Das überhörte Gespräch

Meine Füße schmerzen. Hab heute schon zu viel gestanden, und jetzt sitz ich im Bus und spüre jeden einzelnen Schritt nach. Der 68er ist voll, wie immer um diese Zeit. Ich quetsche mich in eine Ecke hinten, zwischen einer alten Frau mit Einkaufstaschen und einem Typen, der nach Schweiß und billigem Aftershave riecht. Die Kombination lässt mich flach atmen.
Die Straßen sind nass vom Nachmittagsregen, und das Licht der untergehenden Sonne bricht sich in den Pfützen. Sieht fast schön aus. Fast. Wenn man nicht an die nassen Socken denkt, die ich mir heute früh geholt hab.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. Kühl. Angenehm. Draußen zieht die Stadt vorbei, grau und geschäftig. Leute hasten mit Regenschirmen unter die nächste Markise, steigen in Autos, verschwinden in Hauseingängen. Als ob sie alle ein Ziel hätten, einen Ort, an dem sie erwartet werden.
„Glaubst du’s mir jetzt oder nicht?“
Die Stimme kommt von rechts vorne. Eine Frau, Mitte dreißig vielleicht, Jeans, grüne Jacke, dunkle kurze Haare. Spricht zu einer anderen, die ich nur von hinten sehe. Blond, längere Haare, dunkelblaue Jacke. Ich würde nicht hinhören, aber die Stimme der ersten ist laut genug, dass es schwer ist, sie zu überhören.
„Ich schwör’s dir. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.“ Die Grünjacke gestikuliert wild. „Er stand einfach da, mitten in der Nacht, vor diesem alten Gebäude.“
Die Blonde lehnt sich zu ihr. „Und bist du sicher, dass er es war? Ich meine, es war dunkel, oder?“
„Natürlich war ich sicher. Glaubst du, ich erkenne ihn nicht? Nach allem?“
Ich versuche, wegzuhören, wirklich. Ist mir normalerweise egal, was andere reden. Aber irgendwas an der Art, wie die Grünjacke spricht – aufgeregt, fast verzweifelt – zieht mich rein. Die beiden sitzen zwei Reihen vor mir. Gerade nah genug, dass ich sie hören kann, gerade weit genug weg, dass es nicht auffällt, dass ich lausche.
„Und was hat er gemacht? Hat er dich gesehen?“ fragt die Blonde.
Die Grünjacke schüttelt den Kopf. „Nein. Ich stand hinter diesem Kiosk an der Ecke. Er hat nur… gewartet. Mit diesem Ausdruck, weißt du? Als ob er auf etwas lauert.“
Ich rutsche tiefer in meinen Sitz. Mein Handy vibriert in der Tasche, aber ich ignoriere es. Der Bus hält mit einem Ruck, Menschen steigen ein und aus. Ein Kind quengelt irgendwo vorne. Die Türen schließen sich wieder, der Bus ruckelt an.
„Aber verstehst du nicht, was das bedeutet?“ Die Stimme der Grünjacke wird leiser, dringlicher. Ich muss mich anstrengen, um sie zu verstehen. „Es ist genau wie in meinem Traum.“
Traum? Meine Ohren spitzen sich ungewollt. Hatte letzte Nacht selbst einen seltsamen Traum. Etwas mit einem alten Gebäude.
„Ach komm“, sagt die Blonde, „das ist Zufall. Träume sind Träume.“
„Nein, hör zu. Es war exakt der gleiche Ort. Die gleiche Straßenecke, das gleiche Gebäude mit den vernagelten Fenstern. Sogar die Uhrzeit stimmte. 2:17 Uhr.“
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. 2:17 Uhr. Dieselbe Zeit, zu der ich letzte Nacht aufgewacht bin, schweißgebadet, mit dem Bild eines alten, verlassenen Gebäudes vor Augen.
„Und was war in deinem Traum?“ Die Blonde klingt jetzt weniger skeptisch, mehr neugierig.
Die Grünjacke senkt die Stimme noch mehr, und ich beuge mich unwillkürlich vor. Fast hätte ich die Einkaufstasche der alten Frau umgestoßen, die mir daraufhin einen missbilligenden Blick zuwirft. Ich murmle eine Entschuldigung und tue so, als würde ich mein Handy checken.
„Im Traum“, sagt die Grünjacke, „stand ich vor dem Gebäude. Die Tür war offen, nur einen Spalt. Von drinnen kam Licht, so ein seltsames, bläuliches Leuchten. Und dann hörte ich diese Stimme…“
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Bläuliches Licht. Eine Stimme. Genau wie in meinem Traum.
„…sie sagte meinen Namen. Ganz leise, aber ich konnte sie trotzdem hören, klar wie Wasser. Und dann sagte sie: ‚Es wartet schon lange auf dich‘.“
Die Grünjacke macht eine Pause, schluckt sichtbar. „Und dann wachte ich auf. Mit diesem… Gefühl. Als ob jemand im Zimmer gewesen wäre.“
Ich starre auf mein Handydisplay, ohne es wirklich zu sehen. In meinem Traum hatte ich genau dasselbe gehört. Eine Stimme, die meinen Namen flüsterte, und dann diese Worte: „Es wartet schon lange auf dich.“ Ich hatte es vergessen, bis jetzt.
Die Blonde schweigt einen Moment. „Und du glaubst, dass er etwas damit zu tun hat? Mit deinem Traum?“
„Ich weiß es nicht. Aber es kann kein Zufall sein, dass er genau dort stand, oder? Genau an dem Ort aus meinem Traum?“
Ich muss jetzt aussteigen, meine Haltestelle ist die nächste. Aber ich will mehr hören. Will wissen, ob sie noch mehr Details teilt, die mit meinem Traum übereinstimmen. Die alte Frau neben mir sammelt ihre Taschen zusammen, und ich erkenne, dass sie auch aussteigen muss. Widerwillig stehe ich auf, mache ihr Platz.
Der Bus hält an. Die Türen öffnen sich mit einem Zischen. Die alte Frau drängt sich an mir vorbei, und ich folge ihr langsam, immer noch lauschend.
„Ich glaube, ich sollte hingehen“, höre ich die Grünjacke sagen. „Heute Nacht. Ich muss wissen, was es bedeutet.“
Die Blonde greift nach ihrem Arm. „Bist du verrückt? Du kannst nicht einfach mitten in der Nacht zu einem verlassenen Gebäude gehen!“
Ich bin fast an der Tür. Gleich bin ich draußen, und ich werde nie erfahren, worum es geht. Ob es wirklich eine Verbindung zu meinem Traum gibt.
„Ich muss“, sagt die Grünjacke entschlossen. „Eisenbahnstraße 17. Um 2 Uhr.“
Eisenbahnstraße 17. Der Name trifft mich wie ein Schlag. Das ist die Adresse, die ich in meinem Traum gesehen habe, auf einem verwitterten Schild neben der Tür. Ich drehe mich um, will zurück, will sie ansprechen. Aber die Menge drängt mich nach draußen, und ich stolpere auf den Gehweg.
Als ich mich wieder fange und zurückblicke, fährt der Bus bereits weiter. Ich stehe da, im Nieselregen, mit dem Echo ihrer Worte in meinem Kopf.
Eisenbahnstraße 17. Um 2 Uhr.
Ich weiß, was ich heute Nacht tun werde.
Der Tag zieht sich wie Kaugummi. Ich gehe zur Arbeit, sortiere Akten, spreche mit Kollegen, esse ein Sandwich zum Mittag. Aber meine Gedanken kreisen um das Gespräch im Bus. Um die unheimliche Übereinstimmung mit meinem eigenen Traum.
Es gibt eine Eisenbahnstraße in dieser Stadt, das weiß ich. Im alten Industrieviertel, wo früher der Güterbahnhof war. Ich bin nie dort gewesen, aber ich habe davon gehört. Ein Viertel im Umbruch, halb verfallen, halb hipster-renoviert.
Als ich nach der Arbeit nach Hause komme, google ich die Adresse. Eisenbahnstraße 17 ist ein altes Lagerhaus, seit Jahren leer stehend. Es gibt Pläne, es in Loftwohnungen umzubauen, aber bisher ist nichts passiert. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, eine Backsteinfassade aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die Fenster sind tatsächlich vernagelt, genau wie die Frau im Bus gesagt hat.
Ich starre auf die Bilder auf meinem Bildschirm. Ja, das ist das Gebäude aus meinem Traum. Jeder Stein, jede Ecke, selbst das schmiedeeiserne Geländer vor dem Eingang – alles stimmt überein. Aber wie kann das sein? Ich war nie dort. Ich habe noch nie ein Foto davon gesehen, bis jetzt.
Als es dunkel wird, versuche ich zu schlafen. Ich sollte ausgeruht sein, wenn ich um 2 Uhr nachts zu einem verlassenen Gebäude gehe. Aber der Schlaf will nicht kommen. Ich wälze mich hin und her, starre an die Decke. Gegen Mitternacht gebe ich auf.
Ich ziehe mich an, warm und dunkel. Schwarze Jeans, schwarzer Pullover, dunkle Jacke. Als ob das mich irgendwie schützen könnte vor… ja, vor was eigentlich? Vor einer Traumgestalt? Vor einer Frau in grüner Jacke, die zufällig denselben Traum hatte wie ich?
Es ist Wahnsinn, mitten in der Nacht dorthin zu gehen. Ich weiß das. Aber ich muss es tun. Die Neugier frisst mich auf. Oder ist es mehr als Neugier? Ist es dieses seltsame Gefühl des Gezogenwerdens, das ich seit dem Aufwachen aus meinem Traum spüre?
Die Straßen sind leer, als ich losgehe. Ein leichter Nebel hat sich gebildet, verwischt die Konturen der Straßenlaternen, lässt sie in gespenstischen Kreisen leuchten. Meine Schritte hallen auf dem Pflaster wider. Ich fühle mich beobachtet, drehe mich immer wieder um. Aber da ist niemand.
Das Industrieviertel ist ein Schatten seiner selbst. Alte Fabrikgebäude stehen neben leeren Grundstücken. Hier und da ein renoviertes Gebäude, in dem jetzt ein Designbüro oder ein trendiges Café untergebracht ist. Aber um diese Zeit ist alles geschlossen, verlassen.
Die Eisenbahnstraße ist leicht zu finden. Eine lange, gerade Straße, die parallel zu den alten Gleisen verläuft. Die Hausnummern steigen langsam an. 9… 11… 13… 15…
Dann stehe ich davor. Eisenbahnstraße 17. Ein massives Backsteingebäude, vier Stockwerke hoch, mit hohen Fenstern, die mit Sperrholzplatten vernagelt sind. Die Eingangstür ist schwer, aus dunklem Holz, mit einem verblichenen Messinggriff. Genau wie in meinem Traum.
Mein Herz rast. Es ist 1:55 Uhr. Fast Zeit. Ich ziehe mich in den Schatten eines gegenüberliegenden Hauseingangs zurück und warte. Wird sie kommen, die Frau aus dem Bus? Oder war das alles nur ein seltsamer Zufall?
Um 2:05 Uhr höre ich Schritte. Langsam, zögernd. Aus dem Nebel taucht eine Gestalt auf. Grüne Jacke. Sie ist es. Sie bleibt vor dem Gebäude stehen, schaut sich um, nervös. Dann geht sie zur Tür, berührt vorsichtig den Griff.
Ich halte den Atem an. Soll ich mich zeigen? Oder weiter beobachten?
Die Entscheidung wird mir abgenommen. Die Tür öffnet sich unter ihrer Berührung, einen Spalt weit. Und dahinter… ein schwaches, bläuliches Licht. Genau wie in unserem Traum.
Die Frau zögert, dann schiebt sie die Tür weiter auf und geht hinein.
Ich stehe wie erstarrt da. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Und doch habe ich es gerade mit eigenen Augen gesehen.
Bevor ich weiß, was ich tue, bin ich auf der Straße, laufe zum Eingang. Die Tür steht noch einen Spalt offen. Dahinter flackert das bläuliche Licht. Ein leises Summen dringt an meine Ohren, wie von elektrischen Leitungen.
Ich schiebe die Tür auf und trete ein.
Der Raum dahinter ist riesig, ein ehemaliger Lagerraum mit hoher Decke und Betonboden. Aber er ist nicht leer, wie ich erwartet hatte. In der Mitte des Raumes steht eine Art… Gerät. Etwas, das aussieht wie eine Mischung aus einem alten Filmprojektor und einem medizinischen Scanner. Es ist die Quelle des bläulichen Lichts, das in pulsierenden Wellen von ihm ausgeht.
Und davor steht sie, die Frau aus dem Bus, erstarrt, mit offenem Mund.
„Wer sind Sie?“ Ihre Stimme zittert. „Warum folgen Sie mir?“
Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Ich war im Bus. Ich habe Ihr Gespräch gehört. Über den Traum.“
Sie starrt mich an, nicht verstehend.
„Ich hatte denselben Traum“, sage ich. „Das blaue Licht. Die Stimme, die meinen Namen ruft. ‚Es wartet schon lange auf dich.‘ Alles genau gleich.“
Ihre Augen weiten sich. „Das… das ist unmöglich.“
„Ich weiß. Und doch stehen wir beide hier.“
Ein Geräusch vom Gerät lenkt unsere Aufmerksamkeit ab. Es summt lauter, das Licht wird intensiver. Und dann spricht es. Eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen scheint, klar und doch irgendwie nicht ganz menschlich.
„Ihr seid gekommen. Endlich.“
Wir weichen beide zurück. Ich fühle, wie sich die Haare in meinem Nacken aufstellen.
„Was bist du?“ Die Frau findet zuerst ihre Stimme wieder.
„Ein Bote“, antwortet das Gerät. „Ein Sender. Ein Empfänger. Aus einer anderen Zeit.“
„Was willst du von uns?“ Meine Stimme klingt fremd in meinen eigenen Ohren.
„Eure Hilfe.“ Das blaue Licht pulsiert im Rhythmus der Worte. „Wir sind in Gefahr. Unsere Welt steht am Abgrund. Wir haben einen Weg gefunden, durch Träume zu kommunizieren, durch die Zeitlinien hindurch. Um Hilfe zu suchen.“
Ich schaue zu der Frau hinüber. Sie ist blass, aber ihre Augen sind fest auf das Gerät gerichtet. „Warum wir?“
„Ihr seid empfänglich. Offen. Eure Gehirnwellen resonieren mit unseren Signalen.“ Eine Pause. „Und ihr seid mutig. Ihr seid gekommen, als wir riefen.“
„Und was sollen wir tun?“ frage ich.
Das Gerät summt, das Licht flackert. „Lernen. Verstehen. Dann entscheiden.“
Mit einem Mal breitet sich das blaue Licht aus, umhüllt uns. Ich spüre, wie mein Körper leicht wird, schwerelos. Neben mir schwebt die Frau, ihre Augen weit, aber nicht mehr ängstlich. Eher… neugierig. Wie meine eigenen.
Und dann beginnen die Bilder zu kommen. Eine Welt, nicht unähnlich unserer eigenen, aber fortgeschrittener. Städte, die sich in den Himmel erstrecken. Menschen, die mit Maschinen verschmelzen. Und eine Bedrohung, dunkel und formlos, die an den Rändern dieser Zivilisation nagt.
Informationen fluten meinen Geist, Wissen, das nicht meines ist. Ich sehe Gleichungen, Theorien, Technologien. Verstehe Dinge, die ich nie studiert habe. Neben mir weiß ich, dass die Frau dasselbe erlebt.
Es ist überwältigend, aber nicht schmerzhaft. Eher wie ein Rausch, ein Hochgefühl des Verstehens.
Und dann, genauso plötzlich, wie es begonnen hat, ist es vorbei. Das Licht zieht sich zurück, wir sinken sanft zu Boden.
Wir stehen da, atemlos, verändert. In meinem Kopf wirbeln die neuen Erkenntnisse, ordnen sich, werden Teil von mir.
„Hast du das…?“ beginnt sie.
Ich nicke. „Ja. Alles.“
Wir verstehen jetzt. Was von uns verlangt wird. Warum wir ausgewählt wurden. Die Verantwortung, die auf unseren Schultern liegt.
„Werden wir es tun?“ fragt sie.
Ich schaue sie an, wirklich an. Ihre Augen sind klar, entschlossen. In diesem Moment fühlt es sich an, als würde ich sie seit Jahren kennen, nicht erst seit Minuten.
„Ja“, sage ich. „Ich denke schon.“
Sie nickt, ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. „Ich auch.“
Als wir das Gebäude verlassen, ist der Nebel verschwunden. Der Himmel klart auf, und am Horizont zeigt sich ein erster Streifen Morgendämmerung.
Ein neuer Tag. Ein Anfang.
Wir gehen Seite an Seite die Straße hinunter, schweigend, aber in Einklang. Der Traum hat uns zusammengebracht, aber was vor uns liegt, ist Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die wir von nun an teilen werden.
Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Ich weiß nur, dass sie anders sein wird als alles, was ich mir je vorgestellt habe. Und irgendwie bin ich bereit dafür.
Hinter uns bleibt das alte Gebäude zurück, still und unscheinbar im frühen Morgenlicht. Ein gewöhnliches, verlassenes Lagerhaus. Niemand, der vorbeigeht, würde vermuten, was sich darin verbirgt. Welche Verbindung zu einer anderen Welt, einer anderen Zeit.
Aber wir wissen es. Und das ändert alles.