Das Haus mit den hundert Augen

Es beginnt mit einem Irrlicht, kaum größer als eine Flamme, die durch die Dämmerung tanzt. Der Träumende folgt ihm – nicht aus Neugier, sondern weil etwas an seiner Bewegung unwiderstehlich ist. Es führt ihn durch einen Nebel, der so dicht ist, dass selbst die Zeit darin verschwindet. Und dann steht er plötzlich davor: ein Haus, das keinem Ort, keiner Epoche zu gehören scheint.
Die Mauern sind aus Stein, doch sie atmen, zucken, vibrieren, als wären sie aus Fleisch. Fenster gibt es keine, nur ein unheimliches Muster aus Rissen und Öffnungen, die wie zufällige Wunden wirken – oder wie Augen.
Die Schwelle – ein Blick in die Seele
Der Träumende zögert vor der Tür, die weit offen steht, als hätte sie ihn erwartet. Ein kaltes Flüstern strömt heraus, das keine Worte formt, aber dennoch verständlich ist: Komm.
Er tritt ein, und sofort schließt sich die Tür hinter ihm. Dunkelheit umfängt ihn, doch es ist keine gewöhnliche Dunkelheit. Es ist ein fühlbares, sehendes Nichts, durchdrungen von einem Bewusstsein, das ihm die Haare im Nacken aufstellen lässt.
Und dann beginnen die Wände zu leuchten. Nicht mit Licht, sondern mit Augen. Hunderte, vielleicht tausende Augen öffnen sich, groß und klein, blau, grün, braun, manche menschenähnlich, andere reptilienhaft. Sie alle blicken auf ihn, starren in ihn hinein, bis er das Gefühl hat, nackt und durchscheinend zu sein.
Ein Labyrinth ohne Ausweg
Das Haus ist ein Labyrinth. Jeder Raum führt zu einem neuen, jedes Ende ist ein neuer Anfang. Türen öffnen sich zu Fluren, die sich in unzählige Richtungen verzweigen, Treppen führen aufwärts, nur um den Träumenden tiefer hinabzuziehen. Die Wände bewegen sich, ihre Augen folgen ihm mit einer Präsenz, die so intensiv ist, dass sie wie Berührungen wirken.
Manchmal hört der Träumende Stimmen, die von den Wänden zu kommen scheinen – flüsternd, lachend, weinend. Sie sprechen in Sprachen, die er nicht kennt, und doch versteht er sie. „Warum bist du hier?“ fragen sie. „Was suchst du?“
Er will antworten, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Stattdessen spürt er, wie das Haus seine Gedanken liest, sie zerrt, dreht, zerpflückt. Seine Erinnerungen tauchen vor ihm auf, projiziert auf die Wände wie Schatten: ein Kind, das allein auf einer Schaukel sitzt; eine zerbrochene Uhr; ein Gesicht, das er liebt, doch dessen Name ihm entfallen ist.
Die Macht der Augen
Die Augen werden unruhig. Einige flackern wie Flammen, andere schließen sich und öffnen sich an anderer Stelle. Der Träumende erkennt, dass die Augen nicht nur sehen, sondern auch zeigen. Sie spiegeln nicht nur seine Ängste, sondern auch seine Wünsche, seine verdrängten Träume und seine unausgesprochenen Wahrheiten.
In einem der Räume sieht er sich selbst stehen, doch anders: jünger, sorgloser. Das Abbild lächelt ihn an, ein Lächeln, das zugleich vertraut und unerreichbar ist. Er will näher treten, doch die Wände verschieben sich, und das Bild verschwindet.
In einem anderen Raum sieht er die Augen nicht mehr, sondern Hände, die aus den Wänden greifen, als wollten sie ihn umarmen – oder festhalten. Er rennt, doch das Labyrinth bleibt unendlich.
Das Herz des Hauses
Schließlich erreicht er einen Raum, der sich von allen anderen unterscheidet. Er ist rund, und die Wände sind glatt, ohne Augen, ohne Öffnungen. In der Mitte steht ein Podest, darauf eine Schale, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit.
Die Stimme kehrt zurück, klarer denn je: „Trink.“
Der Träumende zögert. Doch das Haus scheint sich zu verengen, als würde es ihn zu dieser einen Handlung zwingen. Er greift nach der Schale, spürt die Kälte der Flüssigkeit, die sich fast lebendig anfühlt.
Als er trinkt, durchströmt ihn eine Welle aus Bildern, Erinnerungen, Gefühlen – seine eigenen, aber auch die von anderen. Er sieht das Haus, wie es war, als es noch keine Augen hatte, nur leere Wände. Er sieht Menschen, die kamen, suchten, verloren gingen. Er sieht, wie das Haus wächst, lebt, sich ernährt – von den Gedanken und Geheimnissen derer, die es betreten.
Die Wahrheit der Augen
Er erkennt die Wahrheit: Das Haus ist ein Spiegel. Es zeigt nicht, was ist, sondern was im Verborgenen liegt. Es ist ein Archiv der Seelen, ein lebendiges Buch aus Blicken und Erinnerungen. Jeder, der eintritt, hinterlässt einen Teil von sich – und nimmt einen Teil des Hauses mit hinaus.
Als er erwacht, liegt er vor dem Haus, dessen Tür nun fest verschlossen ist. Die Augen sind verschwunden, doch er fühlt sie immer noch, als hätten sie sich in ihn eingebrannt.
Er weiß, dass er das Haus nie wirklich verlassen wird. Es lebt in ihm weiter, in jedem Blick, den er auf andere wirft, in jedem Gedanken, den er zu verbergen sucht.