Die Salzwüste

Ich sitze auf der Veranda unseres Salzhauses und beobachte, wie der Mond über dem ausgetrockneten Meer aufgeht. Sein Licht verwandelt die weiße Weite in ein glühendes Meer aus Kristallen. Die Luft ist schwer von Stille, nur unterbrochen vom gelegentlichen Knistern der Salzsteine, die sich im Nachtwind verformen. Es ist eine Schönheit, die gleichzeitig tröstlich und bedrohlich wirkt – wie ein Versprechen, das man nicht halten kann.
Die anderen schlafen schon längst, zusammengerollt in Decken, die nach Salz und Schweiß riechen. Aber ich bleibe wach, wie jede Nacht. Ich bin die Wache. Nicht weil ich mutig wäre, sondern weil ich Angst habe. Angst davor, was passieren könnte, wenn ich die Augen schließe.
Plötzlich sehe ich sie – die ersten Spuren. Sie ziehen sich wie silberne Linien durch das Mondlicht, winden sich zwischen den Salzhügeln hindurch wie die Bahnen einer unsichtbaren Schnecke. Die Schmuggler sind hier. Sie kommen immer bei Vollmond, als würden sie vom Glühen des Salzes angelockt. Man sagt, sie verkaufen es an Orte, wo Wasser noch kostbarer ist als Gold. Für sie ist es ein Geschäft. Für uns ist es Leben.
Ich greife nach der Harke, die neben der Tür lehnt, und schleiche vorsichtig die Treppe hinunter. Das Salz knirscht unter meinen nackten Füßen, aber ich achte darauf, keinen Lärm zu machen. Wenn ich Glück habe, bemerken sie mich nicht. Wenn ich Pech habe… nun, daran will ich jetzt nicht denken.
Die Spuren führen mich zu einem der größeren Salzhügel am Rand des Dorfes. Dort sehe ich ihre Schatten – geduckte Gestalten, die mit Hacken und Säcken arbeiten. Sie bewegen sich schnell und effizient, als hätten sie das schon tausendmal getan. Ihre Gesichter sind unter Tüchern verborgen, doch ihre Hände verraten sie: rissig und rot, zerfressen von demselben Salz, das sie stehlen.
Einer von ihnen hebt den Kopf und sieht in meine Richtung. Obwohl ich mich hinter einem Felsen verstecke, spüre ich seinen Blick wie ein Messer auf meiner Haut. Dann nickt er jemandem zu, und zwei weitere Gestalten kommen auf mich zu. Sie haben mich entdeckt.
Ich umklammere die Harke fester und überlege, ob ich zurück ins Haus rennen soll. Aber das würde nichts ändern. Sie würden einfach weitermachen, bis nichts mehr übrig ist. Und dann? Was bleibt uns dann noch?
„Komm raus“, ruft eine Stimme, rau und kalt wie der Wind, der über die Wüste streicht. „Wir tun dir nichts.“
Ich beiße die Zähne zusammen und trete langsam hinter dem Felsen hervor. Der Mond scheint hell genug, dass sie mich sehen können. Einer der Männer hält eine Axt in der Hand, deren Klinge im Mondlicht schimmert. Doch es ist nicht die Waffe, die mir Angst macht. Es sind seine Augen – leer und dunkel, als hätte die Salzwüste alles Leben daraus gesogen.
„Was wollt ihr hier?“, frage ich, meine Stimme zittert trotz aller Anstrengung, stark zu klingen. „Ihr wisst, dass ihr dieses Salz nicht nehmen dürft.“
Der Mann lacht leise, ein trockenes, kratzendes Geräusch. „Dieses Salz gehört niemandem“, sagt er. „Es war schon hier, bevor ihr gekommen seid, und es wird noch hier sein, wenn ihr weg seid.“
Ich will etwas erwidern, doch da höre ich ein Geräusch hinter mir – ein leises Knirschen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Bevor ich reagieren kann, packen mich starke Hände von hinten und drücken mir einen salzverkrusteten Lumpen auf den Mund. Ich wehre mich, trete um mich, aber es nützt nichts. Meine Gegenwehr wird schwächer, während das Salz in meinen Lungen brennt.
Dann lässt der Griff plötzlich nach, und ich falle auf die Knie. Hustend sehe ich auf und erkenne eine vertraute Gestalt – meinen Bruder Elias. Er hat einen der Schmuggler zu Boden gerissen und kämpft mit ihm, während die anderen zurückweichen. In seinen Augen lodert eine Wut, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
„Verschwindet!“, brüllt er, und seine Stimme hallt wie Donner über die Wüste. „Wenn ihr noch einmal hierherkommt, werdet ihr es bereuen!“
Die Schmuggler zögern einen Moment, dann sammeln sie ihre Werkzeuge ein und verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Ihre Spuren bleiben zurück, ein Netz aus silbernen Linien, das sich bis zum Horizont erstreckt.
Elias hilft mir auf die Beine, sein Gesicht ist weiß vor Zorn und Sorge. „Warum bist du rausgegangen?“, fragt er. „Du kannst sie nicht allein bekämpfen.“
Ich sehe ihn an, Tränen in den Augen. „Was sollen wir sonst tun?“, flüstere ich. „Sie werden nicht aufhören. Niemals.“
Elias antwortet nicht sofort. Stattdessen blickt er über die Salzwüste, wo der Mond das ausgetrocknete Meer in ein gleißendes Meer aus Licht verwandelt hat. „Vielleicht“, sagt er schließlich, „müssen wir das Salz selbst beschützen. Auf unsere Weise.“
Ich folge seinem Blick und frage mich, was er meint. Doch eines weiß ich sicher: Diese Nacht wird nicht die letzte sein. Die Schmuggler werden wiederkommen. Und wenn sie es tun, werden wir bereit sein.