Der Atem der Geister

Der Wind war keine Brise, kein Luftzug, sondern ein keuchender Atem, der die Welt verschlang – schneidend, unbändig, undurchdringlich. Er riss die Oberfläche des Meeres auf, als wollte er es zerreißen, bloßlegen, ein Inneres hervorholen, das längst vergessen war: Salz, faulige Gischt, das süßlich-kranke Aroma von Verwesung, das nur das Wasser so mühelos konservieren konnte.
Ich stand auf Deck, oder vielleicht kniete ich, die Hände um das rostige Geländer geklammert, während der Himmel über mir in einem endlosen Schwärze-Unheil vibrierte. Eine Farbe, die es nicht gab, nicht geben durfte. Es war keine Nacht – es war der Raum zwischen den Sekunden, in dem die Zeit ihre Maske fallen ließ.
Das Schiff ächzte unter mir, ein sterbender Leviathan aus Holz, das längst jede Feuchtigkeit aufgesogen hatte, ein hungriger Kadaver, der sich dennoch gegen den Orkan aufbäumte. Jede Planke, jede geborstene Reling schrie, doch nicht vor Schmerz – es war ein Vorwurf, ein Vorbote. Der „Fliegende Holländer“ – ja, so hatte der Kapitän gelächelt, zynisch, nur eine alte Legende. Jetzt? Nur noch die Legende blieb; alles andere hatte sich längst aufgelöst.
Die Wellen türmten sich wie Monolithen, keine bloßen Bewegungen des Wassers, sondern Wesen, lebendig, voller Hass. Ihr Aufschlag auf den Bug war keine Reaktion auf den Sturm, sondern Absicht, ein gezielter Versuch, uns zu zermalmen. Und in jeder Welle, in jedem Schatten, glaubte ich Gesichter zu sehen – eingefroren im Schrecken, offene Münder, die niemals schrien.
„Was suchen sie hier?“ dachte ich, oder sprach ich es laut aus? Die Antwort war keine Worte, sondern ein Summen, eine Vibration tief in den Knochen, die mir das Gefühl gab, als wäre ich nie geboren worden, als sei mein Dasein nur ein Unfall, ein Fehler, der längst hätte korrigiert werden sollen.
Die Geister kamen in der Nacht. Nicht so, wie man es sich vorstellt – kein Nebel, kein Wimmern –, sondern wie eine Abwesenheit, die sich in die Anwesenheit fraß. Sie waren die Schatten zwischen den Schatten, die Lücken zwischen dem Knarzen des Holzes, den stillen Sekunden, in denen der Sturm den Atem anhielt. Ihre Stimmen? Eine Mischung aus Chor und Stille, ein Widerhall von Schreien, die nie verklangen.
Und dann – ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte – sah ich sie. Die Schiffe. Keine Silhouetten, keine Segel, keine Rümpfe, sondern Abbilder von Schiffen, Ideen von Schiffen, Schatten, die sich in die Dunkelheit bohrten. Der „Holländer“ war unter ihnen, das wusste ich, obwohl keines von ihnen je existiert hatte. Es war mehr als ein Mythos, mehr als eine Warnung – es war ein Mahnmal für alles, was je verloren ging.
Der Orkan brüllte auf, ein schmerzhaftes Aufheulen, das das Trommelfell zu zerreißen drohte, und das Meer antwortete mit einem Schrei, der tiefer war als alles Menschliche. Ich hielt mich fest, die Finger blutend, spürte die Splitter in meiner Haut, während die Wellen uns verschluckten, nicht sanft, sondern wie ein Tier, das endlich seine Beute erreichte.
Und doch, inmitten des Chaos, lachte ich. Nicht aus Freude, nicht aus Wahnsinn, sondern weil ich plötzlich begriff: Wir waren nie die Kapitäne, nie die Seeleute, nie die Reisenden. Wir waren die Geister, die Ruinen, die Abdrücke von Geschichten, die niemand mehr erzählte.
Die Dunkelheit legte sich wie ein Vorhang, und ich wusste, dass es keine Rolle spielte, ob ich die Augen schloss. Der Fliegende Holländer, das Meer, die Geister – sie waren immer da gewesen. Und sie würden bleiben, lange nachdem ich zu Staub geworden war.
Wann hatte das alles begonnen? Fragte ich mich erneut. Aber die Antwort war ebenso irrelevant wie ich selbst.