Das tote Korallenmeer

Die Boote dümpeln träge in der Bucht, als hätten sie aufgegeben, irgendwohin zu wollen. Das Wasser ist flach und glasig, aber darunter liegt ein Friedhof aus weißen Skeletten – Korallen, die einmal lebendig waren, jetzt aber nur noch bleiche Überreste ihrer selbst. Früher gab es hier Farben. Rot, Orange, Violett – eine Unterwasserwelt, die so lebendig war, dass man sich wie ein Eindringling fühlte. Jetzt ist alles still. Tot. Selbst die Wellen scheinen nicht mehr zu atmen.

Das Klacken von Plastikflaschen gegen die Bordwand ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht. Wir haben versucht, sie zu sammeln, aber es sind zu viele. Sie treiben in Strömen, wie Treibgut aus einer anderen Welt. Eine Welt, die wir zerstört haben.

Ein Kind sitzt am Bug des Bootes, die Beine über die Kante baumelnd. Seine Hände tauchen ins Wasser, greifen nach etwas. Ein Seestern. Er hebt ihn vorsichtig hoch, als wäre er ein Schatz, doch sobald seine Finger ihn berühren, beginnt der Seestern zu zerbröckeln. Die Fragmente rieseln wie Asche zurück ins Wasser, wo sie sofort versinken.

„Warum stirbt alles?“, fragt das Kind, ohne mich anzusehen.

Ich habe keine Antwort. Wie könnte ich? Ich starre auf meine eigenen Hände, die rissig und salzverkrustet sind. Jeder Tag auf diesem Meer fühlt sich an wie ein weiterer Nagel im Sarg der Welt.

„Vielleicht stirbt es nicht“, sage ich schließlich, weil ich etwas sagen muss. „Vielleicht versteckt es sich.“

Das Kind sieht mich an, seine Augen groß und dunkel wie die Tiefen des Ozeans. „Vor uns?“

Ich nicke langsam. „Vor uns.“

Der Wind weht sanft über das Wasser, aber er bringt keine Erleichterung. Die Luft ist schwer und salzig, und sie schmeckt nach Verlust. Ich ziehe die Plane über dem Heck zur Seite und sehe die letzten Reste unserer Vorräte: ein halbleerer Kanister Trinkwasser, ein paar Dosen mit Fisch, deren Etiketten längst abgeblättert sind, und ein Netz voller Muscheln, deren Innereien austrocknen. Wir haben gelernt, mit wenig auszukommen, aber selbst das Wenige wird bald verschwunden sein.

„Wir sollten weiterfahren“, sagt jemand hinter mir. Es ist Mara, ihre Stimme heiser vom Salzwasser und zu vielen schlaflosen Nächten. „Hier gibt es nichts mehr für uns.“

„Wo sollen wir hin?“, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. Nirgendwohin. Die Karten zeigen nur noch leere Flecken, wo früher Inseln waren. Die Strömungen haben sich verändert, die Meere sind wärmer geworden, und die Fische sind fort.

Mara zuckt mit den Schultern. „Irgendwohin. Irgendetwas wird übrig sein.“

Ich will ihr glauben, aber ich kann nicht. Der Ozean hat uns schon lange aufgegeben.

Das Kind steht plötzlich auf und zeigt auf etwas im Wasser. „Da!“

Ich folge seinem Finger und sehe es – eine Bewegung unter der Oberfläche. Etwas Großes. Für einen Moment hoffe ich, dass es ein Fisch ist, vielleicht sogar ein Hai. Alles, was bewegt, ist besser als diese stille Leere.

Aber dann taucht es auf.

Es ist kein Fisch. Es ist ein Stück Treibholz, bedeckt mit Plastikmüll, das von der Strömung herangeschoben wurde. Darin verheddert liegt der Kadaver eines Seevogels, dessen Federn stumpf und verklebt sind. Seine Augen sind weit aufgerissen, als hätte er bis zum Schluss nicht verstanden, warum er sterben musste.

Das Kind setzt sich wieder hin, seine Schultern sinken nach unten.

„Wir sollten gehen“, sagt Mara noch einmal, diesmal lauter.

Ich nicke und starte den Motor, der hustend zum Leben erwacht. Die Boote gleiten langsam vorwärts, weg von der Bucht und ihren toten Korallen. Aber egal, wie weit wir fahren, das Meer bleibt dasselbe – leer, still, tot.

Als wir den Horizont erreichen, bemerke ich etwas Seltsames. Das Wasser wird dunkler, fast schwarz. Und dann sehe ich die Blasen. Hunderte von ihnen steigen aus der Tiefe auf, wie ein Atemzug aus einem vergessenen Grab.

„Was ist das?“, fragt das Kind, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Ich weiß es nicht. Aber ich spüre, wie sich etwas in meinem Magen zusammenzieht, als würde der Ozean uns warnen.

Und dann hören wir es – ein tiefes Grollen, das aus den Tiefen kommt.


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