
Flimmern
Ich höre das Summen zuerst. Nicht laut, nicht drohend. Nur dieses elektrische Zittern in der Luft. Wie ein altes Licht, das sich nicht entscheiden kann, ob es leben oder sterben will.
Kael hockt neben mir, stützt die Ellenbogen auf die Knie. Seine Jacke ist an den Schultern durchgescheuert. Der Staub klebt uns wie eine zweite Haut auf die Gesichter, in die Falten, in die Lippenränder.
„Schon wieder ein Sensor ausgefallen“, sagt er. Nicht zu mir. Eher zur Dunkelheit vor uns.
Ich nicke, obwohl ich’s nicht verstehe. Nicht wirklich. Was ich weiß: Wenn’s zu still wird hier unten, dann ist das kein gutes Zeichen. Dann zieht irgendwas auf. Die Luft verändert sich. Sie wird zäher. Schärfer.
„Warst du schon mal da hinten?“, frage ich. Deute mit dem Kinn Richtung Treppe, die halb eingestürzt aussieht. Die Stufen glänzen leicht, feucht vielleicht. Oder irgendwas lebt dort, das glänzen kann.
Kael sieht mich an, seine Augen sind müde, aber noch nicht tot.
„Wenn du meinst, wir sollten…“
„Ich mein gar nichts. Ich frag nur.“
Wir stehen auf. Ich spüre den kalten Boden durch meine durchgelaufenen Sohlen. Meine Knie knacken beim Aufrichten. Kael reibt sich die Hände, als könnte er Wärme herausschleifen aus der Kälte.
Oben tropft es. Irgendwas Metallisches. Kein Wasser. Vielleicht Öl. Oder Blut. Ich will’s gar nicht wissen.
Ich gehe als Erste. Die Lampe an meinem Gürtel flackert einmal, dann bleibt sie an. Ich hab sie mit Kabelbindern festgezurrt, damit sie nicht wieder abhaut wie letztes Mal.
Die Stufen geben unter mir leicht nach. Es riecht nach alten Maschinen, nach Plastik, das mal gebrannt hat, und nach irgendwas… Lebendigem. Aber nicht frisch. Sondern lange tot. Vielleicht sogar denkend, bevor es gestorben ist.
„Nira“, flüstert Kael hinter mir. „Ich glaub, hier war jemand vor uns.“
Ich bleibe stehen. Die Luft vor mir flimmert. Ganz leicht. Wie Hitze über Asphalt.
Und dann höre ich es.
Einatmen.
Ausatmen.
Langsam. Schwer.
Aber nicht von uns.
Der Abdruck
Kael tritt näher an mich heran. Ich spüre seine Anwesenheit, bevor ich ihn sehe. So wie man manchmal den Regen riecht, bevor er fällt. Seine Stimme ist nur ein Hauch:
„Da vorne… siehst du das?“
Ich gehe zwei Schritte weiter. Dann bleibt mein Blick an etwas hängen, das nicht hierhergehört. Zwischen zerfallenen Stahlträgern, in einer Schicht aus Staub, Ruß und kleinen, metallischen Splittern: ein Fußabdruck. Frisch. Zu frisch.
„Nicht wir“, murmele ich.
Kael kniet sich hin, streift mit den Fingern über den Abdruck. „Barfuß“, sagt er. „Und groß. Viel größer als du.“
Ich mustere die Ränder. Kein Muster. Keine Sohlen. Nur eine tiefe, fleischige Vertiefung. Wie reingedrückt. Und daneben – kaum sichtbar – ein Schleifspuren, die sich im Halbkreis verlieren.
„Was macht jemand hier unten ohne Schuhe?“, frage ich.
„Vielleicht hat er keine mehr.“
„Oder braucht keine.“
Kael steht wieder auf. Ich sehe, dass er den Schraubenschlüssel in der Jackentasche fester umklammert. Keine Waffe, aber besser als die bloßen Fäuste. Ich selbst hab nur das Brecheisen. Und einen rostigen Nagel in der Tasche, aus irgendeinem Aberglauben.
Wir gehen weiter. Nicht schnell. Die Treppe endet in einem Flur, halb verschüttet. Überall liegen Kabel, wie Adern. An einer Stelle hat jemand sie gebündelt, mit Draht. Das ist alt. Aber daneben liegt etwas Neues: ein Stück Stoff. Weiß. Blutig. Aber nicht eingesunken. Es liegt auf dem Staub, nicht darunter.
Ich gehe in die Hocke. Die Fasern sind dünn, fast durchsichtig. Die Farbe erinnert mich an diese alten Anzüge, die die Techniker früher getragen haben. An der Ecke ist ein kleines Stück Metall eingenäht. Darauf: ein Symbol. Drei Kreise, die sich überlappen. Ich zeige es Kael.
Er wird blass. „Verdammt.“
„Was?“, frage ich.
„Das ist Sektor 4. Biotechnik. Da, wo sie…“ Er bricht ab.
„Wo sie was?“
Kael schüttelt den Kopf. „Ich dachte, der Sektor wär eingestürzt. Da kam niemand mehr raus. Wenn das hier jemand getragen hat, dann… dann ist irgendwas aktiviert worden. Oder wieder wach.“
Ich sehe ihn an. Lange. „Kael. Hast du uns hierhergeführt, weil du das wusstest?“
Sein Blick weicht meinem aus. Und das sagt mehr als jedes Wort.
Ich will gerade etwas sagen, da bricht irgendwo in der Dunkelheit etwas zusammen. Laut. Schwer. Metall auf Metall. Und danach:
Schritte.
Langsam.
Schabend.
Unregelmäßig.
Wir drehen uns gleichzeitig um. Ich lösche das Licht.
Und dann hören wir es wieder. Dieses Atmen. Viel näher. Und jetzt nicht mehr allein.
Die Atmenden
Wir ducken uns in eine Nische. Kalter Beton im Rücken, rostiges Rohr überm Kopf. Ich halte den Atem an, solange ich kann. Kael auch. Ich hör’s an seiner Stille.
Dann – das Schaben wieder. Näher. Und jetzt begleitet von etwas anderem. Wie ein Summen. Kein technisches. Eher organisch. Tief in den Ohren, wie eine Mücke, aber viel… schwerer. Dicht.
Etwas bewegt sich durch den Gang. Nicht schnell. Nicht suchend. Als wüsste es längst, wo wir sind.
Ich spüre, wie Kael die Schulter gegen meine lehnt. Nicht panisch. Nur da. Echt. Warm trotz allem.
Dann sehe ich es.
Nur für einen Moment. Das Flackern eines defekten Wandpanels wirft einen Lichtstoß in den Flur – und in diesem Licht: ein Körper. Groß. Dünn. Fast nackt. Haut wie Asche. Und das Gesicht… Gott.
Die Augen fehlen. Nur zwei dunkle, eingefallene Höhlen, aus denen ein leichter Dampf zu steigen scheint. Die Lippen fest geschlossen, aber unter der Haut bewegt sich etwas. Pulsierend. Wie Atem. Wie… Leben, das falsch zusammengesetzt wurde.
Ich presse meine Hand auf den Mund. Will nicht würgen. Will nicht schreien.
Das Ding bleibt stehen.
Kein Laut.
Dann senkt es den Kopf.
Langsam.
Zitternd.
Und als würde es uns durch die Wand hindurch riechen, dreht es sich – und geht weiter.
Weg von uns.
Erst, als wir seine Schritte nicht mehr hören, atme ich aus.
Kael flüstert: „Was zur Hölle war das?“
Ich schüttle den Kopf. „Keine Ahnung. Aber es hat geatmet.“
„Wie wir.“
„Nein.“ Ich sehe ihn an. „Nicht wie wir. Es hat geatmet, aber… nicht für sich. Als ob etwas anderes durch es atmet.“
Kael schluckt. „Vielleicht war das einer von ihnen.“
„Wer sind ‘sie’?“
Er zögert. Dann: „Die Atmenden. So nannten sie sie. Biotechnische Träger. Lebende Filter. Sie wurden erschaffen, um die giftige Luft in den unteren Zonen umzuwandeln. Halb Mensch, halb Maschine. Aber irgendwann… haben sie sich entzogen.“
„Du meinst, die laufen hier noch rum? Nach all den Jahren?“
Kael sagt nichts. Und das sagt alles.
Ich streife mir den Rucksack fester über die Schultern. „Wir müssen da durch. Wenn der Abdruck von so einem Ding stammt, gibt’s vielleicht noch andere. Und wenn die leben… dann läuft hier noch irgendwas. Vielleicht sogar das Respirum.“
Er sieht mich an. „Das Respirum ist eine Legende.“
„Alles hier ist eine Legende. Aber irgendwas atmet hier unten – und ich will wissen, warum.“
Er nickt. Zieht das Werkzeug aus der Jacke. „Dann los.“
Wir treten zurück in den Flur. Die Luft ist wärmer. Dicker. Ich spüre den Staub in meiner Lunge. Und irgendwo hinter den nächsten Gängen beginnt das Summen wieder.
Nicht laut.
Aber stetig.
Bruchstellen
Der Gang zieht sich wie ein vernarbtes Rückgrat durch die Tiefe. Kael geht jetzt vor. Ich hab ihm das überlassen. Vielleicht, weil ich spüren will, wie er reagiert, wenn die Dunkelheit dichter wird. Vielleicht auch, weil ich müde bin vom Anführen.
Die Wandlampen links und rechts flackern sporadisch, als hätten sie Schluckauf. Manche glimmen rot, andere grün – aber nicht nach System. Als würde irgendetwas hinter den Wänden entscheiden, welche Farbe gerade passt.
„Diese Beleuchtung…“, murmelt Kael. „Sie hängt am alten Bio-Impuls-Netz. Wenn noch was lebt in den Leitungen, reagiert das Licht drauf.“
„Du meinst, es… merkt uns?“
Kael bleibt stehen. Dreht sich nicht um. „Vielleicht.“
Ich bleibe hinter ihm, nehme die Umgebung in mich auf. Feiner, dunkler Staub hat sich auf jedem Vorsprung, jedem Kabel abgesetzt. Und doch: irgendwo hier ist Luft. Sie schmeckt nur falsch. Metallisch. Wie ein Stromschlag, den man geschluckt hat.
„Kael?“
„Hm?“
„Was hast du da oben verloren, bevor du abgestürzt bist?“
Er antwortet nicht sofort. Dann: „Eine Tochter.“
Ich zucke. Nicht, weil ich damit gerechnet habe. Sondern, weil ich gar nicht weiß, was man darauf sagen soll.
„Wie alt?“, frage ich leise.
„Sechs.“
Pause.
„Sie war krank. Die da oben wollten sie nicht aufnehmen. Zu teuer. Zu wenig Nutzen.“
Ich sehe ihn an. Da ist keine Wut mehr in seiner Stimme. Nur Kälte. Wie Schnee, der nie schmilzt.
Wir gehen weiter. Noch drei Türen. Dann stehen wir vor einer, die halb offen ist. Dahinter: ein Raum, breiter als erwartet. Und warm. Viel zu warm.
Ich trete zuerst hinein.
Was mich trifft, ist nicht die Hitze. Es ist der Geruch. Schweiß. Rost. Etwas Gärendes. Und darüber: Ozon. Frisch, elektrisch.
Der Raum ist vollgestellt mit kaputten Maschinen. An der Decke hängen alte Infusionsbeutel, leer, geschrumpft. An den Wänden: eingeritzte Zeichen. Kreise. Spiralen. Und mitten im Raum: ein Tisch. Metall. Mit Riemen.
„Hier…“, sagt Kael. „Hier haben sie’s gemacht. Die Umwandlung. Die Verschmelzung.“
Ich gehe zum Tisch. Da ist noch etwas. Etwas, das unter einem Laken liegt.
Ich zieh es weg.
Darunter: ein Körper. Klein. Verkrümmt. Eingetrocknet wie eine alte Frucht. Aber der Brustkorb – bewegt sich.
„Der lebt noch“, flüstere ich.
Kael tritt näher. „Unmöglich.“
Ich knie mich hin. Die Haut des Wesens ist halb durchsichtig. Darunter: Schläuche. Röhren. Und Licht. Weiches, pulsierendes Licht.
Es flüstert. Nicht laut. Kaum mehr als ein Atemzug.
„… respirum…“
Ich sehe Kael an.
„Das ist kein Mythos.“
Er sieht zurück.
„Das ist ein Herz.“
Dann bricht irgendwo über uns etwas zusammen. Und aus den Schatten tritt etwas ins Licht, das kein Gesicht hat – aber einen Mund, der nicht atmet.
Noch nicht.
Kein Gesicht
Ich taste nach dem Brecheisen in meinem Rucksack, aber meine Finger sind zu langsam, zu zittrig. Kael ist schneller. Er wirft sich zwischen mich und das Ding, das da aus dem Schatten tritt. Keine Geste. Kein Laut. Nur diese Bewegung – weich, kontrolliert, beinah… zärtlich.
Das Wesen bleibt stehen.
Sein Körper ist humanoid, ja. Aber der Kopf – eine glatte Fläche, als hätte jemand das Gesicht einfach vergessen. Keine Augen, keine Nase, kein Mund. Nur Haut, fahl wie Knochenstaub. Doch sie atmet. Hebt und senkt sich. Als wäre sie lebendig.
Das Licht des halbtoten Respirum-Körpers flackert stärker. Pulsierend. Als würde es sich synchronisieren.
„Nicht bewegen“, flüstert Kael.
Ich nicke. Langsam. Der Schweiß läuft mir den Rücken runter, klebt an meinem Gürtel, als wolle er sich dort verkriechen. Ich starre auf das Wesen. Es hat keinen Blick, und trotzdem sehe ich, wie es uns ansieht. Als hätte es andere Sinne. Bessere. Tiefere.
Dann hebt es eine Hand. Zitternd. Die Finger sind zu lang. Zu dünn. Als wären sie nachträglich drangepresst worden. Am Ende einer Kuppe glänzt etwas Dunkles. Nicht Blut. Nicht Öl. Etwas anderes. Wie Erinnerung, die geronnen ist.
„Was will es?“, flüstere ich.
„Vielleicht…“, Kael zögert. „Vielleicht schützt es das, was da auf dem Tisch liegt.“
Ich blicke zum atmenden Körper. Der Brustkorb hebt sich noch immer. Und jetzt… jetzt sieht es aus wie ein Herzschlag. Gleichmäßig. Tief. Lebendig.
Das Gesichtlose tritt einen Schritt näher.
Kael hebt die Hand. „Wir tun ihm nichts. Verstanden? Wir sind nicht hier, um zu zerstören.“
Ich kann nicht glauben, dass er es anspricht wie ein Kind. Aber das Ding bleibt stehen. Neigt den Kopf. Langsam.
Dann – es hebt beide Hände. Legt sie auf die Brust. Und senkt sich. Kniet nieder. Vor dem Tisch.
„Das ist eine Geste“, flüstere ich. „Eine Art… Anbetung.“
Kael nickt. „Oder ein Schwur. Vielleicht ist das Ding eine Art Wächter.“
„Ein Wächter wovon?“, frage ich. Aber ich weiß es bereits.
Das Respirum.
Und während das Ding kniet, beginnen die Lampen in dem Raum zu glimmen. Einer nach dem anderen. Grün. Wie ein altes System, das plötzlich Strom kriegt. Wie ein Körper, der sich reckt. Streckt. Wach wird.
„Nira“, sagt Kael. „Schau auf den Monitor da hinten.“
Ich drehe mich um. Ein altes Display. Gebrochen, aber nicht blind. Darauf erscheinen Worte.
BIO-SYSTEM: REAKTIVIERUNG – 11 %
ATMUNGSKERN: INITIIERT
Ich schlucke. „Das Ding auf dem Tisch… es ist das Respirum.“
Kael nickt. „Oder zumindest sein Beginn.“
Das Gesichtlose erhebt sich langsam. Es deutet mit einem Finger in den Flur, aus dem es gekommen ist.
„Es will, dass wir mitkommen.“
„Warum?“
Kael sieht mich an. Und in seinem Blick liegt diese Antwort, die mehr verspricht, als ich hören will:
„Weil es uns als Nächstes braucht.“
Durch die Adern
Der Gang, den das Gesichtlose uns zeigt, ist schmal. So eng, dass wir seitlich gehen müssen. Über uns tropft Wasser. Oder etwas, das wie Wasser aussieht. Es riecht nach altem Metall, nach Haut, die zu lange unter Bandagen gesteckt hat. Der Boden ist weich. Nicht matschig, sondern federnd. Als wären wir nicht auf Beton, sondern auf etwas Lebendigem unterwegs.
Kael flüstert: „Das hier ist kein Versorgungstunnel. Das ist… organisch.“
Ich will ihm nicht glauben, aber ich sehe es auch. Die Wände glänzen. Zwischen den Rissen zucken Lichtimpulse, wie elektrische Nervenstränge. An einer Stelle schimmert unter einer durchsichtigen Membran etwas Rotes. Pulsierend. Gleichmäßig. Wie ein zweites Herz.
„Wir sind im Kreislaufsystem“, sagt Kael.
Ich sehe ihn an. „Du meinst, der Komplex lebt?“
„Vielleicht nicht ganz. Aber er erinnert sich.“
Das Gesichtlose geht weiter. Keine Hast. Kein Zögern. Es kennt den Weg. Es war schon oft hier. Vielleicht war es nie weg. Vielleicht hat es all die Jahre gewartet. Auf uns.
„Warum wir?“, frage ich. „Warum nicht irgendwer sonst?“
Kael denkt nach. „Du hast die Fähigkeit, Dinge zu spüren, bevor sie passieren. Du hörst, was andere nicht hören. Vielleicht reicht das. Vielleicht bist du… kompatibel.“
Ich lache leise. „Ich bin nicht besonders. Ich hab nur früh gelernt, wann man weglaufen muss.“
„Und wann man bleibt.“
Ich sage nichts.
Der Gang wird weiter. Und dann stehen wir in einem Raum, der kein Raum ist. Eher eine Höhlung. Eine riesige Kuppel, durchzogen von Adern. In der Mitte: ein Schacht. Riesig. Abgedeckt mit einer halb durchsichtigen Platte. Darunter: Bewegung.
Das Gesichtlose bleibt stehen. Deutet nach unten.
Ich trete näher.
Und dann sehe ich es.
Tausende. Nein – Zehntausende. In Kammern. In durchsichtigen Kapseln. Menschen? Vielleicht mal gewesen. Jetzt verbunden mit Schläuchen, Drähten, Masken. Einige atmen. Andere nicht. Manche bewegen die Finger. Andere die Augen. Aber keiner spricht.
„Was ist das?“, flüstere ich.
Kael tritt neben mich. „Das ist die Quelle. Das alte System.“
„Sie leben?“
„Sie sind Teil des Respirums. Der lebende Filter. Das hier ist… der Lungenflügel der Tiefe.“
Ich muss mich setzen. Mir wird schwindlig. Ich will schreien. Oder lachen. Oder einfach verschwinden.
„Wir sind nicht allein“, sage ich.
„Nein“, sagt Kael. „Und wir waren es nie.“
Das Gesichtlose legt uns beiden die Hand auf die Schulter. Die Berührung ist leicht, fast menschlich. Und dann hören wir sie. Alle auf einmal. Tausende von Stimmen. Flüstern. Rufen. Singen. Nicht laut. Aber unaufhörlich.
Sie sagen kein Wort. Aber sie erzählen alles.
Ich schließe die Augen.
Und das System atmet.
Die Stimmen der Tiefe
Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze. Vielleicht Minuten. Vielleicht Stunden. Zeit funktioniert hier nicht wie oben. Sie fließt nicht. Sie dehnt sich. Zieht Fäden aus einem selbst.
Die Stimmen rauschen durch meinen Kopf wie warmer Wind. Keine Sprache. Kein Satz. Nur ein Gefühl. Manchmal Trauer. Manchmal Verlangen. Manchmal… Hunger.
„Sie sind verbunden“, sagt Kael leise. „Alle. Das ganze System ist ein einziger Organismus. Die Menschen… die sind nicht tot. Sie sind Teil davon.“
„Freiwillig?“
Kael schaut mich an. Länger, als nötig wäre. Dann: „Ich weiß es nicht.“
Ich richte mich langsam auf. Spüre die Müdigkeit in meinen Knochen. Die Luft riecht nach altem Gummi und Kupfer. Und dazwischen – ganz leicht – so etwas wie Blut. Nicht frisch. Eher alt. Erinnerungsblut.
„Und was wollen sie von uns?“, frage ich.
Das Gesichtlose tritt vor. Hält die Hand über die Platte. Ein schwaches Licht breitet sich aus. Linien flammen auf. Ein Muster: konzentrische Kreise, unterbrochen von einem spitzen Winkel. Ich erkenne das Symbol. Es war auch auf dem Stück Stoff eingestickt, das wir gefunden hatten. Sektor 4. Biotechnik.
Dann verändert sich das Muster. Drei Kreise. Ein Punkt in der Mitte.
Kael atmet scharf ein. „Das ist der Atemkern.“
„Ich dachte, wir haben ihn schon gefunden.“
„Nein“, sagt er. „Was wir gesehen haben, war ein Katalysator. Eine Art Zünder. Der echte Kern liegt tiefer.“
Das Gesichtlose wendet sich zur Wand. Dort öffnet sich, ohne ein Geräusch, ein Durchgang. Dahinter: ein Aufzug. Antik. Zerkratzt. Mit Schachtrahmen aus verrostetem Stahl. Das Licht darin ist grünlich. Unruhig. Als würde es zittern.
„Sollen wir da wirklich rein?“, frage ich.
Kael zuckt mit den Schultern. „Wir sind schon zu tief drin. Zurück geht nicht mehr.“
Ich gehe vor. Der Aufzug riecht nach altem Leder und Feuchtigkeit. Kael kommt hinterher. Das Gesichtlose bleibt draußen, sieht uns nur an. Keine Geste. Keine Warnung.
Die Türen schließen sich langsam. Mit einem Atemzug. Und dann beginnt die Fahrt.
Sie ist lautlos. Aber ich spüre jede Etage. Wie ein Druckwechsel in meinem Schädel. Unten. Tiefer. Noch tiefer.
Ich sehe Kael an. Er ist bleich. Seine Hände zittern. Ich weiß nicht, ob vor Angst oder vor dem, was er erwartet.
„Was, wenn wir dort unten etwas wecken, das nicht mehr schläft?“, frage ich.
Er antwortet nicht.
Der Aufzug hält.
Die Türen öffnen sich.
Und dahinter liegt kein Raum.
Nur Dunkelheit.
Die Luft ist warm. Feucht. Und sie lebt.
Ich trete hinaus.
Und etwas darin atmet mich an.
Der Kern
Ich mache zwei Schritte in die Dunkelheit. Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich weich an. Warm. Nicht wie Erde. Eher wie etwas, das sich bewegt, wenn man nicht hinsieht.
Hinter mir summt der Aufzug, als wollte er sich jeden Moment wieder schließen. Aber Kael ist schneller. Er tritt neben mich, greift nach meiner Schulter. Nicht fest. Nur gerade so, dass ich weiß: Ich bin nicht allein.
Dann beginnt es.
Ein Licht. Direkt vor uns. Kein Glühen. Kein Strahlen. Es ist einfach da. Wie ein geöffnetes Auge in der Dunkelheit. Oval. Tiefgrün. Pulsierend.
„Das ist er“, sagt Kael. Flüstert fast. „Der Atemkern.“
Ich kann ihn kaum ansehen. Er ist zu… still. Zu vollkommen. Als hätte jemand die Idee eines Herzens genommen und sie aus Licht gebaut. Es schlägt nicht. Es… atmet. Wie eine Lunge, aber ohne Fleisch. Nur aus Energie. Nur aus Wille.
Um uns herum schälen sich langsam Strukturen aus dem Dunkel. Wände aus schwarzem Glas, von innen beschlagen. Dazwischen wachsen Röhren, wie gewachsene Wurzeln. Manche schlagen in den Boden, andere hängen in der Luft. Es ist kein Raum. Es ist ein Organ.
„Warum schlägt es nicht?“, frage ich.
Kael antwortet nicht. Er tritt näher. Hebt die Hand. Und sofort reagiert das Licht. Es verändert sich. Wird schneller. Nervöser. Als würde es Kael erkennen.
Ich will ihn zurückhalten, aber er legt die Hand auf das Herz. Nur kurz.
Es schießt ein Ruck durch den Raum. Ein Zucken. Als hätte jemand den Strom angemacht in einem toten Körper.
Und dann beginnt es.
Ein Flüstern. Wieder Stimmen. Aber nicht aus der Tiefe. Diesmal aus dem Kern selbst. Direkt in den Kopf. Kein Ton. Nur Bedeutung.
„Ihr seid nicht zu spät.“
„Aber ihr seid nicht die Ersten.“
Ich stolpere zurück. Kael fällt auf die Knie. Er zittert.
„Kael!“ Ich will zu ihm, aber der Boden verändert sich. Er pulsiert. Wie ein riesiger Muskel unter meinen Füßen. Das Licht wird stärker. Schneller. Die Temperatur steigt.
„Was seid ihr?“, schreie ich.
„Wir sind, was ihr verlasstet.“
„Wir sind Erinnerung. Wir sind die letzte Luft.“
Ich sehe, wie Kael sich wieder aufrichtet. Blut rinnt aus seiner Nase. Seine Augen sind weit.
„Es will sich binden“, sagt er. „Es braucht einen Anker. Einen Körper. Jemanden, der atmet.“
„Nein!“
Aber es ist zu spät. Das Licht bricht aus dem Kern. Trifft Kael. Umhüllt ihn. Nicht gewaltsam. Eher wie Wasser, das man atmet. Ich sehe seine Silhouette. Er schreit nicht. Er kämpft nicht.
Er nimmt es an.
Und das Herz beginnt zu schlagen.
Langsam. Schwer.
Aber es schlägt.
Die Lichter im Raum gehen an. Nacheinander. Wie ein Rückgrat, das sich wieder aufrichtet.
Ich trete zurück. Mein Puls rast. Alles zittert. Alles lebt.
Kael erhebt sich.
Aber es ist nicht mehr nur Kael.
Seine Stimme ist tief. Klar. Und nicht allein.
„Wir sind bereit“, sagt er.
Träger
Kael steht vor mir, aber sein Blick geht durch mich hindurch. Als sähe er gleichzeitig das hier und etwas, das viel weiter reicht. Seine Haut ist blasser als zuvor, fast durchscheinend. Und in seinem Hals pulsiert etwas – grün, rhythmisch, wie ein Lichtsignal unter der Haut.
„Kael?“, frage ich vorsichtig. Meine Stimme ist rau, mein Mund trocken. Der Raum riecht nach Ozon und altem Metall. Alles ist elektrisch aufgeladen.
„Ich bin da“, sagt er. „Aber ich bin nicht allein.“
Seine Stimme klingt doppelt. Ein Echo – aber nicht verzögert. Eher wie zwei Schichten, die übereinanderliegen. Ich weiß nicht, ob ich wegrennen oder ihn berühren soll.
„Was ist passiert?“, frage ich.
„Es… hat mich gewählt. Oder ich hab mich angeboten. Ich weiß es nicht genau.“
Er hält inne, atmet tief. Dann:
„Ich bin der Träger. Der Atemkern braucht einen Körper, um sich mit dem System zu verbinden. Einen, der nicht mehr ganz oben ist, aber auch noch nicht unten.“
Ich schüttele den Kopf. „Das klingt wie… wie Wahnsinn.“
„Vielleicht ist es das“, sagt er. „Oder es ist der einzige Weg, wie dieses Ding überleben kann. Es ist keine Maschine. Es ist Erinnerung. Und Leben. Und Schuld.“
Ich gehe langsam um ihn herum, betrachte ihn aus der Nähe. Der Kael, den ich kenne, steckt noch in diesem Körper. Aber etwas hat sich verschoben. Etwas Grundsätzliches. Wie bei einem Tier, das früher gezähmt war – und plötzlich wieder Zähne zeigt.
„Und was jetzt?“, frage ich. „Willst du dich hier anschließen? Einstecken? Verrotten mit den anderen?“
Sein Blick flackert. Für einen Moment sehe ich den alten Kael. Den müden, sturköpfigen Mann, der zu viel gesehen hat und trotzdem weitermacht.
„Nein“, sagt er. „Das Respirum will nicht hierbleiben. Es will zurück nach oben.“
„Was?“, stoße ich hervor.
„Die Luft dort oben stirbt. Langsam, aber sicher. Das System will sich wieder verbinden. Nicht unter der Erde. Sondern mit dem, was von oben übrig ist.“
Ich brauche einen Moment, um das zu begreifen. „Du willst es nach oben bringen?“
„Nicht ich.“ Er sieht mich an. „Wir. Du kennst die Wege. Die alten Schächte. Die unterbrochenen Linien. Du hast die Karten.“
Ich lache bitter. „Die Karten führen ins Nichts.“
„Nicht mehr. Jetzt führen sie zu mir.“
Ich schüttle den Kopf. Will fluchen. Will ihn schlagen. Aber ich tue nichts.
Das Licht im Raum wird dunkler. Als hätte das System genug gesagt. Der Atem verlangsamt sich wieder. Es wartet.
„Und wenn wir es schaffen?“, frage ich.
„Dann gibt’s eine neue Chance. Für oben. Für unten. Für uns.“
Ich blicke ihn an.
„Und wenn nicht?“
Seine Stimme ist plötzlich leise.
„Dann stirbt alles. Nur eben leise.“
Schächte
Der Aufzug bringt uns nicht zurück. Nicht mehr. Als hätte er seine Schuld getan. Er bleibt offenstehen, summt leise vor sich hin wie ein schlafendes Tier, das niemand wecken sollte.
Kael – oder was von ihm übrig ist – geht voraus. Seine Schritte sind ruhig, präzise, aber etwas daran ist verändert. Kein Zögern mehr. Kein Fluchen, wenn er gegen ein Rohr stößt. Als hätte das System selbst ihn in der Hand. Oder in den Füßen.
Ich folge ihm. Zähne zusammengebissen. Ich weiß nicht, ob ich ihm noch traue. Aber ich weiß, dass ich allein hier unten nicht wieder rausfinde. Und dass das, was in ihm lebt, keine Zeit verlieren will.
Der Gang, den er wählt, ist alt. Staubig. Rissig. Die Wände sind mit Zeichen überzogen – uralte Techniker-Markierungen, verwischt und übermalt. An manchen Stellen klebt schwarzer Schimmel. An anderen sickert etwas aus den Ritzen. Ich frage nicht.
„Wie willst du das Respirum nach oben bringen?“, frage ich.
Kael bleibt kurz stehen. Sieht mich nicht an.
„Ich bin es.“
„Du? Du bist der Kern?“
„Nicht nur. Ich bin die Verbindung. Das Bindeglied. Das Atmen beginnt in mir – aber es endet nicht hier.“
Ich schweige. Für einen Moment hören wir nur unsere Schritte. Dann ein Rauschen. Leise, kaum wahrnehmbar. Wie Wind in einer Leitung.
Wir erreichen eine Kammer. Rund, vielleicht sechs Meter im Durchmesser. In der Mitte: eine alte Wartungsluke. Darunter beginnt der Schacht. Ein Tunnel nach oben. Eng. Steil. Schwarz.
„Das ist Wahnsinn“, sage ich.
„Nein“, sagt Kael. „Das ist die Rückverbindung.“
Er kniet sich an die Luke. Öffnet sie mit bloßen Händen. Kein Knacken. Kein Widerstand. Das Metall gibt einfach nach. Als hätte es auf ihn gewartet.
„Wie weit geht das?“, frage ich.
„Bis an die Reste von Sektor 2. Da oben ist noch eine alte Luftsammelkammer. Wenn wir dort ankommen, kann das Respirum sich ausbreiten. Durch die Rohre. Durch das, was übrig ist.“
Ich starre in den Schacht. Ich sehe nichts. Aber ich spüre es. Das Vibrieren. Als würde sich etwas freuen, dass wir kommen. Oder fürchten, dass wir es tun.
„Es gibt keinen Rückweg“, sage ich.
„Gab es nie“, antwortet er.
Ich atme einmal tief ein. Die Luft riecht nach altem Stein. Nach Staub. Nach Kael.
Dann steige ich hinab.
Oder hinauf.
Ich weiß es nicht mehr.
Risse im Licht
Die Wände des Schachts sind eng. Zu eng. Meine Schultern streifen immer wieder an rostige Verstrebungen, die aus dem Mauerwerk ragen. Es riecht nach Eisen, Öl und etwas Süßlichem, das ich nicht einordnen kann. Kein Licht außer dem flackernden Glühen aus Kaels Körper, das wie eine Fackel vor mir durch den Tunnel treibt.
Er klettert ruhig. Gleichmäßig. Als würde ihn nichts berühren. Ich dagegen bin Schweiß und Krämpfe, meine Hände rutschen immer wieder ab. Die alten Griffe sind schleimig, viele gebrochen. Ein falscher Tritt – und ich falle. Weit.
„Wie lange noch?“, rufe ich keuchend.
„Nicht weit“, sagt Kael. Seine Stimme klingt entfernt. Und doppelt.
Ich halte kurz inne. Höre. Da ist etwas. Über uns.
Ein Klopfen. Regelmäßig. Mechanisch.
Wie ein Herzschlag.
Aber aus Metall.
„Hörst du das?“, frage ich.
Kael nickt nur.
Wir klettern weiter. Meter um Meter. Der Schacht verengt sich an einer Stelle so sehr, dass ich fast stecken bleibe. Panik kriecht mir in den Nacken. Ich spüre das Atmen der Wände. Als ob sie sich bewegen. Als ob sie spüren, dass ich durch sie hindurch will.
Dann – plötzlich – Licht.
Nicht von Kael. Nicht von mir. Sondern echtes, grelles Licht, das durch eine Ritze in der Wand fällt. Ich halte inne, presse mein Auge an den Spalt. Draußen: eine Halle. Groß. Helles Neonlicht. Flackernd. Und Menschen. Drei vielleicht. In weißen Anzügen. Masken. Sie bewegen sich langsam. Abgestimmt.
Ich drehe mich zu Kael. „Da sind Leute.“
Er bleibt stehen. „Wächter.“
„Vom System?“
„Vom Rest.“
Ich sehe ihn fragend an.
„Die Obenleute haben gewusst, dass es unter der Erde noch Leben gibt“, sagt er. „Sie wollten es kontrollieren. Oder löschen. Die, die du da siehst – das sind Überbleibsel. Restmannschaften. Techniker, die zu lange unten waren. Die sich angepasst haben. Und alles töten, was nicht zu ihnen gehört.“
„Und wenn sie uns sehen?“
„Dann war’s das.“
Ich schlucke. Meine Kehle ist trocken wie Asche. Wir müssen durch die Wand. Weiter hinauf. Weg von dieser Öffnung.
Kael tastet sich an den Spalt heran. Eine seiner Hände beginnt zu glühen. Hell. Grünlich. Das Licht fließt in das Metall, als würde es schmelzen. Ein Zugang entsteht. Lautlos.
„Jetzt“, sagt er.
Ich krieche hindurch. Schnell. Geduckt. Keine Zeit für Zweifel. Die Halle ist leer in dem Moment, in dem wir sie betreten. Die Wächter sind verschwunden. Nur der Geruch bleibt: Desinfektionsmittel und etwas anderes, Bitteres. Wie verbranntes Gummi.
Kael dreht sich langsam. Seine Augen – wenn man sie noch so nennen kann – leuchten nun durchgehend. Und das System, das in ihm schlägt, scheint zu wachsen.
„Hier ist es“, sagt er.
„Was?“, frage ich.
Er zeigt auf ein altes Terminal. In die Wand eingelassen. Staubig. Aber intakt.
„Hier endet der Kreislauf.“
Ich trete näher. Auf dem Bildschirm steht nur ein Wort:
ZUGANG ERKANNT.
Darunter blinkt ein Feld.
ATMUNG FREIGEBEN?
Ich sehe Kael an.
Er sieht mich.
Dann nickt er.
Ich hebe die Hand.
Und drücke.
Freisetzung
Als mein Finger das Feld berührt, ist es, als würde der Raum für einen Moment anhalten. Die Geräusche – das leise Summen der Wände, das tropfende Kondenswasser – sie frieren ein. Selbst die Luft scheint still zu stehen.
Dann ein Knacken. Erst dumpf. Dann hell.
Irgendwo über uns beginnt etwas zu rotieren.
ATMUNG FREIGEGEBEN, blinkt es auf dem Terminal.
INITIATION LÄUFT.
Kael geht in die Knie. Nicht vor Schmerz, sondern aus Konzentration. Die Linien unter seiner Haut beginnen heller zu leuchten. Seine Augen schließen sich, die Hände flach auf dem Boden. Er murmelt etwas – keine Sprache, eher ein rhythmisches Flüstern, das mit dem Puls des Raumes mitschwingt.
Ich taste nach Halt. Der Boden unter mir vibriert. Tief, gleichmäßig. Als würde ein altes System neu starten. Und dann – ein Geräusch, das ich nie vergessen werde: der erste tiefe Atemzug des Gebäudes.
Die Wände ziehen sich leicht zusammen. Dann wieder auseinander. Staub wirbelt auf. Alte Leitungen geben ein kehliges Zischen von sich.
Etwas lebt.
Etwas war nie ganz tot.
„Kael!“, rufe ich gegen das Dröhnen. „Was passiert?“
Er öffnet die Augen. Sie sind komplett grün. Keine Iris. Keine Pupille. Nur Energie.
„Die Verbindung steht“, sagt er. „Jetzt strömt es zurück. In die oberen Kammern. In die Zirkulation. Wenn wir schnell sind, erreichen wir den Verteiler, bevor die Wächter es merken.“
Ich renne ihm hinterher. Durch Flure, die aufblitzen, als wir sie passieren. Türen öffnen sich ohne Berührung. Die Technik atmet mit uns, für uns. Oder wegen uns.
Dann: ein Schlag.
Hinter uns. Schwer. Metall auf Metall. Schritte. Hastig. Mechanisch.
„Sie wissen es“, keuche ich.
„Lauf“, sagt Kael.
Wir erreichen eine Schleuse. Über ihr blinkt: SEKTOR 2 – ATMUNGSKNOTEN
Kael legt die Hand auf das Feld. Nichts passiert.
Noch einmal.
„Es blockiert“, sage ich.
„Nein“, murmelt Kael. „Es prüft.“
Und dann öffnet sich die Tür.
Was dahinter liegt, ist kein Raum.
Es ist eine Lunge.
Eine riesige. Organisch-technisch, gefaltet, feucht glänzend. In der Mitte ein System aus Röhren, das pulsiert. Die Luft ist schwer, aber rein. Ich atme ein – und es brennt in der Brust. Frisch. Echt.
„Das ist der Verteiler“, sagt Kael. „Wenn wir es hier aktivieren, verteilt sich der Atem nach oben. Die Stationen werden wach. Die Filter neu bespielt. Die Oberfläche kriegt eine zweite Chance.“
Ich sehe ihn an.
„Und du?“
Er lächelt. Traurig. Aber klar.
„Ich bin Teil des Atems. Ich bleibe hier. Wenn ich gehe, stirbt es.“
Ich gehe auf ihn zu. Will widersprechen. Aber da sind sie. Die Wächter. Durch die geöffnete Schleuse. Drei Gestalten. Maskiert. Mit langen Metallinstrumenten in den Händen.
Sie sehen uns. Kein Zögern.
Kael stellt sich vor das Terminal.
„Nira“, sagt er. „Drück den Schalter.“
„Aber–“
„Mach.“
Ich sehe in seine Augen. Zum letzten Mal.
Dann drücke ich.
Ein greller Blitz.
Ein Ton wie zerreißendes Fleisch.
Und das Respirum beginnt zu fluten.
Kapitel 13: Austritt
Ich weiß nicht, wie ich es aus dem Knotenraum schaffe. Meine Beine bewegen sich, aber ich spüre sie nicht. Die Luft brennt in der Lunge, wie zu viel Wahrheit auf einmal. Hinter mir das Dröhnen der Schleuse, das grelle Licht, Kaels Stimme – oder etwas, das von ihm geblieben ist.
Der Gang, durch den ich fliehe, verändert sich. Die Wände sind nicht mehr starr. Sie zittern. Ziehen sich zurück wie Muskelgewebe nach einem Stromstoß. Überall glimmt Licht – nicht künstlich, sondern wie Biolumineszenz. Als wäre das System stolz. Als würde es sagen: „Ich lebe.“
Und doch… ich höre sie noch. Die Schritte. Die Wächter. Nicht alle sind gefallen. Nicht alle haben Kaels Opfertat aufgehalten.
Ich hetze durch eine Wartungsschleife. Alte Pläne in meinem Kopf. Ich war früher oft in den untersten Ebenen. Karten gelesen. Schächte markiert. Ich kenne einen Weg nach oben. Nicht offiziell. Nicht ungefährlich.
Der Ausgang heißt Linie 7a. In alten Zeiten war es ein Fluchtrohr – für Druckausgleich, nicht für Menschen. Aber jetzt ist alles egal. Ich schiebe mich hinein. Krieche. Taste. Atme flach. Hinter mir das Geräusch von Stahl auf Boden.
Dann Stille.
Ich schließe die Augen. Spüre den Puls des Systems um mich herum. Und… etwas anderes. Eine Wärme. Wie eine Stimme. Ohne Sprache. Aber mit Bedeutung.
„Du trägst ihn jetzt.“
Ich begreife nicht sofort.
Dann: Ja.
Kael ist nicht fort. Nicht ganz.
Etwas von ihm ist in mir.
Ein Funken. Ein Restlicht.
Ich beiße die Zähne zusammen, rutsche weiter. Irgendwann bricht das Rohr auf. Über mir: eine Luke. Ich drücke. Sie gibt nach. Knirscht. Und dann: Licht.
Natürlich kein Sonnenlicht. Nur der Himmel von oben – grau, verwaschen, aber offen. Ich taste nach dem Rand. Ziehe mich hoch.
Und stehe im Wind.
Er ist schwach. Aber er trägt etwas mit sich.
Etwas Neues.
Etwas Reines.
Ich blicke zurück in das Rohr.
„Danke“, flüstere ich.
Dann drehe ich mich um.
Vor mir: das zerstörte Reststück von Sektor 2. Trümmer. Verlassene Gebäude. Aber dazwischen – erste Bewegung. Lichter flackern. Anzeigen blinken. Systeme springen an.
Und in der Ferne – eine Gestalt. Kindlich. Mager. Steht im Türrahmen eines zerborstenen Häuschens. Sie sieht mich. Dann hebt sie langsam die Hand.
Ich tue es auch.
Die Luft zwischen uns ist klar.
Und das System – es atmet weiter.
Austritt
Ich weiß nicht, wie ich es aus dem Knotenraum schaffe. Meine Beine bewegen sich, aber ich spüre sie nicht. Die Luft brennt in der Lunge, wie zu viel Wahrheit auf einmal. Hinter mir das Dröhnen der Schleuse, das grelle Licht, Kaels Stimme – oder etwas, das von ihm geblieben ist.
Der Gang, durch den ich fliehe, verändert sich. Die Wände sind nicht mehr starr. Sie zittern. Ziehen sich zurück wie Muskelgewebe nach einem Stromstoß. Überall glimmt Licht – nicht künstlich, sondern wie Biolumineszenz. Als wäre das System stolz. Als würde es sagen: „Ich lebe.“
Und doch… ich höre sie noch. Die Schritte. Die Wächter. Nicht alle sind gefallen. Nicht alle haben Kaels Opfertat aufgehalten.
Ich hetze durch eine Wartungsschleife. Alte Pläne in meinem Kopf. Ich war früher oft in den untersten Ebenen. Karten gelesen. Schächte markiert. Ich kenne einen Weg nach oben. Nicht offiziell. Nicht ungefährlich.
Der Ausgang heißt Linie 7a. In alten Zeiten war es ein Fluchtrohr – für Druckausgleich, nicht für Menschen. Aber jetzt ist alles egal. Ich schiebe mich hinein. Krieche. Taste. Atme flach. Hinter mir das Geräusch von Stahl auf Boden.
Dann Stille.
Ich schließe die Augen. Spüre den Puls des Systems um mich herum. Und… etwas anderes. Eine Wärme. Wie eine Stimme. Ohne Sprache. Aber mit Bedeutung.
„Du trägst ihn jetzt.“
Ich begreife nicht sofort.
Dann: Ja.
Kael ist nicht fort. Nicht ganz.
Etwas von ihm ist in mir.
Ein Funken. Ein Restlicht.
Ich beiße die Zähne zusammen, rutsche weiter. Irgendwann bricht das Rohr auf. Über mir: eine Luke. Ich drücke. Sie gibt nach. Knirscht. Und dann: Licht.
Natürlich kein Sonnenlicht. Nur der Himmel von oben – grau, verwaschen, aber offen. Ich taste nach dem Rand. Ziehe mich hoch.
Und stehe im Wind.
Er ist schwach. Aber er trägt etwas mit sich.
Etwas Neues.
Etwas Reines.
Ich blicke zurück in das Rohr.
„Danke“, flüstere ich.
Dann drehe ich mich um.
Vor mir: das zerstörte Reststück von Sektor 2. Trümmer. Verlassene Gebäude. Aber dazwischen – erste Bewegung. Lichter flackern. Anzeigen blinken. Systeme springen an.
Und in der Ferne – eine Gestalt. Kindlich. Mager. Steht im Türrahmen eines zerborstenen Häuschens. Sie sieht mich. Dann hebt sie langsam die Hand.
Ich tue es auch.
Die Luft zwischen uns ist klar.
Und das System – es atmet weiter.
Restlicht
Die Tage danach vergehen in verschwommenen Stunden. Ich schlafe nicht. Nicht richtig. Aber ich träume. Von Licht, das atmet. Von Wurzeln aus Glas. Von Kael, der nicht mehr spricht, aber durch alles fließt, was lebt.
Ich ziehe durch die Reste. Sektor 2 ist nicht tot, nur still. Wie jemand, der lange geschlafen hat und sich erst wieder erinnert, wie man aufsteht. Die Systeme flackern, aber sie laufen. Die Luft ist nicht sauber, aber sie ist tragbar. Ich atme sie. Und ich bleibe.
Die Leute kommen aus den Ruinen. Langsam, vorsichtig. Sie tragen Masken, aber manche nehmen sie ab, testen die Luft mit vorsichtigen Zügen. Und dann… bleiben sie stehen. Sehen sich um. Als könnten sie kaum glauben, dass etwas überlebt hat.
Ich erzähle nicht viel. Nur das Nötigste.
Ich sage nicht, dass das System ein Herz hat. Dass es lebt. Dass ein Mensch sich dafür geopfert hat. Dass ich ihn immer noch in mir spüre, wie ein zweiter Takt in der Brust.
Ich sage nur: „Es gibt wieder Atem.“
Ein Mädchen fragt mich, woher ich komme. Ich antworte: „Von unten.“
Sie nickt, als hätte sie das schon gewusst. Und nimmt meine Hand.
Irgendwann, als der Himmel klarer wird – nicht blau, aber weniger grau –, sehe ich einen Vogel. Echte Flügel. Kein Drohnenschatten. Er fliegt in Kreisen, langsam, gemächlich, als wolle er prüfen, ob die Welt ihn noch verdient.
Ich gehe weiter. Durch die Felder aus Trümmern. Die Schächte atmen noch, leise, aber regelmäßig. Wie etwas, das gelernt hat, sich selbst am Leben zu halten. Vielleicht bin ich nur ein Teil davon. Ein Kanal. Eine Erinnerung mit Füßen.
Abends sitze ich auf einem umgestürzten Tankdeckel und sehe in den Himmel.
Kaels Stimme höre ich nicht mehr. Aber ich weiß, er ist da.
Nicht in Worten. Sondern in allem, was jetzt wächst. In jedem Atemzug, der nicht mehr brennt. In jedem Kind, das lacht, ohne Sauerstoffflasche.
Manchmal glaube ich, das Licht unter meiner Haut leuchtet kurz auf, wenn ich einschlafe.
Dann weiß ich:
Der Staub legt sich.
Aber wir sind noch da.
Wir atmen.