As Time Goes By

Der namenlose Bahnhof

Ich wache auf in einem Zug. Weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin oder wohin er fährt. Das rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen hat etwas Beruhigendes. Draußen zieht Landschaft vorbei, die ich nicht kenne. Hügel, Felder, ab und zu ein einsames Haus. Ich habe keinen Ausweis dabei, kein Ticket, kein Geld. Nur die Kleidung, die ich trage.Der Schaffner wird mich rausschmeißen. Frage mich, an welcher Haltestelle. Frage mich, wo zum Teufel ich dann sein werde.Aber der Schaffner kommt nicht. Der Zug ist fast leer. Nur ein paar Sitze weiter sitzt ein Mann in einem altmodischen Anzug. Er starrt aus dem Fenster. Seine Finger klopfen einen unregelmäßigen Rhythmus auf seinen Aktenkoffer. Er sieht aus, als gehöre er in die 50er Jahre. Sein Haar ist mit Pomade zurückgekämmt, sein Schnurrbart perfekt getrimmt.Ein Tunnel verschluckt den Zug. Für ein paar Sekunden ist alles schwarz. Als wir wieder im Licht sind, hat sich die Landschaft völlig verändert. Statt grüner Hügel sehe ich jetzt eine Küste. Das Meer glitzert in der Sonne. Der Zug fährt auf Schienen, die direkt an der Klippe entlangführen. Ein falscher Schritt und man würde abstürzen.“Wunderschön, nicht wahr?“, sagt eine Stimme.Der Mann im Anzug ist jetzt neben mir. Hat sich umgesetzt, ohne dass ich es bemerkt habe. Aus der Nähe sehe ich, dass sein Gesicht eigenartig glatt ist. Keine Falten, keine Poren. Wie eine Maske.“Kennen Sie diese Strecke?“, frage ich.“Ich kenne alle Strecken“, antwortet er.Der Zug wird langsamer. Wir nähern uns einem Bahnhof. Ein kleines Gebäude aus weißem Stein mit roten Ziegeln. Kein Schild, das den Namen verrät.“Das ist Ihre Station“, sagt der Mann.“Woher wollen Sie das wissen?“, frage ich. „Ich weiß ja selbst nicht, wohin ich fahre.“Er lächelt. Seine Zähne sind zu weiß, zu gerade. „Gerade deswegen ist es Ihre Station.“Der Zug hält mit quietschenden Bremsen. Die Türen öffnen sich automatisch. Der Mann macht eine einladende Geste.“Nach Ihnen.“Ich stehe auf, unsicher. „Und mein Gepäck?““Sie haben keins“, sagt er mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreicht. „Noch nicht.“Ich steige aus. Die Luft ist warm, salzig. Meeresluft. Der Bahnhof ist menschenleer. Keine Angestellten, keine Reisenden. Nur leere Bänke.Als ich mich umdrehe, fährt der Zug gerade ab. Der Mann im Anzug winkt mir aus dem Fenster zu. Und dann ist der Zug weg, verschwindet hinter einer Kurve.Ich stehe allein auf dem Bahnsteig. Vor mir führt eine schmale Treppe hinunter. Keine andere Wahl als sie zu nehmen.Die Treppe mündet in eine kleine Straße. Kopfsteinpflaster, das in der Hitze flimmert. Links und rechts niedrige Häuser mit weißen Wänden und blauen Fensterläden. Keine Menschenseele zu sehen. Es ist seltsam still.Ich gehe die Straße hinunter. Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Die Häuser scheinen alle verlassen. Die Fensterläden sind geschlossen, als schützten sie sich vor der sengenden Sonne.Am Ende der Straße öffnet sich plötzlich der Blick aufs Meer. Eine kleine Bucht mit türkisfarbenem Wasser. Ein schmaler Strand, an dem ein einzelnes Fischerboot liegt. Daneben ein kleines Café. Das einzige Gebäude, das Lebenszeichen zeigt. Auf der Terrasse stehen Tische und Stühle, ein Sonnenschirm flattert leicht in der Brise.Ich gehe auf das Café zu. Als ich näher komme, sehe ich, dass an einem der Tische jemand sitzt. Eine Frau in einem weißen Kleid. Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen, da sie einen breiten Sonnenhut trägt.Sie blickt auf, als ich mich nähere. Ihr Gesicht ist schön, aber auf eine verstörende Art. Zu symmetrisch, zu perfekt. Ähnlich wie bei dem Mann im Zug.“Da sind Sie ja endlich“, sagt sie, als hätte sie auf mich gewartet. „Setzen Sie sich. Der Kaffee wird kalt.“Auf dem Tisch stehen tatsächlich zwei Tassen. Dampfender Kaffee in dickwandigen weißen Porzellantassen.“Kennen wir uns?“, frage ich, während ich mich setze.Sie lacht. Ein Geräusch wie Glasperlen, die auf Marmor fallen. „Nicht persönlich. Aber ich weiß, wer Sie sind.““Und wer bin ich?“, frage ich.“Der Träumer“, sagt sie einfach.Ich nehme einen Schluck vom Kaffee. Er schmeckt intensiv, bittersüß. Irgendwie vertraut, obwohl ich sicher bin, noch nie einen solchen Kaffee getrunken zu haben.“Wo bin ich hier?““An einem Ort zwischen den Orten“, antwortet sie. „An einem Ort zwischen den Zeiten. Das hier ist Cala Del Sueño.““Klingt spanisch“, sage ich.“Bucht des Traums“, übersetzt sie. „Ein passender Name, finden Sie nicht?“Ein Fischer erscheint am Strand. Ein alter Mann mit wettergegerbter Haut. Er zerrt sein Boot ins Wasser, steigt ein und rudert hinaus auf die spiegelglatte See.“Antonio geht jeden Tag fischen“, sagt die Frau. „Seit fünfzig Jahren. Immer zur selben Zeit, immer mit dem gleichen Boot. Er fängt immer den gleichen Fisch.““Das klingt… monoton.““Ist es auch“, seufzt sie. „Deswegen sind Sie hier.““Ich verstehe nicht.“Sie nippt an ihrem Kaffee. „Dieser Ort ist gefangen in einer Schleife. Jeden Tag das Gleiche. Die gleichen Menschen, die die gleichen Dinge tun. Die gleichen Worte sagen. Die gleichen Gedanken denken.““Wie in ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘?“, frage ich.Sie legt den Kopf schief. „In was?““Ein Film“, erkläre ich. „Über einen Mann, der denselben Tag immer wieder erlebt.““So ähnlich“, nickt sie. „Nur dass wir uns alle dessen bewusst sind. Wir wissen, dass wir gefangen sind. Wir können nichts daran ändern.““Und was habe ich damit zu tun?“Sie beugt sich vor. Ihre Augen sind grün wie das Meer an einem stürmischen Tag. „Sie können die Schleife brechen.“Ich lache ungläubig. „Wie soll ich das tun?“Statt zu antworten, greift sie in ihre Tasche und holt etwas heraus. Ein kleines, in Papier eingewickeltes Päckchen. Sie schiebt es über den Tisch zu mir.“Nehmen Sie das mit, wenn Sie gehen. Öffnen Sie es erst, wenn Sie wieder in Ihrem Bett aufwachen.““Wann gehe ich?““Bald“, sagt sie und schaut über meine Schulter.Ich drehe mich um. Der Mann aus dem Zug steht am Strand. Er winkt uns zu.“Ah, da ist er ja“, sagt die Frau. „Pünktlich wie immer.“Der Mann kommt auf uns zu. Sein Gang ist seltsam steif, als müsste er jede Bewegung bewusst kontrollieren.“Zeit zu gehen“, sagt er, als er am Tisch ankommt.“Er war gerade erst angekommen“, protestiert die Frau.“Regeln sind Regeln“, sagt der Mann unbewegt. „Niemand darf länger als eine Stunde bleiben.““Ich war noch keine Stunde hier“, sage ich.“Zeit ist relativ“, erwidert er mit einem dünnen Lächeln. „Besonders hier.“Er macht eine ungeduldige Geste. „Kommen Sie. Der nächste Zug fährt gleich.“Ich stehe widerwillig auf. Die Frau ergreift plötzlich meine Hand. Ihre Haut ist kühl und trocken.“Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe“, flüstert sie. „Öffnen Sie es erst, wenn Sie aufwachen.“Ich stecke das kleine Päckchen in meine Hosentasche und nicke ihr zu. Der Mann im Anzug führt mich zurück durch das verlassene Dorf, die Straße mit den weißen Häusern hinauf zum Bahnhof.Als wir ankommen, steht bereits ein Zug bereit. Anders als der, mit dem ich gekommen bin. Älter, mit Dampflok und Holzwaggons.“Zweiter Wagen von vorne“, sagt der Mann. „Platz am Fenster. Sie werden ihn nicht verfehlen.““Wohin fährt der Zug?“, frage ich.“Wohin glauben Sie denn?“, gibt er zurück.Ich steige ein. Der Wagen ist leer bis auf einen einzigen Passagier. Eine kleine, rundliche Frau mit Kopftuch, die einen Korb auf dem Schoß hält. Sie lächelt mir zu, als ich mich setze.“War es schön in Cala Del Sueño?“, fragt sie.“Woher wissen Sie, wo ich war?““Jeder, der mit diesem Zug fährt, besucht Cala Del Sueño“, sagt sie, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. „Es ist der einzige Halt auf dieser Strecke.““Und wohin fahren wir jetzt?““Nach Hause natürlich“, sagt sie und öffnet ihren Korb. „Möchten Sie eine Orange? Frisch gepflückt. Sie schmecken nach Sommer.“Ich nehme die Orange, die sie mir anbietet. Die Schale ist warm, als hätte sie gerade noch in der Sonne gehangen. Als ich sie schäle, strömt ein intensiver Duft aus, süß und frisch zugleich. Der Saft läuft mir über die Finger, als ich ein Stück abbreche. Es schmeckt tatsächlich nach Sommer — nach langen, warmen Tagen und lauen Nächten.Der Zug setzt sich in Bewegung. Langsam zunächst, dann immer schneller. Die Landschaft draußen verschwimmt, wird zu einem Strudel aus Farben.“Wer war die Frau im Café?“, frage ich die Frau mit dem Kopftuch.“Eine Träumerin, wie Sie“, antwortet sie. „Sie kam vor langer Zeit nach Cala Del Sueño und entschied sich zu bleiben.““Man kann dort bleiben?“Die Frau nickt. „Wenn man bereit ist, den Preis zu zahlen.““Welchen Preis?““Den gleichen Tag. Immer und immer wieder.“Ich denke über ihre Worte nach, während ich die Orange esse. Das kleine Päckchen in meiner Tasche scheint auf einmal schwerer zu sein.“Was hat sie mir gegeben?“, frage ich.Die Frau zuckt mit den Schultern. „Das ist zwischen ihr und Ihnen.“Der Zug wird schneller und schneller. Die Wände des Waggons beginnen zu vibrieren. Das Rattern der Räder wird zu einem einzigen, durchdringenden Ton.“Sie sollten sich festhalten“, sagt die Frau. „Die Heimreise ist immer etwas turbulent.“Kaum hat sie ausgesprochen, gibt es einen heftigen Ruck. Ich werde in meinen Sitz gedrückt. Der Zug scheint zu fallen, wie in einer Achterbahn. Mein Magen rebelliert. Ich kneife die Augen zusammen.Und dann, plötzlich, Stille.Ich öffne die Augen. Der Zug ist weg. Die Frau mit dem Kopftuch ist weg. Ich liege in meinem Bett, in meinem Zimmer. Das erste Licht des Tages fällt durch einen Spalt in den Vorhängen.Ein Traum. Nur ein Traum.Ich will mich umdrehen, weiterschlafen, als ich etwas in meiner Hand spüre. Etwas Kleines, in Papier Eingewickeltes. Ich öffne meine Handfläche und starre darauf. Das Päckchen aus dem Traum.Mit zitternden Fingern wickle ich es aus. Zum Vorschein kommt ein kleiner, glatter Stein. Türkisfarben wie das Wasser in der Bucht von Cala Del Sueño. Als ich ihn ins Licht halte, schimmert er in allen Farben.Und plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe.Ich stehe auf, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge auf. Die aufgehende Sonne taucht alles in goldenes Licht. Ein neuer Tag. Aber diesmal wird es anders sein. Diesmal werde ich nicht einfach den gleichen Trott durchlaufen wie immer.Der Stein in meiner Hand pulsiert warm, fast lebendig. Ich lasse ihn in meine Hosentasche gleiten und spüre, wie er sich dort anfühlt. Ein kleines Gewicht, eine ständige Erinnerung.Eine Erinnerung daran, dass ich die Schleife durchbrechen kann. In meinem eigenen Leben. Die tägliche Wiederholung, die Routine, die mich gefangen hält wie die Menschen in Cala Del Sueño.Ich dusche, ziehe mich an, packe meinen Rucksack. Heute nicht ins Büro, denke ich. Heute nehme ich mir frei. Fahre irgendwohin. Ans Meer vielleicht. Um nach einer Bucht zu suchen, die ich bisher nur im Traum gesehen habe.Denn irgendwo da draußen, so bin ich mir plötzlich sicher, gibt es tatsächlich einen Ort namens Cala Del Sueño. Und eine Frau in einem weißen Kleid, die auf mich wartet.Ich gehe zur Tür, drehe mich noch einmal um und betrachte meine Wohnung. Der Alltag, den ich hier lebe. Die immer gleichen Wege, die ich gehe. Die immer gleichen Gedanken, die ich denke.Zeit, auszubrechen.Ich greife nach dem Türknauf, zögere kurz. Dann öffne ich die Tür und trete hinaus in das goldene Licht des neuen Tages.

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