. Oder das, was davon übrig ist.
Die Überreste der Wolkenkratzer ragen aus dem Meer wie abgebrochene Zähne. Das einst weiße „Frost Bank Building“ neigt sich in einem grotesken Winkel, seine Fenster sind schwarze Löcher, die Seetang und Möwenkadaver ausspucken. Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich hier stand – damals noch auf Asphalt, nicht auf Müll – und die Sonne sich in den Glasfassaden spiegelte. Jetzt spiegelt sie nur noch Öl.
Ein Schwarm Pelikane kämpft gegen die Strömung, ihre Federn verklebt von der gleichen braunen Brühe, die auch meine Hände befleckt. Einer von ihnen stößt einen heiseren Schrei aus, als er mit dem Schnabel gegen einen halb versunkenen Plastikstuhl prallt. Ich will ihm helfen, aber das ist lächerlich. Wir kämpfen alle hier.
„Weiter“ murmele ich und ziehe die improvisierte Harpune fester an mich, die ich aus einem abgebrochenen Straßenlicht und einem Küchenmesser gebastelt habe. Der Wind trägt den Gestank von verrottendem Fisch und Benzin heran. Irgendwo in der Ferne höre ich das dumpfe Dröhnen eines Generators – ein Geräusch, das Hoffnung bedeuten könnte oder eine Falle.
Ein Plastikfass stößt gegen den Ponton. Ich springe darauf zu, balanciere über die schwankende Oberfläche und versuche, nicht auf die Schatten unter mir zu achten. Dort unten gibt es Dinge, die sich bewegen. Dinge, die nicht schwimmen sollten.
Die Sonne brennt auf meine Schultern, aber das Wasser unter mir ist eiskalt. Ein Widerspruch, den ich längst aufgegeben habe zu verstehen. Als ich den nächsten Schritt mache, bricht ein Stück des Pontons weg. Ich fange mich ab, doch der Schwung reißt mich nach vorn. Meine Hand taucht ins Wasser, und sofort zieht ein scharfer Schmerz durch meine Finger. Die Strömung frisst an meiner Haut wie Säure.
„Scheiße“, zische ich, reiße die Hand heraus und wische sie an meiner Hose ab. Das Öl hinterlässt eine glänzende Spur. Ich starre auf meine Haut, die bereits rot und wund wird, als hätte das Wasser selbst mich angegriffen. Es ist nicht nur Öl. Da ist etwas anderes in diesem Wasser, etwas, das sich wie tausend winzige Nadelstiche anfühlt.
Ein weiterer Schrei durchbricht die Stille – diesmal näher. Ich hebe den Kopf und sehe einen Pelikan, der mit verzweifelten Flügelschlägen über den Wellen kämpft. Sein Schnabel ist festgeklemmt in einer Plastiktüte, die wie ein makabrer Schleier hinter ihm her flattert. Er stürzt ins Wasser, und die Strömung zieht ihn fort, bevor ich auch nur einen Gedanken an Rettung verschwenden kann.
Ich atme tief ein, aber die Luft schmeckt nach Salz und Verfall. Meine Lungen brennen, und ich frage mich, wie lange ich noch in dieser Welt überleben kann. Überleben? Ist das überhaupt das richtige Wort?
Der Generator dröhnt wieder, dieses Mal lauter. Ich drehe mich in die Richtung des Geräuschs und kneife die Augen zusammen. Am Horizont sehe ich etwas – eine Art schwimmende Plattform, die aus Metallträgern und zusammengenagelten Holzbrettern besteht. Darauf steht eine windschiefe Hütte, deren Fenster mit Plastikfolie verklebt sind. Rauch steigt aus einem rostigen Schornstein auf, der aussieht, als würde er jeden Moment umkippen.
Menschen. Oder zumindest etwas, das Menschen ähnlichsieht.
Ich beiße die Zähne zusammen und setze meinen Weg fort, springe von einem Stück treibenden Müll zum nächsten. Jeder Schritt ist ein Risiko, aber ich habe keine Wahl. Der Hunger nagt an mir wie ein Tier, das sich in meinem Magen eingenistet hat. Und dann ist da noch die Kälte, die sich trotz der sengenden Sonne in meine Knochen frisst.
Als ich näherkomme, höre ich Stimmen. Sie klingen rau und gebrochen, als hätten ihre Besitzer seit Jahren kein klares Wasser mehr getrunken. Einer ruft etwas, das ich nicht verstehen kann. Ein anderer lacht – ein hohes, schrilles Lachen, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.
Ich bleibe stehen, halte die Harpune fester. Was, wenn sie mich sehen? Was, wenn sie mich nicht sehen wollen?
Plötzlich bewegt sich etwas unter mir. Ein Schatten huscht durch das trübe Wasser, groß und schnell. Ich verliere das Gleichgewicht, als der Ponton unter meinen Füßen nachgibt. Für einen Moment bin ich schwerelos, dann schlage ich hart auf der Oberfläche auf. Das Wasser schließt sich über mir, und alles wird still.
Fast zu still.
Ich strample zurück an die Oberfläche, schnappe nach Luft und spucke öligen Schaum aus. Der Schatten ist verschwunden, aber ich spüre ihn noch immer – irgendwo dort unten, wo das Licht nicht hinkommt.
Die Plattform ist jetzt nah genug, dass ich die Gesichter sehen kann. Ein Mann mit einer Narbe quer über seiner Wange starrt mich an. In seinen Augen liegt eine Mischung aus Neugier und Misstrauen. Neben ihm steht eine Frau mit einem Gewehr in der Hand. Ihre Lippen bewegen sich, aber ich höre ihre Worte nicht.
„Bitte“, krächze ich, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist.
Sie hebt das Gewehr.
Und dann wird alles schwarz.
Ich erwache zum Klang tropfenden Wassers. Tick-tack-tick, wie ein Metronom, das zum Rhythmus einer längst vergessenen Melodie tickt. Mein Gesicht klebt an einer Metallplatte, die nach Rost und Salz schmeckt. Als ich die Augen öffne, sehe ich durch eine schmutzig-gelbe Glasscheibe hindurch einen Teil des Himmels – bleifarben, krank. Die Luft ist schwer von Diesel und dem süßlichen Gestank verrottender Algen.
„Es lebt“, sagt eine Stimme hinter mir, tief und rau wie zerbrochene Muscheln.
Ich drehe mich um, zu schnell, und Schmerz explodiert hinter meinen Schläfen. Ein Mann sitzt auf einem umgedrehten Eimer. Seine Haut ist wie gerbtes Leder, von Narben und Falten durchzogen. In seiner rechten Augenhöhle steckt ein Uhrglas, das das Licht in Regenbogenfarben bricht.
„Verletzte Fische schwimmen nicht weit“, sagt er und grinst. Zwei Goldzähne blitzen zwischen seinen schwarzen Zahnstummeln. „Aber du bist weiter gekommen als die meisten.“
„Wo bin ich?“, frage ich, und meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren.
„Auf der ‚Vergissmeinnicht‘.“ Er lacht, als hätte er einen Witz gemacht. „Willkommen auf dem letzten Stück Miami, das sich noch bewegen kann.“
Er wirft mir eine Plastikflasche zu. Das Wasser darin hat die Farbe von verblasstem Jeans. „Trink. Es ist gefiltert. Dreimal.“
Ich zögere, dann nehme ich einen Schluck. Es schmeckt bitter und metallisch, aber ich spüre, wie es meinen ausgedörrten Körper durchströmt wie ein elektrischer Impuls.
„Ihr habt auf mich geschossen“, sage ich, während ich nach einer Wunde taste.
Der Mann lacht wieder. „Nein, Kleiner. Wir haben dich betäubt. Wer hier ankommt, könnte alles sein – ein verzweifelter Überlebender, ein Spion der Kontinentalen oder nur ein weiteres Stück Treibgut.“ Er tippt sich an die Schläfe. „Man kann nicht vorsichtig genug sein, nicht in diesen Tagen.“
Ich will aufstehen, aber der Raum neigt sich wie ein betrunkenes Karussell. Stahlwände, notdürftig verschweißt und mit Algenflecken übersät. An der Decke baumeln Fischernetze voller seltsam glänzender Dinge – Uhren, Smartphones, Medaillons, die im spärlichen Licht aufleuchten wie ein bizarrer Sternenhimmel.
„Mein Name ist Kraken“, sagt der Mann. „So nennen sie mich, seit ich mit bloßen Händen einen aus dem Wasser gezogen habe. Die echten Kraken sind tot, weißt du. Plastik in den Kiemen.“ Er klopft sich auf die Brust. „Aber ich bin noch da.“
„Was wollt ihr von mir?“, frage ich und versuche, den Druck in meinem Kopf zu ignorieren.
Kraken lehnt sich vor, und sein Uhrglasauge reflektiert mein verzerrtes Gesicht. „Die Frage ist, Kleiner: Was willst du von uns? Niemand kommt hierher ohne Grund. Die Strömungen tragen dich entweder zum offenen Meer – wo der Tod wartet – oder zurück zum Kontinent, wo…“ Er zieht eine Grimasse. „…andere Arten des Todes warten.“
Eine Tür öffnet sich kreischend. Die Frau mit dem Gewehr tritt ein, aber diesmal trägt sie es lässig über der Schulter. Ihr Gesicht ist ein Netzwerk aus feinen Linien, wie ein zerbrochener Spiegel. Ihre Augen sind so blau, dass sie beinahe weiß wirken.
„Er ist wach“, sagt sie. Nicht zu mir, nicht zu Kraken – eher wie eine Feststellung ins Universum.
„Ja, Marlene. Mit allen Rädern am Drehen, wie es scheint.“
Marlene mustert mich von oben bis unten. „Die Kontinentalen verschicken jetzt Kinder?“
„Ich bin kein Kind“, sage ich, obwohl ich selbst nicht weiß, wie alt ich bin. Die Kalender haben aufgehört zu funktionieren, als das Wasser stieg.
„Er sagt, er sei kein Kind“, echot Kraken amüsiert. „Vielleicht hat er Recht. Kinder haben in dieser Welt nie lange Zeit, welche zu sein.“
Marlene schnaubt und wirft mir ein Bündel Stoff zu. „Deine Kleider waren verseucht. Wir haben sie verbrannt. Das hier sollte passen.“
Ich rolle das Bündel auf – ein verschlissenes T-Shirt mit der verblassten Aufschrift „Save the Whales“ und eine Hose, die einst blau gewesen sein muss. Die Ironie des Shirts lässt mich kurz auflachen, ein rostiges Geräusch, das mich selbst erschreckt.
Marlene hebt eine Augenbraue. „Was ist so lustig?“
„Die Wale“, sage ich. „Wir konnten sie nicht retten.“
„Wir konnten gar nichts retten“, entgegnet sie scharf. „Und wir sind nicht hier, um über ausgestorbene Arten zu trauern.“
Kraken steht auf, seine Gelenke knacken wie trockenes Holz. „Du darfst dich frei bewegen. Aber versuch nicht zu fliehen. Es gibt nirgendwo hin zu fliehen.“
Sie verlassen den Raum, und ich ziehe mich langsam an. Die Kleider riechen nach Salz und einem seltsamen chemischen Geruch, den ich nicht identifizieren kann. Als ich fertig bin, gehe ich zur Tür. Sie ist nicht verschlossen.
Der Korridor dahinter ist eng und gewunden wie ein Darm. Die Wände bestehen aus zusammengeschweißten Metallplatten unterschiedlicher Herkunft – Verkehrsschilder, Autoteile, sogar ein flachgehämmerter Kühlschrank. Überall laufen Kabel wie Adern entlang der Decke, manche pulsieren mit schwachem Licht.
Ich folge den Kabeln zu einer Treppe, die nach oben führt. Mit jedem Schritt wird das Geräusch des Meeres lauter, ein rhythmisches Schlagen gegen den Rumpf des Schiffes. Als ich die Luke erreiche und sie aufstoße, trifft mich das Licht wie ein Schlag.
Das Deck der „Vergissmeinnicht“ ist ein Chaos aus Gerätschaften, Antennen und improvisierter Landwirtschaft. In großen Plastikkisten wächst etwas Grünes – die ersten Pflanzen, die ich seit Monaten sehe. Menschen bewegen sich zwischen den Strukturen, flicken Netze, schrauben an Motoren, destillieren Wasser in seltsam geformten Glasapparaturen. Sie alle tragen die gleichen abgewetzten Kleider in Grau- und Brauntönen, als hätte die Welt ihre Farben verloren.
Und überall um uns herum – das Meer. Es erstreckt sich in alle Richtungen, ein schimmernder Teppich aus Öl und Plastikscherben, durch den gelegentlich die Spitze eines versunkenen Gebäudes sticht wie der Finger eines Ertrinkenden. In der Ferne sehe ich weitere Schiffe, einige nicht mehr als schwimmende Flöße, andere ähnlich zusammengestückelt wie dieses.
Die schwimmende Stadt.
Marlene steht am Bug, ihr Haar ein wildes Nest im Wind. Sie hält ein Fernglas vor die Augen und scannt den Horizont. Als sie mich bemerkt, winkt sie mich zu sich.
„Sieh“, sagt sie und reicht mir das Fernglas. „Der Grund, warum wir dich nicht erschossen haben.“
Ich blicke hindurch und sehe in der Ferne einen dunklen Umriss. Erst denke ich, es sei nur eine Wolke, aber dann erkenne ich die Form – ein Schiff. Kein zusammengeflicktes Überlebensfloß wie dieses, sondern ein richtiges Schiff, mit glattem Rumpf und gleichmäßigen Kanten.
„Ein Kontinentalschiff“, flüstere ich.
„Ja. Das dritte in diesem Monat. Sie suchen etwas. Oder jemanden.“ Marlene blickt mich durchdringend an. „Du bist vom Festland gekommen. Was weißt du darüber?“
Ich senke das Fernglas. „Nichts. Ich bin vor Wochen geflohen. Die Rationen wurden gekürzt, die Patrouillen verdoppelt. Sie haben Menschen mitgenommen – für ‚medizinische Tests‘, sagten sie. Niemand kam zurück.“
Marlene tauscht einen Blick mit Kraken, der unbemerkt hinter uns aufgetaucht ist.
„Was?“, frage ich.
„Die Schiffe fahren bestimmte Muster“, sagt Kraken langsam. „Sie suchen etwas unter Wasser. Vielleicht eine der alten Forschungsstationen. Vielleicht etwas aus der Zeit vor der Flut.“
„Oder jemanden, der etwas weiß“, ergänzt Marlene. Ihr Blick bohrt sich in mich wie eine Nadel.
Ich lache bitter. „Ich weiß nichts. Ich bin niemand.“
„Niemand überquert das Plastikmeer ohne Grund“, sagt Kraken und tippt mit einem verknorpelten Finger auf meine Brust. „Niemand riskiert die Säure, die Strömungen, die Tiefe.“
Ich weiche zurück. „Ich wollte nur weg. Ist das so schwer zu verstehen?“
Ein Alarm durchschneidet die Luft – drei kurze, schrille Töne. Sofort gerät die Besatzung in Bewegung, sichert lose Gegenstände, greift nach Waffen.
„Was ist das?“, frage ich.
„Sturmwarnung“, ruft Marlene über den aufkommenden Wind. „Und nicht nur irgendein Sturm.“ Sie zeigt nach Westen, wo der Himmel sich verdunkelt, als würde jemand schwarze Tinte ins Wasser tropfen. „Ein Säuresturm. Wenn wir nicht schnell genug sind, frisst er uns die Haut von den Knochen.“
Sie greift nach meinem Arm. „Komm. Wir müssen unter Deck. Du kannst später noch beweisen, dass du wirklich niemand bist.“
Der Wind peitscht bereits über das Deck, trägt den Geruch von Schwefel und verbranntem Plastik mit sich. Ich blicke zurück zum Horizont, wo das Kontinentalschiff verschwindet, seine Umrisse verschwimmen in der aufziehenden Dunkelheit.
Für einen Moment glaube ich, ein Gesicht am Himmel zu sehen – geformt aus Wolken und Schatten, mit Augen aus Blitzen. Es lächelt, ein grausames, hungriges Lächeln.
Dann zieht mich Marlene in die Luke, und die Welt verschwindet hinter einer Stahlplatte, die krachend ins Schloss fällt.