As Time Goes By

Der verschwundene Gegenstand

Ich stehe vor dem offenen Kühlschrank und starre hinein, als könnte sich der Inhalt durch mein Starren vermehren. Es ist diese merkwürdige Zeit zwischen zu spät für ein vernünftiges Abendessen und zu früh fürs Schlafengehen. Die Kühlschranklampe wirft ein kaltes Licht auf mein Gesicht. Mein Magen knurrt leise.

„Wo ist die verdammte Butter?“, murmle ich vor mich hin.

Ich schiebe Joghurtbecher zur Seite, hebe eine Packung mit Käseresten hoch und stelle die halbvolle Milchflasche um. Keine Butter. Ich bin mir absolut sicher, dass ich gestern noch welche hatte. Mindestens ein Drittel der Packung müsste noch da sein.

Ich schließe den Kühlschrank und öffne ihn sofort wieder, als könnte die Butter in dieser Sekunde magisch aufgetaucht sein. Ist sie nicht.

„Hab ich sie woanders hingestellt?“, überlege ich laut und beginne, in meiner kleinen Küche herumzusuchen. In der Speisekammer, auf der Anrichte neben dem Toaster, sogar im Gefrierfach. Nichts.

Etwas ratlos gehe ich ins Wohnzimmer und lasse mich auf die Couch fallen. Die Dämmerung kriecht langsam durch die halbgeöffneten Jalousien. Es ist diese seltsame Stunde, in der die Welt draußen blau wird, nicht ganz Tag, nicht ganz Nacht. Die Straßenlaterne vor meinem Fenster flackert leicht, bevor sie ganz angeht.

Ich greife nach der Fernbedienung, aber meine Hand trifft nur auf den leeren Couchtisch. Auch die ist weg. Zuerst die Butter, jetzt die Fernbedienung. Was kommt als Nächstes?

„Vielleicht werde ich verrückt“, sage ich zu mir selbst und lache kurz auf. Die Lache klingt in der leeren Wohnung seltsam fehl am Platz.

Ich stehe auf und durchsuche die Ritzen der Couch. Kein glatter Kunststoff einer Fernbedienung zu finden, nur ein paar Münzen und ein angeknabberter Bleistift. Ein Bleistift? Ich erinnere mich nicht, jemals auf der Couch etwas geschrieben zu haben.

Die Müdigkeit sitzt mir in den Knochen. Es war ein langer Tag mit zu vielen Besprechungen und zu wenig Kaffeepausen. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.

„Morgen sieht die Welt schon anders aus“, sage ich mir und gehe Richtung Schlafzimmer.

Im Schlafzimmer ist es dunkel, nur ein schwacher Lichtstrahl von der Straßenlaterne dringt durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Ich drücke den Lichtschalter, aber nichts passiert. Die Glühbirne muss durchgebrannt sein. Seufzend taste ich mich zum Bett vor.

Als ich die Bettdecke zurückschlage, spüre ich etwas Hartes. Ich greife danach und erkenne die Form der Fernbedienung. Wie zum Teufel ist die hierher gekommen? Ich habe sie bestimmt nicht hierher gelegt.

„Seltsam“, murmle ich und lege die Fernbedienung auf den Nachttisch.

Die Nacht ist warm, fast zu warm für eine Decke, aber ich ziehe sie trotzdem bis zum Kinn hoch. Eine Art Schutzwall gegen die Merkwürdigkeiten des Tages. Meine Gedanken kreisen noch eine Weile um die wandernde Fernbedienung und die verschwundene Butter, dann werde ich schwer und schlafe ein.


Der Traum kommt schleichend, wie Nebel, der über einen See zieht. Zuerst bin ich mir nicht sicher, ob ich träume oder wache. Ich liege in meinem Bett, aber die Decke fühlt sich anders an, schwerer, als wäre sie aus einem dickeren Stoff gewebt. Das Licht im Zimmer hat eine seltsame Qualität, zu klar für Nacht, zu gedämpft für Tag.

Ich setze mich auf und bemerke, dass die Wände meines Schlafzimmers weiter weg zu sein scheinen. Der Raum ist größer geworden, dehnt sich in alle Richtungen aus. Die Möbel sind dieselben, aber sie stehen jetzt weiter auseinander, wie Inseln in einem wachsenden Meer aus Parkettboden.

„Hallo?“, sage ich, und meine Stimme klingt seltsam gedämpft, als würde sie von den Wänden verschluckt werden.

Ich schwinge die Beine über die Bettkante und meine Füße berühren etwas Kaltes, Glattes. Ich schaue nach unten und sehe die Butterpackung, halb geöffnet, die Butter darin weich und leicht angeschmolzen. Sie liegt direkt neben meinem Bett, als hätte jemand sie dort platziert, während ich schlief.

„Was zum…?“, beginne ich, aber dann höre ich ein Geräusch aus der Küche. Ein leises Klirren, wie von Geschirr, das behutsam bewegt wird.

Mein Herz schlägt schneller. Ich bin mir sicher, dass ich alleine in der Wohnung bin. War ich das nicht immer? Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher.

Ich stehe auf, ignoriere die Butterpackung am Boden und gehe langsam in Richtung Küche. Der Flur ist länger als sonst, die Wände scheinen leicht zu atmen, ein kaum wahrnehmbares Pulsieren. Die Küchentür ist nur angelehnt, ein schwacher Lichtschein dringt durch den Spalt.

Mit zitternden Fingern drücke ich die Tür auf und starre in meine Küche, die nicht mehr meine Küche ist. Die Grundelemente sind da – Herd, Kühlschrank, Spüle – aber alles wirkt größer, fremder. Und am Küchentisch sitzt jemand.

Eine Gestalt, deren Umrisse verschwimmen, als würden sie sich weigern, eine feste Form anzunehmen. Ich kann nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist, jung oder alt. Die Gestalt hält eine Tasse in der Hand und dreht sich zu mir um.

„Da bist du ja“, sagt die Gestalt mit einer Stimme, die gleichzeitig vertraut und fremd klingt. „Ich habe auf dich gewartet.“

„Wer sind Sie?“, frage ich, und meine Stimme klingt dünn in meinen eigenen Ohren.

Die Gestalt lacht leise. „Das ist eine komplizierte Frage. Vielleicht bin ich derjenige, der die Dinge verschiebt. Oder vielleicht bin ich nur ein Teil von dir, der versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen.“

Ich trete näher heran, getrieben von einer Mischung aus Neugier und Furcht. Je näher ich komme, desto mehr verschwimmen die Züge der Gestalt, als würde mein Gehirn sich weigern, sie klar zu erfassen.

„Warum nimmst du meine Sachen?“, frage ich, und es klingt kindischer, als ich beabsichtigt hatte.

„Ich nehme nichts. Ich arrangiere nur neu“, antwortet die Gestalt und nimmt einen Schluck aus der Tasse. „Es gibt so viel Unordnung in deinem Leben. So viele Dinge, die nicht an ihrem richtigen Platz sind.“

Ich setze mich auf den Stuhl gegenüber, ohne wirklich darüber nachzudenken. Die Küche kommt mir jetzt wieder bekannter vor, als würde sie sich meiner Wahrnehmung anpassen.

„Was meinst du damit?“, frage ich.

Die Gestalt stellt die Tasse ab und lehnt sich vor. Für einen Moment kann ich fast ein Gesicht erkennen, aber es ist wie Wasser, ständig in Bewegung, unmöglich festzuhalten.

„Deine Butter gehört nicht in den Kühlschrank“, sagt die Gestalt mit einer Bestimmtheit, die mich überrascht. „Butter braucht Raum, um zu atmen. Sie will nicht eingesperrt sein.“

Ich runzle die Stirn. „Aber Butter verdirbt, wenn sie nicht gekühlt wird.“

„Tut sie das?“, fragt die Gestalt. „Oder ist das nur etwas, das man dir beigebracht hat? Hast du es je ausprobiert?“

Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber mir wird bewusst, dass ich es tatsächlich nie ausprobiert habe. Ich stelle die Butter immer in den Kühlschrank, weil man das eben so macht.

„Und die Fernbedienung“, fährt die Gestalt fort, „warum muss sie auf dem Couchtisch liegen? Vielleicht fühlt sie sich wohler in deinem Bett. Vielleicht möchte sie auch schlafen, wenn du schläfst.“

Ich muss trotz der Absurdität des Gesprächs lachen. „Fernbedienungen haben keine Gefühle.“

Die Gestalt neigt den Kopf leicht zur Seite, eine seltsam menschliche Geste für etwas so Ungreifbares. „Bist du dir da sicher? Woher weißt du, was ein Gegenstand fühlt oder nicht fühlt? Hast du je einen gefragt?“

Die Frage lässt mich innehalten. Natürlich habe ich noch nie einen Gegenstand gefragt, wie er sich fühlt. Wer würde so etwas tun?

„Du glaubst, meine Butter und meine Fernbedienung haben Gefühle?“, frage ich skeptisch.

„Ich glaube, dass alles eine eigene Art von Bewusstsein hat“, sagt die Gestalt. „Eine eigene Art zu sein. Und manchmal, wenn wir nicht aufpassen, erinnern uns die Dinge daran, dass sie mehr sind als nur Objekte.“

Die Tasse vor der Gestalt beginnt plötzlich zu schweben, erhebt sich etwa zehn Zentimeter über den Tisch. Ich starre sie an, unfähig zu begreifen, was ich sehe.

„Wie machst du das?“, flüstere ich.

„Ich mache gar nichts“, antwortet die Gestalt. „Die Tasse macht es selbst. Sie will höher sein, also ist sie es.“

Die Tasse schwebt nun langsam in meine Richtung und bleibt vor mir in der Luft hängen. Ich strecke zögernd die Hand aus und berühre sie. Sie fühlt sich warm an, real.

„Nimm sie“, sagt die Gestalt. „Sie möchte von dir gehalten werden.“

Mit zitternden Fingern greife ich nach der Tasse. Sie fühlt sich schwerer an, als sie aussieht, und ist gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit, die nicht ganz wie Kaffee oder Tee aussieht.

„Was ist das?“, frage ich und schaue in die Tasse.

„Erinnerungen“, sagt die Gestalt. „Deine und meine und die der Gegenstände um uns herum. Trink.“

Ich zögere, aber etwas in mir drängt mich, der Anweisung zu folgen. Ich führe die Tasse zu meinen Lippen und nehme einen kleinen Schluck. Die Flüssigkeit schmeckt wie nichts, was ich je zuvor probiert habe – süß und bitter zugleich, warm und kalt, vertraut und fremd.

Als die Flüssigkeit meine Kehle hinunterrinnt, beginnt der Raum um mich herum zu verschwimmen. Die Wände pulsieren stärker, die Farben werden intensiver. Die Gestalt mir gegenüber wird plötzlich schärfer, klarer, und ich erkenne…

Mich selbst. Aber nicht genau mich. Eine Version von mir, die älter aussieht, müder vielleicht, mit Augen, die mehr gesehen haben.

„Verstehst du jetzt?“, fragt mein anderes Ich.

„Ich… ich glaube nicht“, antworte ich verwirrt.

Mein anderes Ich lächelt sanft. „Die Dinge, die du verlierst, sind nie wirklich verloren. Sie finden nur ihren Weg zu dem Ort, an dem sie sein sollten. Manchmal ist das nicht der Ort, den du für sie bestimmt hast.“

Der Raum um uns herum beginnt sich zu drehen, langsam zuerst, dann immer schneller. Die Küche löst sich auf, die Wände fließen ineinander, und plötzlich befinden wir uns in einem völlig anderen Raum.

Es ist eine Art Lagerraum, vollgestopft mit Gegenständen. Ich erkenne einige davon sofort – mein alter Teddybär aus der Kindheit, ein Buch, das ich vor Jahren verloren habe, ein Schlüsselbund, den ich für immer verschwunden glaubte. Und zwischen all diesen Dingen steht ein kleiner Tisch, und auf diesem Tisch liegt die Butterpackung.

„Was ist das für ein Ort?“, frage ich, während ich mich langsam umdrehe, um alles zu betrachten.

„Das ist der Ort, an den die Dinge gehen, wenn sie nicht gefunden werden wollen“, erklärt mein anderes Ich. „Manchmal brauchen sie eine Pause von ihrer Existenz als Gebrauchsgegenstand. Manchmal wollen sie einfach nur woanders sein.“

Ich gehe zum Tisch und betrachte die Butterpackung. Sie sieht genauso aus wie die, die ich vermisst habe, aber irgendwie… glücklicher? Kann Butter glücklich aussehen?

„Warum zeigst du mir das?“, frage ich und drehe mich zu meinem anderen Ich um.

„Weil du es sehen musst“, antwortet es. „Weil du vergessen hast, dass es mehr gibt als das, was du siehst. Weil du aufgehört hast, die Welt als etwas Wundersames zu betrachten.“

Ich senke den Blick. Es stimmt. Wann habe ich zuletzt über etwas gestaunt? Wann habe ich zuletzt etwas gesehen und gedacht: Das ist magisch?

„Kann ich sie mitnehmen?“, frage ich und deute auf die Butter.

Mein anderes Ich lächelt wieder. „Du kannst versuchen, sie zu überreden. Aber sie muss mitkommen wollen.“

Ich blicke die Butterpackung an und fühle mich lächerlich. Wie überredet man Butter?

„Ähm, hallo“, sage ich leise. „Ich… ich würde dich gerne wieder mit nach Hause nehmen. Ich vermisse dich in meinem Kühlschrank.“

Die Butter bleibt regungslos liegen.

„Ich… ich verspreche auch, dich nicht immer im Kühlschrank zu lassen. Du kannst manchmal draußen sein. Auf der Anrichte oder… wo immer du sein möchtest.“

Für einen Moment glaube ich, ein leichtes Zittern in der Butterpackung zu sehen, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

„Ich wusste nicht, dass Gegenstände… Gefühle haben können“, fahre ich fort. „Dass sie Wünsche haben. Ich werde versuchen, darauf zu achten. Nicht nur bei dir, bei allen Dingen.“

Die Butterpackung beginnt zu leuchten, ein schwaches, goldenes Licht, das von innen zu kommen scheint. Sie hebt sich langsam vom Tisch ab und schwebt auf mich zu.

„Sie mag dich“, sagt mein anderes Ich. „Sie wird mit dir kommen.“

Ich strecke die Hände aus, und die Butterpackung lässt sich sanft hineinsinken. Sie fühlt sich warm an, fast wie ein kleines Lebewesen.

„Danke“, sage ich, sowohl zu der Butter als auch zu meinem anderen Ich.

Der Raum beginnt wieder zu verschwimmen, die Wände fließen, und ich spüre, wie mich eine große Müdigkeit überkommt. Das letzte, was ich sehe, bevor alles dunkel wird, ist das Lächeln meines anderen Ichs, warm und wissend.


Ich wache auf, als das Sonnenlicht durch die Vorhänge dringt und mir direkt ins Gesicht scheint. Für einen Moment liege ich einfach da, desorientiert, die Erinnerungen an den seltsamen Traum noch frisch in meinem Gedächtnis.

Hatte ich geträumt, dass ich mit mir selbst über die Gefühle von Butter gesprochen habe? Ich lache leise. Was für ein absurder Traum.

Ich setze mich auf und bemerke die Fernbedienung auf meinem Nachttisch. Richtig, die hatte ich gestern Abend im Bett gefunden. Seltsam, dass ich sie dorthin gelegt hatte.

Mit einem Gähnen stehe ich auf und schlurfe in die Küche. Der Boden ist kühl unter meinen nackten Füßen. Ich öffne den Kühlschrank, mehr aus Gewohnheit als aus Hunger, und erstarre.

Auf dem obersten Regal, genau dort, wo ich sie immer aufbewahre, steht die Butterpackung. Sie sieht genauso aus wie immer, nichts Besonderes an ihr.

Ich greife zögernd nach ihr und nehme sie heraus. Sie fühlt sich kühl an, normal.

„Warst du die ganze Zeit hier?“, frage ich leise und fühle mich sofort albern. Es ist nur eine Packung Butter, sie wird mir nicht antworten.

Aber als ich sie in den Händen halte, habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl, ein schwaches Pulsieren zu spüren, fast wie ein winziges Herz, das schlägt.

Ich lächle und stelle die Butter nicht zurück in den Kühlschrank, sondern auf die Anrichte neben dem Toaster. „Hier, atme ein bisschen“, sage ich und klopfe leicht auf die Packung. „Zumindest für eine Weile.“

Draußen beginnt es zu regnen, ein leichtes Trommeln gegen die Fensterscheiben. Ich setze Kaffee auf und beobachte, wie die Tropfen die Scheibe hinunterlaufen, jeder seinen eigenen Weg findend. Die Welt fühlt sich heute anders an, irgendwie lebendiger.

Ich öffne die Butterpackung und schneide ein Stück ab für mein Frühstücksbrot. Die Butter ist weich, genau richtig zum Streichen. Als ich das Messer in die goldene Masse gleiten lasse, glaube ich, für den Bruchteil einer Sekunde ein leises, zufriedenes Seufzen zu hören.

Aber das bilde ich mir natürlich nur ein. Oder?

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