Das letzte Kraftwerk

Die Kontrollleuchten flackern im Takt der Erdbeben. Ein stetes, nervöses Blinken, das sich wie ein Herzschlag durch den Raum zieht. Rot, Grün, Rot, Grün. Manchmal frage ich mich, ob der Reaktor noch lebt oder bereits stirbt – ob diese Lichter sein letztes Aufbäumen sind, bevor er uns im Stich lässt. Wir wachen in Schichten über ihn, als wäre er ein sterbender Verwandter, den wir nicht allein lassen können. Vielleicht ist er das auch. Ohne ihn gibt es kein Licht, keine Wärme, keine Zukunft.
Ich sitze auf einem Metallstuhl, dessen Beine längst rostig sind, und starre auf die Anzeigen. Die Zahlen ändern sich kaum noch, aber ich notiere sie trotzdem in ein altes Notizbuch, das ich aus den Ruinen eines Büros gerettet habe. Es fühlt sich an, als würde ich eine Geschichte schreiben, die niemand mehr lesen wird.
Draußen heulen die Stürme. Sie klingen wie Geister, die durch die zerfallenen Städte streifen und nach Überlebenden suchen. Meine Vorfahren nannten sie „Klimaflüchtlinge“, weil sie Menschen vor sich hertrieben, bis es keinen Ort mehr gab, an den sie fliehen konnten. Jetzt sind die Stürme alles, was übrig ist. Sie fegen über die Erde wie eine unerbittliche Armee, die jeden Rest von Leben auslöschen will.
„Es wird nie besser“, sagt mein Bruder Elias, der plötzlich hinter mir steht. Seine Stimme ist tonlos, als hätte er aufgehört, daran zu glauben, dass Worte überhaupt noch Bedeutung haben.
Ich drehe mich nicht um. „Vielleicht nicht.“
„Nicht vielleicht. Sicher.“
Ich seufze und lege den Stift zur Seite. „Was willst du von mir, Elias? Dass ich sage, wir sollten aufgeben?“
Er antwortet nicht sofort. Stattdessen stellt er sich neben mich und starrt auf die Kontrollleuchten. Seine Augen sind leer, seine Haut grau vor Müdigkeit. Er hat seit Tagen nicht geschlafen, genau wie ich. Keiner von uns kann schlafen. Nicht hier. Nicht, solange der Reaktor noch läuft.
„Ich will nur, dass du realistisch bist“, sagt er schließlich. „Dieser Ort hier… er ist nicht unser Zuhause. Er ist ein Grab.“
Ich will widersprechen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er hat recht. Das Kraftwerk ist kein Zufluchtsort. Es ist eine Falle, genau wie alles andere in dieser Welt. Wir klammern uns an die letzten Reste einer Technologie, die wir selbst zerstört haben, während die Natur sich zurückholt, was ihr gehört.
Das Erdbeben wird stärker. Der Boden unter uns vibriert, und die Leuchtanzeigen tanzen wild hin und her. Ich halte mich an der Kante des Schaltpults fest, während mein Herz schneller schlägt.
„Siehst du?“, sagt Elias. „Selbst die Erde will uns nicht mehr.“
Ich will etwas sagen, aber dann höre ich es – ein lautes Knirschen, gefolgt von einem metallischen Ächzen. Es kommt von oben, aus dem Turm des Kraftwerks.
„Was war das?“, frage ich, obwohl ich die Antwort schon kenne.
Elias sieht mich an, und in seinen Augen liegt eine Mischung aus Angst und Resignation. „Der Turm. Er bricht zusammen.“
Wir rennen nach draußen, die Treppen hinauf, bis wir den Ausgang erreichen. Der Wind schlägt uns entgegen wie eine Faust, reißt an unserer Kleidung und treibt Sand in unsere Augen. Der Turm ragt vor uns auf, seine Spitze verbogen und rissig. Er sieht aus, als würde er jeden Moment umkippen.
„Wir müssen runter“, sagt Elias. „Wenn er fällt, wird er das ganze Kraftwerk mitreißen.“
Ich nicke, aber meine Füße bewegen sich nicht. Ich starre auf den Turm, auf die Funken, die aus den oberen Etagen sprühen, und frage mich, wie lange wir noch davonlaufen können.
Dann höre ich ein weiteres Geräusch – ein tiefes Grollen, das aus dem Inneren des Kraftwerks kommt. Die Erde unter uns bebt stärker, und ich spüre, wie der Boden nachgibt.
„Jetzt!“, schreit Elias und packt meinen Arm.
Wir rennen los, so schnell wir können, während hinter uns der Turm langsam in sich zusammenfällt. Das Donnern ist ohrenbetäubend, und eine Staubwolke jagt uns, als würde sie uns verschlingen wollen.
Als wir endlich stehen bleiben, keuche ich vor Erschöpfung. Der Turm ist verschwunden, begraben unter Tonnen von Beton und Stahl. Das Kraftwerk ist still.
„Und jetzt?“, frage ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Elias sieht mich an, seine Augen voller Tränen. „Jetzt ist es vorbei.“