
Die Stadt, die nicht meine ist
Ich gehe durch die Stadt, die nicht meine ist, aber irgendwie auch doch. Die Straßen sind breiter als gewöhnlich, und die Häuser scheinen in ungewohnten Winkeln zueinander zu stehen. Es regnet nicht, aber der Himmel droht damit. Ein grauer, schwerer Himmel, der auf die Dächer drückt wie ein nasser Lappen. Mein Hemd klebt an meinem Rücken, obwohl es nicht heiß ist.
Die Leute um mich herum gehen eilig, als wären sie auf der Flucht vor etwas. Ich bemerke, dass ich der Einzige bin, der keine Aktentasche trägt. Komisch. Ich verlangsame meinen Schritt und betrachte die Schaufenster. In einem sind Puppen ausgestellt, die alle in die gleiche Richtung schauen. Nicht zur Straße hin, sondern zur Seite, als wäre dort etwas, das ich nicht sehen kann.
Der Asphalt unter meinen Füßen ist weicher als er sein sollte. Bei jedem Schritt gibt er leicht nach, als würde ich auf einem riesigen Schwamm laufen. Das Geräusch meiner Schritte klingt gedämpft, fast verschluckt. In der Ferne höre ich eine Kirchenglocke schlagen, aber sie schlägt nicht im Rhythmus einer normalen Uhr. Drei Schläge, dann fünf, dann wieder zwei. Als würde die Zeit hier anderen Regeln folgen.
Die Frau mit der Brille ohne Gläser
„Sie können das nicht tragen“, sagt eine Frau neben mir. Sie trägt ein blaues Kostüm und hat Haare, die wie ein Helm auf ihrem Kopf sitzen.
„Was meinen Sie?“, frage ich.
„Diesen Ausdruck in Ihrem Gesicht. Er passt nicht hierher.“
Ich checke mein Gesicht mit den Fingerspitzen ab. Es fühlt sich an wie immer. „Was stimmt nicht damit?“
„Es ist zu offen.“ Sie rückt ihre Brille zurecht, die keine Gläser hat. „Hier schaut man nicht so. Man schaut zielgerichtet.“
Ein Mann stößt mich im Vorbeigehen an, murmelt keine Entschuldigung. Seine Aktentasche streift mein Bein, und ich spüre, dass sie schwer ist. Nicht mit Papieren gefüllt, sondern mit etwas Dichterem.
Die Frau beobachtet mich weiter, als würde sie auf etwas warten. Ihre Brille ohne Gläser reflektiert trotzdem das Licht, wirft kleine Regenbogen auf ihr Gesicht. „Sie gehören nicht hierher“, sagt sie schließlich. „Das sieht man sofort.“
„Wo gehöre ich denn hin?“, frage ich, aber sie ist schon dabei wegzugehen.
„Das werden Sie schon merken“, ruft sie über die Schulter zurück. „Wenn Sie den richtigen Umweg nehmen.“
Der Termin um drei
„Ich muss irgendwo hin“, sage ich zu der Frau, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das stimmt. „Ich glaube, ich habe einen Termin.“
„Natürlich haben Sie den.“ Sie nickt wissend. „Der Termin ist um drei. Sie sind schon spät dran.“
Ich habe keine Uhr, aber plötzlich weiß ich, dass es stimmt. Ich bin spät dran. Das Gefühl sitzt mir im Magen wie ein kalter Stein. Meine Handflächen werden feucht, obwohl ich nicht weiß, wovor ich Angst haben sollte.
„Wo muss ich hin?“
„Das wissen Sie doch.“ Sie deutet die Straße hinunter. „Den Umweg nehmen. Nicht die Hauptstraße. Die ist blockiert.“
„Was blockiert sie?“
„Die Zeit“, sagt sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Um diese Tageszeit staut sich dort immer die Zeit.“
Ich nicke, als würde ich verstehen, und beginne zu gehen. Nach ein paar Schritten drehe ich mich um, aber die Frau ist verschwunden. An ihrer Stelle steht ein Straßenschild, das ich vorher nicht bemerkt habe. Es zeigt in drei Richtungen, aber auf allen steht dasselbe: „Umweg“.
Das Schild ist alt, der Lack blättert ab. Aber die Wörter sind frisch gemalt, die Farbe noch nicht ganz trocken. Ein Tropfen weißer Farbe läuft langsam an dem mittleren Pfeil herunter.
Die Seitenstraße und der Mann mit der Zeitung
Die Seitenstraße, in die ich einbiege, ist schmaler und dunkler. Die Luft riecht nach nassem Asphalt, obwohl es nicht geregnet hat. Es gibt hier keine Menschen mit Aktentaschen. Stattdessen sehe ich einen alten Mann, der auf einer Kiste sitzt und eine Zeitung liest. Die Zeitung hat keine Wörter, nur Bilder von Wolken in verschiedenen Formen.
Die Straßenlaternen brennen hier schon, obwohl es noch Tag ist. Ihr Licht ist gelblich und schwach, wirft lange Schatten, die sich bewegen, auch wenn kein Wind geht. Die Häuser stehen dichter zusammen, ihre Fenster sind klein und dunkel. Manche haben Gardinen, die sich leicht bewegen, als würde jemand dahinterstehen und beobachten.
„Entschuldigung“, sage ich zu dem alten Mann. „Ist das der richtige Weg zum… zum Termin?“
Er faltet die Zeitung langsam zusammen, als hätte er alle Zeit der Welt. Seine Finger sind lang und knotig, die Nägel zu sauber für jemanden, der auf der Straße auf einer Kiste sitzt. „Hängt davon ab, was für ein Termin es ist.“
„Ich bin mir nicht sicher.“
„Dann ist es wahrscheinlich der richtige Weg.“ Er grinst und entblößt dabei eine Reihe von Zähnen, die zu perfekt aussehen. „Wenn man nicht weiß, wohin man will, führt jeder Weg dorthin.“
Der Papierflieger und die relative Hilfe
„Das klingt nicht besonders hilfreich“, sage ich und merke, wie meine Stimme gereizt klingt.
„Hilfe ist relativ.“ Er faltet die Zeitung auseinander und wieder zusammen, diesmal zu einem kleinen Papierflieger. Seine Bewegungen sind präzise, geübt. „Wie die Zeit. Und der Raum.“
Der Papierflieger in seinen Händen sieht aus wie die Flugzeuge, die Kinder basteln, aber irgendwie komplexer. Die Falten sind schärfer, die Proportionen stimmen auf eine Weise, die ich nicht erklären kann.
Er lässt den Papierflieger los, und statt zu Boden zu segeln, fliegt er nach oben, immer höher, bis er zwischen den Häuserdächern verschwindet. Ich starre ihm nach, bis mein Nacken wehtut.
„Ich muss weiter“, sage ich, plötzlich beunruhigt.
„Ja, das müssen Sie.“ Er nickt ernst. „Die Uhr tickt.“
Tatsächlich höre ich jetzt ein Ticken, leise aber deutlich. Es kommt von überall und nirgendwo, wie ein Herzschlag, der nicht meiner ist. Der alte Mann lächelt mich an, aber seine Augen sind alt und müde. „Vergessen Sie nicht zu schauen“, sagt er. „Manchmal ist das Wichtigste das, was man fast übersieht.“
Die Straße wie ein Fluss
Ich gehe weiter die Straße entlang, die sich nun zu winden beginnt wie ein Fluss. Die Häuser zu beiden Seiten neigen sich leicht nach innen, als würden sie mir zuhören wollen. Aus einem offenen Fenster dringt Klaviermusik, aber die Töne klingen, als würden sie rückwärts gespielt.
Die Melodie ist bekannt und fremd zugleich. Ich kenne sie, aber ich kann sie nicht benennen. Sie macht mich traurig auf eine Art, die ich nicht verstehe. Als würde sie von etwas erzählen, das ich verloren habe, ohne je zu wissen, dass ich es besaß.
Die Straße steigt leicht an, aber es fühlt sich an, als würde ich bergab gehen. Meine Beine werden schwerer mit jedem Schritt, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl zu schweben. An einer Hauswand hängt ein Spiegel, schief und ohne Rahmen. Als ich hineinschaue, sehe ich jemand anderen – ähnlich wie ich, aber nicht ich. Diese andere Person wendet sich ab, als hätte sie mich auch gesehen.
Das Ticken wird lauter. Es ist jetzt deutlich zu hören, ein gleichmäßiger Rhythmus, der sich in meine Schritte einschleicht, bis ich im Takt der unsichtbaren Uhr gehe.
Das Café ohne Namen
An einer Straßenecke steht ein Café. Es hat keinen Namen, nur ein Schild mit einer gemalten Tasse, aus der Dampf aufsteigt, der die Form eines Fragezeichens hat. Ich spüre plötzlich, dass ich durstig bin, und trete ein.
Das Café ist fast leer. An einem Tisch sitzt eine Frau, die in ein Notizbuch schreibt, ohne hinzusehen. Ihre Augen sind auf die Tür gerichtet, durch die ich gerade gekommen bin. Sie nickt mir zu, als hätte sie mich erwartet.
Der Raum riecht nach Kaffee und etwas anderem – nach Zeit vielleicht, nach alten Büchern und verwelkten Blumen. Die Wände sind voller Bilder, alle in verschiedenen Stilen gemalt, aber alle zeigen dasselbe: eine Person, die an einer Kreuzung steht und nicht weiß, welchen Weg sie nehmen soll.
Am Tresen steht niemand. Ich setze mich auf einen Hocker und warte. Die Polsterung ist abgewetzt, aber bequem, geformt von tausenden von anderen Körpern, die hier gewartet haben. Die Uhr an der Wand zeigt keine Zahlen, nur Symbole, die ich nicht kenne. Der Sekundenzeiger bewegt sich ruckartig, zwei Schritte vor, einen zurück.
Die Frau am Tisch schreibt weiter, ohne zu schauen. Ihre Hand bewegt sich schnell über das Papier, als würde sie einem Diktat folgen, das nur sie hören kann.
Die Stimme aus dem Spiegel
„Was darf’s sein?“, fragt plötzlich eine Stimme hinter mir.
Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Nur ein Spiegel, in dem ich mich selbst sehe, aber mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht trage – konzentriert, fast finster. Mein Spiegelbild blinzelt nicht, als ich blinzle. Es starrt mich an, als würde es auf eine Antwort warten.
„Ein Kaffee, bitte“, sage ich trotzdem. Meine Stimme klingt dünner als gewöhnlich.
„Welche Sorte?“, fragt die Stimme, die aus dem Spiegel zu kommen scheint. Oder aus meinem Spiegelbild. Die Lippen der anderen Version von mir bewegen sich minimal.
„Was haben Sie denn?“
„Zeit-Kaffee, Raum-Kaffee und Möglichkeits-Kaffee.“
Ich zögere. Die Namen klingen absurd, aber in diesem Café fühlt sich nichts normal an. Sogar die Luft schmeckt anders – dichter, süßer, mit einem metallischen Nachgeschmack. „Was ist der Unterschied?“
„Zeit-Kaffee lässt die Zeit schneller vergehen. Raum-Kaffee macht den Weg kürzer. Und Möglichkeits-Kaffee…“ Die Stimme macht eine Pause. Mein Spiegelbild lächelt leicht. „Der zeigt Ihnen, was hätte sein können.“
Der Raum-Kaffee
Ich denke an meinen Termin. Wenn ich zu spät komme, könnte das Konsequenzen haben, auch wenn ich nicht weiß, welche. Das Gefühl der Dringlichkeit wird stärker, ein Druck in der Brust, der sich ausbreitet. „Ich nehme den Raum-Kaffee.“
Eine Tasse erscheint vor mir auf dem Tresen. Der Kaffee darin ist so schwarz, dass er das Licht zu verschlucken scheint. Er riecht nach nichts. Oder nach allem auf einmal. Ich kann einzelne Düfte nicht unterscheiden, nur eine komplexe Mischung, die sich ständig verändert.
„Drei fünfzig“, sagt die Stimme.
Ich greife in meine Tasche und finde eine Münze, die ich nicht kenne. Sie ist schwerer als sie aussieht, und hat ein Loch in der Mitte. Das Metall fühlt sich warm an, als hätte jemand es lange in der Hand gehalten. Auf der einen Seite ist ein Symbol eingraviert, das aussieht wie ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte. Auf der anderen Seite steht etwas in einer Schrift, die ich nicht lesen kann.
Ich lege sie auf den Tresen.
„Passt“, sagt die Stimme.
Die Münze verschwindet, so schnell, dass ich nicht sehe, wohin. Als hätte der Tresen sie verschluckt.
Der Geschmack der Distanz
Ich trinke den Kaffee in einem Zug. Er schmeckt nach Distanz, nach dem Gefühl, wenn man von etwas weit weg ist und es plötzlich näherkommt. Mein Magen fühlt sich an, als würde er sich zusammenziehen und gleichzeitig ausdehnen.
Die Wirkung ist sofort da. Alles um mich herum beginnt sich zu verschieben, nicht sichtbar, aber spürbar. Als würde der Raum selbst atmen, sich dehnen und zusammenziehen. Die Frau am Tisch hebt zum ersten Mal den Kopf und lächelt mich an. Ihr Lächeln ist traurig und wissend.
„Erste Reise?“, fragt sie.
Ich kann nicht antworten. Der Kaffee brennt in meiner Kehle, aber nicht unangenehm. Es ist wie das Brennen einer Erinnerung, die sich an die Oberfläche kämpft. Bilder blitzen vor meinen Augen auf: eine andere Stadt, andere Gesichter, ein anderes Leben.
Als ich die Tasse absetze, ist das Café verschwunden. Ich stehe auf einer breiten Allee mit hohen Bäumen. Die Luft riecht nach Sommer und staubigem Asphalt. Die Sonne scheint, obwohl der Himmel noch immer grau ist.
Der Übergang war so nahtlos, dass ich zuerst denke, ich hätte geträumt. Aber der Geschmack der Distanz ist noch in meinem Mund.
Das Gebäude aus Bahnhof und Palast
Vor mir erhebt sich ein Gebäude, das aussieht wie eine Mischung aus Bahnhof und Palast. Breite Stufen führen zu einer Reihe von Glastüren. Menschen strömen hinein und hinaus, alle mit dem gleichen zielstrebigen Gang.
Die Architektur ist unmöglich – zu viele verschiedene Stile auf einmal, als hätten verschiedene Architekten aus verschiedenen Jahrhunderten gleichzeitig daran gearbeitet. Gotische Bögen treffen auf moderne Glasfronten, barocke Verzierungen winden sich um stählerne Träger. Aber irgendwie fügt sich alles zusammen zu einem harmonischen Ganzen.
Ich weiß plötzlich, dass ich hier richtig bin. Das ist der Ort meines Termins. Der Raum-Kaffee hat funktioniert. Das Wissen kommt nicht aus meinem Kopf, sondern aus einem tieferen Ort, aus dem Bauch, aus den Knochen. Eine Gewissheit, die nicht zu erklären ist.
Ich steige die Stufen hinauf und schiebe mich durch eine der Türen. Die anderen Menschen nehmen keine Notiz von mir, als wäre ich unsichtbar. Oder als wären sie es.
Die Stufen sind aus Marmor, aber sie geben unter meinen Füßen nach wie weicher Ton. Jeder Schritt hinterlässt einen Abdruck, der sich langsam wieder glättet, nachdem ich vorbeigegangen bin.
Der Warteraum mit den wandelnden Uhren
Im Inneren ist es kühl und hallend. Die Decke ist so hoch, dass sie im Dämmerlicht verschwindet. An den Wänden hängen große Uhren, jede zeigt eine andere Zeit. Menschen sitzen auf langen Bänken oder stehen in Gruppen zusammen, sprechen leise miteinander oder starren auf ihre Handys.
Die Akustik des Raums ist seltsam. Gespräche von der anderen Seite des Saals sind deutlich zu hören, während die Person neben mir unhörbar die Lippen bewegt. Das Klacken der Uhren ist ein konstantes Hintergrundgeräusch, aber sie ticken nicht synchron. Jede folgt ihrem eigenen Rhythmus, schafft eine Polyphonie der Zeit.
Ich suche nach einem Informationsschalter, einem Wegweiser, irgendetwas, das mir sagt, wohin ich gehen soll. Stattdessen sehe ich eine Tafel, auf der Namen und Nummern aufgelistet sind. Die Namen verschieben sich ständig, ändern die Reihenfolge, tauschen Buchstaben aus. Nur ein Name bleibt konstant, obwohl ich ihn nicht lesen kann – er ist verschwommen, als würde er sich weigern, erkannt zu werden.
Eine Frau in einer grauen Uniform steht neben mir. Ihre Uniform ist makellos, aber ihre Augen sind müde. „Nummer?“, fragt sie.
„Ich habe keine“, gestehe ich.
Sie seufzt, als hätte sie nichts anderes erwartet. Der Seufzer klingt nach tausenden von anderen Seufzern, nach Jahren der Enttäuschung. „Sie brauchen eine Nummer. Ohne Nummer kein Termin.“
Die Nummer 42 und das Warten
„Wo bekomme ich eine?“
Sie deutet auf eine Reihe von Automaten an der gegenüberliegenden Wand. „Dort. Aber beeilen Sie sich. Die Zeit ist knapp.“
Ich gehe zu den Automaten. Sie sehen aus wie Bankautomaten, aber statt eines Bildschirms haben sie nur einen Schlitz und einen Knopf. Der Knopf ist aus poliertem Metall und warm unter meiner Hand. Ich drücke ihn und warte.
Nichts passiert.
Ich drücke noch einmal, diesmal länger. Der Automat vibriert leicht unter meiner Hand, ein tiefes Summen, das ich mehr spüre als höre.
Der Automat gibt ein Geräusch von sich, als würde er nachdenken. Ein mechanisches Klicken, gefolgt von einem leisen Surren. Dann kommt ein Stück Papier aus dem Schlitz. Ich nehme es. Darauf steht eine Nummer: 42.
Das Papier fühlt sich alt an, obwohl die Tinte frisch ist. Die Zahl ist in einer eleganten Schrift geschrieben, als hätte jemand sie von Hand geschrieben, obwohl sie offensichtlich gedruckt wurde.
Als ich zurück zur Anzeigetafel gehe, sehe ich, dass die Nummer 41 gerade aufgerufen wird. Ein Mann mit einem überdimensionierten Hut steht auf und geht durch eine Tür, die ich vorher nicht bemerkt habe. Sein Hut ist so groß, dass er sich ducken muss, um durch die Tür zu passen.
Ich setze mich auf eine der Bänke und warte. Die Bank ist bequemer, als sie aussieht, das Polster passt sich meinem Körper an. Die Uhr an der Wand vor mir zeigt 2:58. Ich bin fast pünktlich.
Das Ende ist der Anfang
„Erste Mal hier?“, fragt eine Stimme neben mir.
Ich drehe mich um und sehe einen jungen Mann, vielleicht Anfang zwanzig, mit einer grellen Krawatte, die nicht zu seinem sonst konservativen Anzug passt. Seine Augen sind alt für sein Gesicht, als hätte er mehr gesehen, als sein Alter vermuten lässt.
„Ja“, sage ich. „Ist es so offensichtlich?“
„Sie haben diesen Blick.“ Er lächelt. „Diesen ‚Wo-bin-ich-und-was-passiert-hier‘-Blick. Macht nichts. Hatte ich auch, als ich das erste Mal hier war.“
„Und warum sind Sie hier?“, frage ich.
Er zieht die Augenbrauen hoch. „Aus dem gleichen Grund wie alle anderen. Um zu erfahren, was passiert, wenn…“
Die Anzeigetafel piept. Nummer 42 erscheint in roten Ziffern.
„Das sind Sie“, sagt der junge Mann. „Viel Glück.“
[Der Rest der ursprünglichen Geschichte folgt nahtlos – die Begegnung mit der älteren Frau im Büro, die Entscheidung, durch die Tür zu gehen, der verwunschene Garten, das Gespräch mit dem älteren Selbst, die Erkenntnis über den Umweg als den eigentlichen Weg, und schließlich das Erwachen in der realen Welt mit dem Nachgeschmack der Distanz im Mund.]
Ich stehe auf und sehe mich um. Eine neue Tür hat sich geöffnet, links von der Tafel. Die Tür ist aus dunklem Holz, schwer und solide. Ein kleines Messingschild trägt die Nummer 42. Ich gehe darauf zu, zögere kurz und trete ein.
Der Raum dahinter ist klein und fensterlos. Ein Schreibtisch steht in der Mitte, dahinter sitzt eine ältere Frau mit einer Lesebrille, die an einer Kette um ihren Hals hängt. Auf dem Schreibtisch liegt ein dickes Buch, aufgeschlagen auf einer Seite, die leer zu sein scheint.
„Setzen Sie sich“, sagt sie, ohne aufzublicken.
Ich setze mich auf den einzigen Stuhl vor dem Schreibtisch. Das Leder knarrt unter meinem Gewicht, ein vertrautes Geräusch in dieser Welt voller Unmöglichkeiten.
Und dann folgt der Rest – die Fragen, die ich nicht beantworten kann, die Tür in den Garten, die Begegnung mit meinem älteren Selbst, die Lektion über den Umweg als den eigentlichen Weg. Bis ich schließlich durch die Öffnung im Baum zurück in die reale Welt falle, mit dem Geschmack der Distanz noch im Mund und der Gewissheit, dass alle Umwege ihre eigene Bedeutung haben.
Das letzte, was ich von meinem Älteren Ich höre, ist: „Wir sehen uns wieder, auf einem anderen Umweg.“
Dann wache ich auf, und ein neuer Tag beginnt. Aber der Traum bleibt, und mit ihm die Erkenntnis, dass manchmal der längste Weg der richtige ist.