As Time Goes By

Das ungewöhnliche Gespräch

Es ist ein Dienstag, und Dienstage haben was Graues an sich, egal wie die Sonne scheint. Der kleine Kiosk an der Ecke leuchtet wie ein Schiff in der Nacht mit seinen bunt gefüllten Auslagen und dem flackernden Neonschild, das mehr tot als lebendig ist. Die Zeitungen sind schon fast alle weg, nur noch die mit den langweiligen Schlagzeilen hängen im Ständer, als hätte keiner Lust auf Nachrichten, die einem den Tag noch grauer machen.

Ich trete ein und die Türglocke klingelt. Ein bisschen zu laut, finde ich. Der Boden klebt unter meinen Schuhen. Apfelsaft. Oder Bier. Oder beides. Ein Geruch von altem Papier und Kaffee hängt in der Luft, vermischt mit dem Duft von frischen Brötchen, die Meral, die Frau des Kioskbesitzers, jeden Morgen vom Bäcker zwei Straßen weiter holt.

„Wo ist Meral heute?“ frage ich und greife nach der letzten Packung Marlboro in der Auslage.

Hüseyin, der Kioskbesitzer, schaut mich an, als hätte ich nach dem aktuellen Dollarkurs in Kasachstan gefragt. Seine Augenbrauen sind zwei graue Raupen, die sich über der knolligen Nase fast berühren. Die Falten in seinem Gesicht sind wie Straßenkarten eines Landes, in dem ich noch nie war.

„Meral? Bei der Kleinen. Hat Fieber bekommen in der Nacht.“ Er drückt auf die Kasse, die quietscht wie ein altes Fahrrad. „Wie immer? Schokoriegel auch?“

„Ja, und die Zeitung.“

„Welche? Die mit dem Blut oder die mit den Titten?“ Er grinst, und die goldene Krone an seinem Schneidezahn blitzt auf.

„Die mit dem Kreuzworträtsel.“

Er zieht die Augenbrauen hoch. „Heute keine Nachrichten? Ist was passiert?“

Ich zucke mit den Schultern. „Alles wie immer. Zu viel von allem.“

Seine Hände sind überraschend flink für ihre Größe. Meine Marlboros, die Zeitung, der Schokoriegel – alles landet präzise in der grünen Plastiktüte, nach der ich nicht gefragt habe, die er mir aber jeden Tag gibt. Ich protestiere nie dagegen, fühle mich aber jedes Mal schuldig. Zuhause habe ich einen Schrank voller grüner Plastiktüten, die ich eines Tages zu verwenden plane.

„Es ist nicht alles wie immer“, sagt er plötzlich. Seine Stimme hat diesen bestimmten Ton angenommen, den er benutzt, wenn er vom Regenradar spricht oder den Sportergebnissen, die er besser kennt als die Geburtsdaten seiner drei Kinder. „Du schaust anders. Wie ein Hund, der in den Regen muss.“

Ich lache kurz auf, aber es klingt falsch, wie eine schlecht geölte Tür. „So schlimm sehe ich aus?“

„Schlimm, nicht schlimm – anders eben.“ Er wischt mit einem schmuddeligen Lappen über die Theke, auf der Kaffeeflecken von heute Morgen zu sehen sind. Durch das Fenster flirrt das Nachmittagslicht in weichen Streifen herein und trifft die Staubpartikel in der Luft. „Problems with Frau?“

Ich schüttle den Kopf. Marie und ich, wir sind gut. Oder zumindest nicht schlecht. Wir existieren nebeneinander mit ausreichend Höflichkeit, um den Alltag nicht zu einem Minenfeld zu machen.

„Arbeit“, sage ich schließlich, obwohl ich mir sicher bin, dass es ihn nicht wirklich interessiert. Leute wie Hüseyin fragen aus Höflichkeit, nicht aus Neugierde. Man kauft Zigaretten, tauscht ein paar Worte, und geht wieder. So funktioniert das.

Aber heute ist irgendwas anders. Vielleicht liegt es an dem fehlenden Dienstagsgeschäft oder daran, dass Meral nicht da ist, um ihn daran zu erinnern, dass Kunden kommen und gehen und nicht therapiert werden sollen.

„Setz dich“, sagt er und deutet auf den wackligen Hocker in der Ecke, auf dem normalerweise nur die Kartons mit den Pfandflaschen stehen. „Ich mach‘ Kaffee. Türkisch. Nicht diese Scheiße aus dem Automaten.“

Ich will ablehnen, aber meine Beine entscheiden anders. Der Hocker knarrt unter meinem Gewicht, und ich fühle mich plötzlich zu groß für diesen engen Raum, wie ein Erwachsener, der in sein altes Kinderzimmer zurückkehrt.

Hüseyin verschwindet kurz hinter dem Vorhang, der zum Hinterzimmer führt. Ich höre das Klappern von Geschirr, das Zischen eines Gaskochers. Der kleine Ventilator an der Decke dreht sich träge und bewegt die warme Luft von einer Ecke in die andere, ohne sie zu kühlen. Ich starre auf die Reihen von Schnapsflaschen hinter der Theke, alle fein säuberlich aufgereiht, wie kleine Soldaten in schillernden Uniformen.

„Also, Arbeit“, sagt Hüseyin, als er zurückkehrt und zwei winzige Tassen auf die Theke stellt. Der Kaffee darin ist so schwarz, dass er fast schon Substanz zu haben scheint, dick wie Öl. Der Geruch ist intensiv, erdig, mit einer Note von Kardamom. „Was für Probleme? Chef ist Arschloch? Kollegen sind Idioten? Oder du bist Idiot?“

Ich lache, diesmal ehrlicher. „Bisschen von allem, vermutlich.“

„Trink“, befiehlt er und deutet auf die Tasse. „Langsam. Schlürfen erlaubt. Dann reden wir.“

Ich nehme einen vorsichtigen Schluck. Der Kaffee ist bitter und süß zugleich, fast sirupartig und so heiß, dass ich meine Zunge verbrenne. Aber es ist ein angenehmer Schmerz, irgendwie reinigend.

„Ich bin Architekturberater“, sage ich, obwohl er nicht gefragt hat. „Ich helfe Leuten, ihre Häuser zu planen, zu bauen, umzubauen.“

„Ah, Häuserarchitekt.“ Er nickt, als hätte ich endlich etwas Kluges gesagt. „Das ist gut. Häuser sind wichtig. Menschen brauchen Häuser.“

„Genau. Und ich habe diesen Kunden, einen reichen Typen, der ein altes Lagerhaus in Wohnungen umbauen will. Ein großes Projekt, viel Geld.“

Hüseyin nimmt einen Schluck aus seiner Tasse, schmatzt leise und sagt nichts.

„Das Problem ist, der Typ will alles billig machen. Minimalstandards, schlechte Materialien, zu viele Wohnungen auf zu wenig Raum. Aber er will, dass ich es so präsentiere, als wäre es Luxus.“

„Und du willst das nicht?“

„Es ist… unethisch. Es widerspricht allem, wofür ich stehe. Aber wenn ich ablehne, ist jemand anderes sofort zur Stelle, der es macht. Und ich brauche den Auftrag. Die letzten Monate waren nicht so toll.“

Hüseyin nickt langsam, dreht seine Tasse zwischen den dicken Fingern. Im Hintergrund spielt leise das Radio, ein türkischer Sender mit melancholischen Liedern über die Heimat und verlorene Liebe.

„Als ich nach Deutschland kam, vor dreißig Jahren, habe ich in Fabrik gearbeitet“, sagt er plötzlich. „Autoteile. Kleine Teile für große Autos. Schrauben, Muttern, diese Dinger.“ Er macht eine vage Geste mit der Hand. „Chef war Deutscher, sehr streng, sehr genau. Alles musste perfekt sein. Er hat gesagt: ‚Hüseyin, wenn du eine Schraube siehst, die nicht gut ist, du musst sie aussortieren. Kaputte Schraube kann Auto kaputt machen, Auto kann Menschen kaputt machen.‘ Verstehst du?“

Ich nicke, unsicher, worauf er hinauswill.

„Eines Tages, neuer Manager kommt. Junger Mann mit teurer Krawatte und Haar wie in Fernsehen. Er sagt: ‚Ab jetzt, wir sortieren nicht mehr so viel aus. Kleine Fehler sind okay. Spart Geld, macht mehr Profit.‘ Verstehst du? Er wollte, dass wir schlechte Schrauben durchlassen.“

Die Türglocke klingelt, und ein Teenager mit Kopfhörern tritt ein, kauft eine Dose Red Bull und verschwindet wieder, ohne den Blick vom Handy zu heben. Hüseyin bedient ihn, ohne unsere Unterhaltung zu unterbrechen.

„Was hast du gemacht?“ frage ich, als wir wieder allein sind.

Er lächelt, und die Falten um seine Augen vertiefen sich zu kleinen Tälern. „Ich habe weiter aussortiert. Jede schlechte Schraube. Manager hat es nicht bemerkt. Oder nicht gesagt. Aber ich wusste: Diese Schraube kommt in Auto. Auto fährt auf Straße. Vielleicht fährt meine Tochter auf dieser Straße eines Tages. Verstehst du?“

Ich verstehe. Natürlich verstehe ich. Aber ist es vergleichbar? Eine fehlerhafte Schraube kann tödlich sein. Ein schlecht konzipiertes Apartment ist nur… unbequem. Oder nicht?

„Das ist ein bisschen was anderes“, sage ich. „Niemand stirbt, wenn die Wohnungen klein und die Wände dünn sind.“

„Ah.“ Hüseyin schüttelt den Kopf. „Du denkst, schlechtes Zuhause tötet nicht? Weißt du, was graue Wände machen mit Seele? Was passiert, wenn Menschen keine Sonne haben, keine Luft? Wenn sie Nachbarn hören, wie sie streiten, ficken, schreien? Wenn Kinder keinen Platz zum Spielen haben?“

Er steht auf, geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Wasser heraus. Das Glas beschlägt sofort in der warmen Luft.

„Ich sage dir was. Meine Familie, als wir kamen nach Deutschland, wir haben gewohnt in so einem Haus. Eng, dunkel, Wände dünn wie Papier. Meral hat geweint jede Nacht. Kinder wurden krank, immer krank. Warum? Schimmel an Wänden. Ich habe gearbeitet Tag und Nacht, um zu sparen für besseres Zuhause.“

Er schenkt mir Wasser ein, ohne zu fragen, ob ich welches will. Die Geste hat etwas Väterliches an sich, etwas, das mich an meinen eigenen Vater erinnert, der immer wusste, was ich brauchte, bevor ich es selbst wusste.

„Menschen verbringen halbes Leben in ihren Häusern. Vielleicht mehr jetzt, mit Computern und Internet und diesem… wie heißt das? Home-Office. Ein schlechtes Zuhause ist wie schlechte Luft – du merkst nicht sofort, aber langsam macht es dich krank.“

Ich trinke einen Schluck Wasser und lasse seine Worte auf mich wirken. Draußen bremst ein Auto scharf, jemand hupt, Tauben flattern auf. Die Stadt lebt ihren Dienstagsnachmittag weiter.

„Was soll ich also tun? Ablehnen und jemand anderem das Feld überlassen, der es noch schlimmer macht?“

Hüseyins Lachen ist überraschend laut und herzlich. „Du denkst wie Politiker! ‚Wenn nicht ich, dann jemand Schlimmeres!‘ So denken sie alle. Aber weißt du was? Manchmal muss man einfach das Richtige tun, egal was andere machen.“

Er beugt sich vor, und ich kann den Kaffee in seinem Atem riechen, vermischt mit dem leichten Duft von Anis, den das türkische Kaugummi hinterlässt, das er ständig kaut.

„Du bist Architekt. Du baust nicht nur Häuser, du baust Leben. Du sagst: ‚Hier stehen Wände, hier ist Fenster, hier ist Tür.‘ Aber was du wirklich sagst ist: ‚Hier wird Kind Hausaufgaben machen. Hier wird Frau vielleicht weinen, wenn Mann sie verlässt. Hier wird alter Mann sitzen und auf Tod warten.‘ Verstehst du? Du baust nicht Wände. Du baust Orte für Leben.“

Die Worte treffen mich wie ein unerwarteter Regenschauer an einem sonnigen Tag – plötzlich, unangenehm, aber irgendwie erfrischend.

„Was, wenn ich einen Kompromiss finde? Bessere Materialien vorschlage, mehr Licht, weniger Wohnungen?“

Hüseyin zuckt mit den Schultern. „Vielleicht. Aber reiche Männer mögen keine Kompromisse. Sie kaufen, was sie wollen. Wenn du ’nein‘ sagst, suchen sie jemand, der ‚ja‘ sagt.“

„Also soll ich einfach ablehnen und den Job verlieren?“

„Ich sage nicht, was du sollst. Ich sage nur, was ich denke. Du bist kluger Mann. Du findest Weg.“

Er steht auf, räumt die leeren Tassen weg. Die Bewegung ist routiniert, ein Teil des täglichen Rhythmus dieses kleinen Kiosks, in dem die Zeit langsamer zu fließen scheint als draußen auf der Straße.

„Weißt du“, sagt er, während er das Geschirr hinter der Theke verstaut, „als ich jung war, in der Türkei, ich wollte auch Architekt werden. Häuser bauen, nicht nur Kiosk. Aber dann kam Leben dazwischen. Frau, Kinder, kein Geld für Studium. So ist das manchmal.“

Diese Offenbarung überrascht mich. Ich sehe ihn plötzlich mit anderen Augen – nicht mehr nur als den Kioskbesitzer, der mir jeden Tag Zigaretten verkauft, sondern als jemanden mit eigenen Träumen und Enttäuschungen, eigenen nicht gegangenen Wegen.

„Es ist nie zu spät“, sage ich, und es klingt selbst in meinen Ohren nach einer leeren Phrase.

Er lacht wieder. „Für mich? Vielleicht zu spät. Aber ich bin zufrieden. Ich baue keine Häuser, aber ich kenne alle Menschen in dieser Straße. Ich weiß, wer trinkt zu viel, wer hat Probleme mit Frau, wer braucht manchmal ein Ohr zum Zuhören. Ist auch wichtig, oder? Nicht jeder muss große Dinge bauen.“

Die Türglocke klingelt erneut. Diesmal ist es eine ältere Frau mit einem kleinen Hund, der ungeduldig an der Leine zerrt. Sie kauft Lottoscheine und beschwert sich über die Hitze, während der Hund an meinen Knöcheln schnüffelt.

Als sie geht, schaue ich auf die Uhr. Fast eine Stunde ist vergangen, ohne dass ich es bemerkt habe. Marie wird sich wundern, wo ich bleibe.

„Ich muss los“, sage ich und greife nach meiner Tüte. „Danke für den Kaffee. Und das Gespräch.“

Hüseyin nickt nur, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, einem Kunden Kaffee anzubieten und über Lebensentscheidungen zu philosophieren.

„Kommst du morgen wieder?“

„Wie jeden Tag.“

„Gut. Dann erzählst du mir, was du entschieden hast mit deinem reichen Mann und seinen schlechten Häusern.“

Ich lächle. „Woher weißt du, dass ich bis morgen eine Entscheidung getroffen habe?“

Er tippt sich an die Schläfe. „Ich kenne Menschen. Du hast diesen Blick jetzt – wie jemand, der weiß, was zu tun ist, aber Angst hat, es zu tun.“

Als ich den Kiosk verlasse, ist die Luft draußen wärmer, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Sonne steht tiefer und taucht die Häuserfassaden in ein goldenes Licht, das alle Risse und abblätternde Farbe milder erscheinen lässt.

Ich bleibe einen Moment stehen und betrachte die Gebäude auf der anderen Straßenseite. Ein Altbau aus der Gründerzeit, daneben ein hässlicher Betonklotz aus den Siebzigern, und weiter unten ein moderner Glaskasten, der wie ein Fremdkörper wirkt. Jedes dieser Gebäude erzählt eine Geschichte. Jedes repräsentiert eine Entscheidung, die jemand wie ich irgendwann einmal getroffen hat.

Welche Geschichte will ich erzählen? Welche Entscheidung will ich treffen?

Ich drehe mich noch einmal um und sehe durch das Schaufenster, wie Hüseyin einem kleinen Mädchen ein Eis verkauft, sich dabei tief über die Theke beugt, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Seine Geste hat etwas Würdevolles an sich, etwas, das mich an die Wichtigkeit der kleinen Dinge erinnert.

In meiner Tasche vibriert das Handy. Eine neue E-Mail. Wahrscheinlich vom Kunden, der auf eine Antwort wartet.

Ich greife nicht danach. Stattdessen fische ich die Zigaretten heraus, zünde mir eine an und gehe langsam die Straße hinunter, den Blick nach oben gerichtet, auf die verschiedenen Fassaden, Fenster, Balkone. Orte, an denen Leben stattfindet. Orte, die jemand entworfen hat – mit Sorgfalt oder Gleichgültigkeit.

Und irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Zug an der Zigarette wird mir klar, dass ich meine Entscheidung bereits getroffen habe.

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