As Time Goes By

Kein Ort für Heimkehr

Die Kapelle

Ich wache auf mit einem Kloß im Hals und Erde unter den Fingernägeln. Mein Rücken klebt an kaltem Stein, und ich weiß nicht, wie lange ich schon hier sitze. Vielleicht Minuten. Vielleicht Tage. Das Licht ist grau – eine Art Dämmerung, die sich weigert, Nacht oder Morgen zu sein. Mein Atem geht flach, wie durch ein Sieb gepresst. In der Luft liegt ein modriger Geruch, vermischt mit altem Weihrauch und etwas, das ich nicht zuordnen kann. Vielleicht Verfall. Vielleicht Erinnerung.

Die Decke um meine Schultern ist schwer von Feuchtigkeit, riecht nach Kellern, nach Unberührtem. Ich zieh sie fester um mich, als könnte sie die Kälte aus meinen Knochen ziehen. Meine Beine zittern, obwohl ich kaum das Gefühl habe, dass sie noch zu mir gehören. Die Jeans ist zerrissen, das Knie blutet getrocknet. Ich kann mich nicht erinnern, wie das passiert ist. Ich kann mich an wenig erinnern.

Die Kapelle ist nur noch eine Hülle. Der Putz bröckelt in dünnen Schichten von den Wänden, als würde das Gebäude sich häuten. Die Fenster sind nur noch Öffnungen. Kein Glas mehr. Nur Rahmen, die das Licht durchlassen, das zu flach ist für Hoffnung. Ich lehne den Kopf an die Wand. Kalter Stein. Rissig. Ich schließe die Augen. Vielleicht war alles ein Traum. Vielleicht bin ich im falschen Film. Oder im letzten Kapitel von etwas, das ich nie gelesen habe.

Ich versuche, mich zu erinnern. An gestern. An davor. An irgendetwas, das mir einen Namen gibt. Aber da ist nichts als ein dumpfes Pochen im Hinterkopf und ein einziger, loser Gedanke, der immer wieder kommt, ohne sich festhalten zu lassen. Wie Nebel: „Nicht wieder zurück … nie wieder.“

Und trotzdem bin ich hier.

Ein leiser Ton durchbricht die Stille. Ganz schwach. Wie ein Atemzug, den man in der Dunkelheit hört, wenn man sich sicher ist, allein zu sein. Ich halte die Luft an. Lausche. Doch da ist nur mein Herz, das zu laut schlägt. Vielleicht war’s nur der Wind. Oder mein Kopf spielt mir wieder Streiche. Hat er früher auch schon gemacht. Als ich noch wusste, wer ich war.

Ich zwinge mich aufzustehen. Wacklig. Jeder Muskel protestiert. Die Decke rutscht von meinen Schultern. Ich lasse sie liegen. Sie gehört hierher, nicht zu mir. Ich gehe ein paar Schritte in Richtung Altar – oder das, was davon übrig ist. Eine halb eingestürzte Plattform, von Moos überwachsen, mit einer Marmorplatte, die aussieht, als hätte jemand sie zerschlagen. Mit Absicht. Oder in Panik.

Auf dem Boden liegen Seiten. Pergament? Papier? Keine Ahnung. Ich bücke mich langsam. Greife nach einer. Die Schrift ist blass, aber lesbar. Eine krakelige Handschrift, eingerahmt von Tintenflecken.

Nur ein Satz.

„Wer hierher zurückkehrt, war nie wirklich fort.“

Ich starre darauf, bis sich die Buchstaben zu bewegen scheinen.

Dann flüstere ich:
„Ich bin doch gegangen … oder?“

Der Laut

Ich bleibe lange stehen, die Pergamentseite noch in der Hand. Der Satz kriecht mir unter die Haut, legt sich wie feuchter Stoff auf mein Denken. „Nie wirklich fort“ – was soll das heißen? Ich kann mich kaum an mein eigenes Gesicht erinnern, aber irgendein verdammter Satz auf verrottetem Papier weiß mehr über mich als ich selbst?

Ein dumpfes Grollen geht durch die Wände. Nicht laut. Eher so, als würde das alte Mauerwerk sich strecken. Oder seufzen. Oder beides. Ich drehe mich langsam um. Kein Mensch da. Natürlich nicht. Ich bin allein hier. Wahrscheinlich. Vielleicht.

Trotzdem horche ich wieder. Und da ist es wieder. Dieses Geräusch.

Leise. Kratzend. Irgendwo hinter der Sakristei.

Ich gehe ein paar Schritte rückwärts, bis mein Rücken wieder die Wand berührt. Herz schlägt mir bis zum Hals, mein Mund ist trocken. Der Ton ist nicht mehr da. Oder? Ich kann’s nicht sagen. Vielleicht ist es in mir drin. Vielleicht ist’s mein Hirn, das nach außen drängt.

Ich presse die Hände auf meine Ohren. Ein Trick, den ich mal irgendwo gelernt hab. Wenn man die Stille hören will, muss man den eigenen Körper leiser machen. Aber was ich dann höre, ist schlimmer: mein eigener Atem, flach und kurz, wie von jemandem, der sich versteckt. Oder gleich aufgibt.

Ich reiße die Tür zur Sakristei auf. Nicht mutig. Nur wütend. Ich hasse es, Angst zu haben.

Innen alles dunkel. Der Putz hängt in Fetzen. Reste von Stoffen, vielleicht alte Messgewänder, schimmeln an der Wand. Und da, in der Ecke – eine Art Haken, an dem irgendwas hängt. Oder hing. Jetzt leer.

Und dann: der Laut.

Ganz nah. Als hätte jemand mit den Fingern über feuchten Stein gekratzt. Langsam. Zögernd.

„Hallo?“ Meine Stimme klingt fremd in der Kapelle. Nicht wie ein Ruf. Eher wie eine Frage an mich selbst. Keine Antwort.

Ich gehe zurück in den Hauptraum, hebe die Decke auf. Ich brauche das Ding. Nicht wegen der Kälte. Sondern weil es irgendetwas zum Festhalten ist. Etwas, das ich spüren kann, wenn der Rest verschwimmt.

Wieder dieses Geräusch.

Diesmal eindeutig: Schritte. Nicht schwer. Aber echt. Nicht in meinem Kopf.

Ich drehe mich im Kreis. Alles still. Licht fällt durch das Fenster und zeichnet ein Gitternetz auf den Boden. Nichts bewegt sich. Und doch ist da etwas. Eine Anwesenheit. Eine Ahnung.

Ich setze mich zurück auf den Boden. Ziehe die Decke über die Knie. Warte. Auf das Geräusch. Auf Erinnerung. Auf den Moment, in dem alles wieder Sinn macht. Wenn er denn kommt.

Und während ich da sitze, fällt mir plötzlich ein Name ein. Nicht meiner. Aber wichtig. Schwer. Wie aus Stein gemeißelt:

„Lina.“

Ich flüstere ihn. Und der Laut antwortet nicht.

Splitter im Kopf

Lina. Der Name hängt in der Luft wie Rauch, der nicht abzieht. Ich weiß nicht, wer sie ist. Oder war. Vielleicht eine Schwester. Vielleicht nur ein Gedanke, der sich verselbständigt hat. Aber mein Herz zieht sich zusammen, als hätte jemand einen Knoten darin enger gezogen.

Ich streichle über das Pergament in meiner Tasche. Der Satz darauf brennt inzwischen in meinen Gedanken wie eine Mahnung. Ich wollte nie zurück. Ich weiß es jetzt. Irgendetwas in mir wehrt sich gegen diesen Ort. Gegen das, was er in mir aufrührt.

Aber mein Kopf spielt nicht mit.

Da sind Bilder, die nicht zusammenpassen. Bruchstücke. Splitter. Wie Glas im Schuh, das man erst bemerkt, wenn’s schon blutet.

Eine Küche mit gelben Kacheln.
Ein Fenster, das auf eine verlassene Straße schaut.
Eine Hand, die meine schlägt – nicht grob. Nur panisch.
Und dann Stille. Ganz viel Stille.
Und eine Stimme, die sagt:
„Du darfst nicht wieder dorthin zurück.“

Aber was, wenn ich nie wirklich weg war?

Ich stehe auf, taumle zwei Schritte, lehne mich an eine Säule, die mehr Riss als Stein ist. Mein Körper ist schwer, müde. Aber es ist mehr als Erschöpfung. Als hätte ich ein Gewicht mit mir getragen, das kein anderer sieht. Etwas Altes. Etwas, das mir nicht gehört, aber in mir wohnt.

Ich ziehe ein Stück Stoff aus der Kapuze meiner Jacke. Es ist eingerissen, blutverkrustet. Mein Atem stockt. Ich weiß, dass es Lina war. Sie hatte diese Jacke an. Oder ich habe sie ihr gegeben. Irgendwann. Irgendwo.

Und dann höre ich es wieder. Kein Schritt diesmal. Kein Kratzen.

Sondern ein Summen.

Ganz leise. Wie ein Kinderlied. Verstimmt. Zerbrochen. Es kommt aus der Wand. Aus einem Riss im Mauerwerk direkt neben dem Altar. Ich knie mich davor. Lege mein Ohr an den Stein.

Ein Flüstern.

Nicht viele Worte. Nur eins. Immer wieder.

„Zurück… zurück… zurück…“

Ich beiße mir auf die Lippe, bis ich Blut schmecke. Will den Laut auslöschen mit Schmerz. Aber er bleibt. Hartnäckig wie eine Erinnerung, die man wegsperren wollte, aber der Schlüssel bricht im Schloss ab.

Ich schreie.

Nicht laut. Nur für mich. Innen. Und es tut weh. Weil es sich anfühlt, als hätte ich das schon oft gemacht. Und nie hat’s jemand gehört.

Das Buch unter dem Altar

Ich will weg von dem Flüstern. Weg von diesem verdammten Klang, der wie ein Echo in mir bleibt, auch wenn ich mir die Ohren zuhalte. Ich taumle rückwärts, bis ich mit dem Rücken gegen das alte Altarpodest stoße. Der Stein ist rau, bricht mir fast die Haut auf, aber das ist mir egal. Ich brauche was Echtes. Etwas, das nicht flimmert oder summt oder aus der Wand kriecht.

Und dann sehe ich es.

Zwischen zwei lose aufeinandergelegten Steinplatten, halb verdeckt von Schutt und Staub – da steckt ein Buch. Alt. Zerschlissen. Das Leder ist rissig, an einer Ecke verbrannt. Ich weiß nicht, was mich zwingt, es herauszuziehen. Vielleicht Neugier. Vielleicht etwas anderes. Etwas, das schon vor mir hier war.

Es riecht nach Moder und altem Feuer. Schwerer Geruch, wie aus einem Grab. Ich blättere durch die Seiten. Fast alles ist leer. Nur vereinzelt sind Sätze notiert. Keine Kapitel. Kein Titel. Kein klarer Anfang.

Nur Fragmente. Fragen. Namen. Gekritzeltes Zeug.

Und dann, auf Seite siebenundvierzig, stocke ich.

Eine Zeichnung. Grob, aber eindeutig: die Kapelle. Von außen. Mit all ihren Rissen, den fehlenden Fenstern, dem eingestürzten Dach – genau wie jetzt. Und darunter eine Notiz:

„Wer das Buch findet, war schon einmal hier.
Wer es liest, wird nie wieder derselbe sein.“

Ich streiche mit dem Finger über die Zeile. Die Tinte ist verschmiert. Frisch? Unmöglich. Und doch – sie riecht metallisch, wie Blut.

Plötzlich flackert das Licht durch die Fenster. Nur für einen Moment. Als hätte jemand draußen mit einem Spiegel geblendet. Ich zucke zusammen. Halte den Atem an. Da ist nichts. Niemand.

Aber als ich wieder auf das Buch sehe, steht da etwas Neues. Eine Zeile, die vorhin nicht da war:

„Lina hat dich gesucht.“

Mir entgleiten die Finger. Das Buch schlägt zu, als hätte es genug von mir.

Ich bin nicht allein hier.

Nicht wirklich.

Und vielleicht war ich es nie.

Ein zweiter Schatten

Ich trage das Buch wie einen Stein in der Hand, schwer und rau, als könnte es mir entgleiten, wenn ich es zu fest halte. Ich weiß nicht, wie der Satz hineingekommen ist. Ob ich ihn verdrängt habe. Ob ich selbst ihn geschrieben habe. Vielleicht hat das Buch keine Tinte. Vielleicht schreibt es mit dem, was in mir war, bevor ich mich vergessen habe.

Ich laufe zurück zur Tür, die zur Sakristei führt. Irgendetwas zieht mich dorthin. Oder stößt mich. Ich kann den Unterschied nicht mehr benennen. Jeder Schritt hallt dumpf auf dem Steinboden, aber das Echo passt nicht zu meinen Bewegungen. Es hinkt. Es ist zu spät dran. Oder zu früh.

Als würde noch jemand gehen. Neben mir. Hinter mir.

Ich bleibe stehen.

Das Echo bleibt nicht stehen.

Ich drehe mich ruckartig um.

Nichts.

Nur Licht, das durch die Fenster schneidet wie Glas. Staub tanzt darin. Ich bilde mir ein, dass einer der Schatten sich langsamer bewegt als der Rest. Beharrlich. Wie ein Tier, das wartet.

Ich trete in die Sakristei. Die Luft ist dicker hier, schwerer, wie in einem Raum, in dem zu lange jemand geweint hat. Auf dem Boden liegen Scherben. Ich habe sie vorher nicht gesehen. Vielleicht habe ich sie auch zerschlagen. Keine Ahnung. Alles ist brüchig in meinem Kopf.

Ich sehe ihn nicht.

Ich spüre ihn.

Ein Schatten an der Wand. Zuerst dachte ich, er wäre meiner. Aber er bewegt sich anders. Versetzt. Unabhängig. Er hat Schultern, die meine nicht haben. Und er hebt eine Hand – bevor ich es tue.

Ich gehe rückwärts, bis ich den Türrahmen spüre. Bleibe stehen. Starre. Der Schatten bleibt. Tut nichts. Schwebt an der Wand wie eine alte Erinnerung, die zu schwer ist, um sich ganz aufzulösen.

Ich sage nichts. Ich frage nichts.

Und doch höre ich Worte. In meinem Kopf. Nicht meine Stimme. Zu leise, um klar zu sein. Zu deutlich, um Zufall zu sein.

„Du hast versprochen, zurückzukommen.“

Der Schatten bleibt, als ich die Tür schließe. Er folgt nicht. Noch nicht.

Zurück im Hauptschiff der Kapelle setze ich mich. Das Buch auf den Knien. Ich schlage Seite siebenundvierzig wieder auf.

Da ist ein neuer Satz.

„Er weiß, dass du dich erinnerst.“

Ich will schreien. Will weinen. Aber es kommt nichts. Kein Laut. Keine Träne. Nur ein Gedanke:

Was, wenn das hier nie ein Ort war?
Sondern ein Zustand.

M und die Dunkelheit

Ich schreibe den Buchstaben mit dem Finger in den Staub auf dem Boden: M.
Und wieder.
Und nochmal.
Bis er sich auflöst. Wie ich.

Es ist der einzige Buchstabe, der bleibt, wenn alles andere verschwimmt. Ich weiß nicht, ob es mein Name war oder ihrer. Oder seiner. Oder ein Ort. Vielleicht nur ein Laut, den ich als Letztes gehört habe, bevor es dunkel wurde.

Ich taste nach dem Buch. Die Seiten sind kalt wie Metall. Als würde ich in etwas greifen, das nicht geschrieben wurde, sondern gegossen. Ich blättere ziellos. Irgendwo zwischen Seite 63 und 70: nur ein Satz, eingeritzt, nicht geschrieben.

„Der Name ist der Schlüssel. Aber auch die Tür.“

Ich flüstere: „Mara?“
Mein Herz schlägt schneller. Aber nichts passiert. Keine Offenbarung. Kein Blitzen hinter der Stirn.

Vielleicht heiße ich so. Vielleicht auch nicht. Ich probiere andere aus.

„Mia.“
„Milena.“
„Malou.“
Keiner klingt richtig. Keiner klingt falsch.

Dann flackert das Licht wieder. Als hätte jemand draußen kurz den Himmel gedimmt. Ich zucke zusammen. Schaue hoch. Die Fenster sind nur schwarze Löcher im Mauerwerk. Kein Glas. Keine Erklärung.

Ich ziehe die Decke wieder enger. Nicht wegen der Kälte. Sondern weil es dunkler wird. Zu schnell. Zu früh.
Die Schatten in den Ecken dehnen sich. Oder rücken näher. Ich bilde mir ein, dass der Schatten aus der Sakristei sich jetzt vervielfacht hat.
Einer links von mir.
Einer hinter dem Altar.
Einer direkt unter der bröckelnden Kuppel.

Sie bewegen sich nicht.

Aber ich weiß, dass sie da sind.

Ich flüstere „M“, wie ein Mantra. Wie eine Waffe. Es klingt nach nichts. Aber es ist alles, was ich habe.

Dann passiert es.
Ein Geräusch. Kein Schritt. Kein Kratzen.

Ein Atemzug.
Dicht bei meinem Ohr.

Ich drehe mich ruckartig um. Da ist niemand. Natürlich nicht. Oder? Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich der Schatten. Vielleicht sitze ich hier nicht mehr – vielleicht war ich nie hier.

Die Dunkelheit kriecht an mir hoch wie Wasser in einem sinkenden Boot.

Und dann, ganz leise, fast zärtlich, höre ich die Stimme wieder. Diesmal klarer.
Eine Frau.
Warm.
Traurig.

„Du hast mich vergessen.“

Ich schlucke. Antworte nicht.

Denn ich glaube, sie hat recht.

Die Tür ohne Schloss

Ich verlasse den Platz vor dem Altar wie in Trance. Die Decke schleift über den Boden, fängt Staub und Asche, als würde sie mir eine Spur hinterherziehen. Ich gehe, weil ich nicht bleiben kann. Nicht da, wo Schatten atmen und Stimmen wissen, wie ich heiße, bevor ich’s selbst weiß.

Der Gang hinter der Sakristei war mir vorher nicht aufgefallen. Er ist schmal, gedrückt, fast zu eng für meinen Körper, als wäre er nicht für Menschen gebaut worden. Nur für Gedanken. Oder Erinnerungen. Die Wände sind feucht. Nicht nass, eher klamm, als hätten sie jahrzehntelang geschwiegen.

Ich taste mich vorwärts. Schritte hallen nicht. Sie werden verschluckt. Kein Echo. Kein Laut. Nur mein Atem, der irgendwann auch zu verschwinden scheint.

Dann stehe ich vor einer Tür.

Keine Klinke. Kein Riegel. Nur ein flacher, glatter Rahmen im Mauerwerk.
Als hätte man vergessen, sie fertig zu machen.
Oder als wollte man, dass nur die reinkommen, die sich erinnern.

Ich lege meine Hand auf das Holz. Warm. Viel zu warm. Wie Haut.
Ein Flüstern, kaum hörbar:
„Bist du bereit?“

Ich zucke zurück. Der Laut kam nicht von außen. Er kam von der Tür. Von innen. Vielleicht auch aus mir selbst.

Ich sage nichts. Ziehe die Hand nicht ganz weg. Atme durch. Und drücke.

Die Tür öffnet sich lautlos. Dahinter nichts. Kein Raum. Keine Wand. Nur Dunkelheit. Nicht schwarz. Sondern voll. Eine Dunkelheit, die nicht leer ist, sondern überfüllt. Mit Dingen, die ich nicht sehen will. Vielleicht kenne.

Ich will mich abwenden.

Aber etwas zieht mich.

Nicht an den Armen. Nicht körperlich.

Sondern mit einem Gefühl.

Da ist jemand. Oder etwas. In der Dunkelheit.

Wartet.

Atmet.

Flüstert.

„Lina.“

Ich trete hinein.

Und alles kippt.

Fiebernächte

Ich falle nicht.

Ich sinke.

Langsam. Lautlos. Wie in Wasser. Nur dass es keine Kälte gibt. Keine Richtung. Nur Dunkelheit, die pulsiert, als hätte sie einen eigenen Herzschlag. Ich will schreien, aber mein Körper hat den Befehl vergessen. Ich bin Haut ohne Stimme, Geist ohne Koordinaten.

Dann bin ich wieder da.

Nicht wach. Nicht bewusst. Nur… da.

Die Kapelle ist verschwunden. Oder sie ist in mir. Ich liege auf etwas Weichem – Stoff, Moos, vielleicht auch nur Einbildung. Über mir keine Decke, nur flackerndes Licht. Als würde Feuer über Wasser tanzen. Oder über meine Gedanken.

Ich habe Fieber. Ich weiß es, weil die Bilder nicht mehr auseinanderzuhalten sind.

Ein Gesicht. Lina. Lachend. Oder weinend. Ich kann’s nicht sagen. Ihre Haare sind nass, kleben an der Stirn. Ich höre sie sagen:
„Du darfst nicht vergessen.“

Dann ein anderes Bild. Ein Fenster, zugeschlagen vom Wind. Dahinter ein Mann – zu weit weg, um sein Gesicht zu erkennen, aber nah genug, um zu wissen: er hat mich gesehen.

Ich wache kurz auf.

Eine Frau steht über mir. Ihre Augen sind aus Glas, oder sehen nur so aus. Klar. Durchsichtig. Leuchtend wie zu tiefes Wasser. Sie trägt ein Gewand aus etwas, das raschelt, obwohl sie sich nicht bewegt.

Ich will fragen, wer sie ist. Aber meine Lippen bewegen sich nicht.

Sie neigt sich zu mir.

Flüstert:
„Du bist nicht krank. Du erinnerst dich nur zu schnell.“

Dann ist sie weg.

Ich weiß nicht, ob sie da war. Oder ob sie ich war.

In der nächsten Sequenz: Blut auf einer Kirchenbank. Mein Herz rast. Ich halte eine Waffe. Oder einen Schlüssel. Vielleicht beides. Und jemand schreit. Aber nicht aus Schmerz. Aus Enttäuschung.

Dann wieder Schwärze.

Ich zähle meine Atemzüge. Fünfzehn. Dreißig. Fünfzig. Ich verliere mich.

Und dann… ein Lied.

Leise. Kinderstimme. Alt und vertraut.

„Dreh dich um, wenn Schatten stehen,
dann wirst du deine Schwester sehen.“

Ich schrecke hoch.

Mein Kopf brennt. Mein Herz pocht.

Ich bin wieder in der Kapelle. Allein.

Aber das Lied hängt in der Luft.

Und ich weiß, was ich tun muss.

Ich muss zurück zur Liste.

Die Liste der Verschwundenen

Es ist noch Nacht, oder schon wieder. Zeit lässt sich hier nicht messen. Die Dunkelheit trägt keinen Rhythmus, nur Gewicht. Ich bin wieder in der Sakristei, halb wach, halb ein anderer Mensch. Das Fieber hat Spuren hinterlassen. Meine Haut ist klamm, mein Blick zu scharf für das, was ich sehen will.

Das Buch liegt da, wo ich es zuletzt hatte. Offen, als hätte es auf mich gewartet. Die Seiten sind feucht, aber die Schrift ist trocken. Seite 73: leer. Seite 74: ein Name.

„Lina M.“

Und darunter ein weiterer.
„R. M.“

Ich kenne den zweiten Namen nicht. Oder noch nicht. Aber das M pulsiert, als hätte es eine eigene Bedeutung. Vielleicht sind es Initialen. Vielleicht ist es mehr. Vielleicht war ich R. M. bevor ich vergessen habe, wie man lebt.

Ich blättere weiter. Die Seiten kleben aneinander, als wollten sie mich nicht hineinlassen. Und dann stoße ich auf sie: die Liste.
Seite 88. Überschrift:
„Die, die gingen. Die, die blieben.“

Zwei Spalten. Keine Ordnung. Keine alphabetische Reihe. Nur Namen. Dutzende. Einige durchgestrichen. Andere eingerahmt. Manche doppelt.
Mein Blick bleibt an einem Namen hängen:

„Lina M.“ – durchgestrichen.

Mit einem dünnen Strich. Nicht wütend. Nicht hart. Eher… bedauernd.

Darunter, kleiner, fast versteckt:

„Sie wartete zu lange.“

Ich starre auf die Zeile, bis sie verschwimmt. Mein Herz schlägt dumpf, aber nicht aus Angst. Aus Reue. Ich habe etwas vergessen. Oder schlimmer – ich habe etwas versprochen.

Dann sehe ich ihn.

Meinen Namen.

Nicht ganz ausgeschrieben. Nur Buchstaben.

„R— M—“

Nicht durchgestrichen. Nur halb geschrieben.

Als hätte jemand gezögert. Oder gehofft.

Ich spüre etwas in meiner Brust. Kein Schmerz. Kein Schock. Sondern das Ziehen von Erinnerung, kurz bevor sie aufbricht. Wie eine Narbe, die zu früh heilt.

Ich lehne mich zurück, lasse das Buch sinken.

Und da ist wieder der Schatten. Der mit den anderen Schultern.
Diesmal steht er nicht an der Wand.
Er sitzt. Auf der Kirchenbank.

Und sieht mich an.

Ohne Augen.

Aber ich weiß, dass er mich sieht.

Was von mir blieb

Ich starre ihn an. Oder das, was ich für ihn halte. Der Schatten. Er bewegt sich nicht. Aber irgendetwas an ihm verändert sich. Nicht sichtbar. Spürbar. Als hätte er angefangen, mich zu lesen. Nicht wie ein Buch – sondern wie einen Fund.

Ich stehe langsam auf. Die Decke gleitet von meinen Schultern wie ein Häutungsrest. Meine Beine sind schwer, mein Kopf zu leicht. Ich gehe auf ihn zu. Nicht weil ich mutig bin. Sondern weil es keinen anderen Weg mehr gibt.

Er bleibt sitzen. Die Form seines Körpers: fast menschlich. Aber da stimmt was nicht. Die Proportionen sind… falsch. Zu lang. Zu ruhig. Zu wenig Leben.

Ich setze mich auf die Bank gegenüber.

Stille.

Dann spricht er.
Nicht laut. Nicht mit Stimme.
Er spricht direkt in mich hinein.

„Du warst einmal anders.“

Ich schlucke. Antworte nicht.

„Du warst jemand.“

Ein Zittern durchläuft meine Schultern. Nicht vor Kälte. Vor Wahrheit.

Ich sehe an ihm vorbei – auf die Wand. Da hängt ein Spiegel. Zerbrochen, nur ein Stück, in einem rostigen Rahmen, halb mit Staub bedeckt. Ich stehe auf, gehe hin, wische ihn frei.

Und dann sehe ich es.

Mich.

Aber nicht mich jetzt.

Ein Kind.
Zehn vielleicht.
Dunkles Haar.
Große Augen.
Blick wie durch Rauch.

Sie sieht mich an.

Und ich weiß: Das bin ich. Oder war ich. Oder werde ich.

Im Hintergrund des Spiegels: die Kapelle. Leer. Keine Schatten. Kein Buch. Nur Licht. Und eine Frau mit gläsernen Augen, die das Kind auf der Schulter trägt.

Ich drehe mich um.

Niemand da.

Nur der Schatten. Der jetzt aufgestanden ist.

Er deutet auf das Buch. Ich verstehe nicht sofort. Dann doch. Ich gehe zurück. Blättere. Suche.

Seite 91: leer.
Dann plötzlich: Schrift.

Meine Handschrift.

„Ich erinnere mich an Lina. An den Apfel, den wir geteilt haben.
An das Fenster, durch das sie fiel.
An das Versprechen, das ich nicht gehalten habe.“

Mein Herz bleibt kurz stehen.

Ich setze mich. Auf den Boden. Rücken an Stein. Wie am Anfang. Nur dass jetzt alles anders ist.

Der Schatten ist verschwunden. Vielleicht in mir.

Und ich begreife:

Ich bin nicht zurückgekehrt, um zu fliehen.

Ich bin hier, um zu bleiben.

Oder zu beenden.

Die Rückkehr des Schreis

Es beginnt in der Kehle. Ganz tief. Wo man nicht spricht, sondern schluckt. Ein Druck. Erst leise. Dann aufdringlich. Ich sitze noch immer am Boden, das Buch auf den Knien, die Worte brennen mir in der Haut. Ich will ruhig bleiben. Ich will Ordnung in die Fetzen bringen. Aber da ist dieser Laut.

Zuerst glaub ich, es bin ich.

Dann merk ich: Er kommt von draußen.

Nicht wie ein Schrei. Nicht sofort. Eher wie ein Wind, der sich verirrt hat. Der sich an den Mauern festkrallt, als wollte er rein. Und dann – ohne Vorwarnung – bricht er los. Wie ein Schnitt durch Stille.

Ein Schrei.

Nicht menschlich. Aber auch nicht Tier.
Ein Laut, der etwas sucht.
Etwas, das fehlt.
Etwas, das gegangen ist.

Ich schrecke hoch. Fast reiße ich das Buch dabei entzwei. Meine Hände zittern, meine Beine auch. Der Schrei hallt nach, bleibt im Gebälk hängen, kriecht in jede Ritze. Ich drücke mich an die Wand. Atme flach.

Ich kenne diesen Schrei.

Nicht aus diesem Leben vielleicht. Aber aus einem Gefühl. Aus Schuld.
Es ist der Laut, den Lina gemacht hat.
Bevor sie fiel.
Bevor ich sie losließ.

Die Bilder sind plötzlich da.

Ein altes Haus.
Ein Fenster im dritten Stock.
Ich und Lina.
Ein Streit.
Ihre Stimme, wütend und panisch.
Dann: das Klirren von Glas.
Und dieser Schrei.
Nicht von ihr.
Von mir.

Ich gehe in die Knie, presse die Stirn auf die kalten Fliesen. Ich will nicht. Ich kann nicht. Aber es ist zu spät. Die Erinnerung hat mich aufgebrochen wie eine Kiste, die nie hätte geöffnet werden sollen.

Der Schrei draußen wird leiser.

Nicht weg.

Nur… lauernd.

Als hätte er bekommen, was er wollte.

Oder weiß, dass ich bald soweit bin.

Ich sehe zum Spiegel.

Das Kind ist nicht mehr da.

Nur mein Gesicht.

Und ich erkenne es zum ersten Mal.

Nicht schön. Nicht jung. Aber echt.

Zerfurcht von dem, was ich vergessen wollte.

Und der Schatten? Der steht wieder an der Tür.

Diesmal mit ausgestreckter Hand.

Kein Ort für Heimkehr

Ich stehe. Nicht weil ich es will. Weil ich muss.
Der Schatten an der Tür ist keine Drohung mehr. Er ist Einladung. Erinnerung. Vielleicht sogar Vergebung.

Ich gehe langsam. Jeder Schritt knarzt auf Stein.
Der Schrei liegt noch in der Luft, wie Rauch nach einem Brand. Man sieht ihn nicht, aber man riecht ihn. Und man weiß: Etwas ist verbrannt, das nicht mehr repariert werden kann.

Ich trete durch die Tür.

Draußen ist kein Wald. Kein Weg. Kein Nichts.

Draußen ist: das Haus.

Nicht irgendeins.

Das Haus.

Drei Stockwerke, blinde Fenster, bröckelnder Putz. Ich kenne jeden Riss in der Fassade, jede Stufe der Treppe. Ich habe es gehasst. Ich habe es verlassen. Ich habe es mir aus dem Kopf geschnitten.

Und doch steht es da. Vollständig. Als hätte es nur auf mich gewartet.

Ich gehe über die Schwelle. Keine Tür hält mich auf.

Drinnen alles wie eingefroren.

Küche: gelbe Kacheln.
Flur: das Loch in der Wand, das ich nie repariert habe.
Treppenhaus: knarzende Stufen.
Und ganz oben: das Fenster.

Ich bleibe unten stehen.

Ich sehe hinauf.

Ein Schatten steht dort.
Klein. Schmal.
Sie.

Lina.

Nicht als Geist. Nicht als Vorwurf.
Nur als… Präsenz.
Ein Rest von ihr.
So, wie ich sie zuletzt sah.
Kurz vor dem Bruch.

Sie sagt nichts.

Ich auch nicht.

Weil es nichts mehr zu sagen gibt.

Ich weiß jetzt, was geschehen ist.
Wir stritten.
Ich ließ los.
Sie fiel.
Und ich bin gegangen.

Aber nie wirklich fort.

Ich habe mich versteckt.
In Städten. In fremden Namen.
In mir selbst.

Aber Schuld kennt keine Geografie.

Und irgendwann führt jeder Weg zurück.

Ich drehe mich um.
Die Kapelle steht nicht mehr da.
Nur das Haus.
Nur ich.

Kein Ort für Heimkehr.

Weil Heimkehr etwas braucht, das noch da ist.

Und ich bin der Letzte, der geblieben ist.

Das letzte Kapitel im Buch

Ich sitze am alten Küchentisch. Der Stuhl wackelt noch immer.
Der Lack ist abgeplatzt. Da, wo Lina immer mit dem Messer Muster eingeritzt hat.
Ich fahre mit dem Finger über die Kerben. Kreise. Initialen. Ein Herz, halb durchgestrichen. Als hätte sie sich nie entscheiden können, ob sie liebt oder geht. Ich war genauso.

Das Buch liegt vor mir. Das Buch aus der Kapelle, das ich jetzt einfach bei mir habe, als wäre es nie dort gewesen. Oder nie woanders.
Ich schlage es auf. Die Seiten rascheln nicht. Sie atmen.

Seite 112: leer.

Dann bewegt sich etwas.
Langsam.
Die Schrift erscheint, Zeile für Zeile.
In meiner Handschrift.
Aber ich schreibe nicht.

„Ich kam zurück, nicht weil ich wollte, sondern weil ich musste.
Ich habe Lina vergessen. Ich habe mich erinnert. Ich habe versprochen, nie zu bleiben.
Aber ich bin geblieben.
Ich bin der Rest.“

Ich blättere weiter. Seite 113, 114, 115.
Immer mehr Text.
Immer mehr ich.

Dinge, an die ich mich nie bewusst erinnert habe, aber jetzt lese, als wären sie gestern geschehen.
Linas erstes Lächeln nach Papas Beerdigung.
Der Apfelbaum im Hof.
Die Nacht, als sie blutend in der Badewanne saß und mir sagte, ich solle aufhören zu schweigen.

Ich wollte vergessen.

Und jetzt schreibt mich das Buch auf.

Als wär ich ein Kapitel, das gefehlt hat.

Ich nehme einen Stift.
Setze an.
Nicht um zu korrigieren.
Nur um zu ergänzen.

„Ich heiße—“

Ich stocke.

Weiß ich es?

Ich glaube, ja.

Aber ich schreibe es nicht.

Weil es nicht wichtig ist.

Weil der Name nie die Antwort war.

Ich klappe das Buch zu.

Und höre sie. Ganz leise.

Lina. Flüsternd.

„Jetzt kannst du gehen.“

Aber ich bleibe noch einen Moment sitzen.

Nicht, weil ich muss.

Sondern weil ich es kann.

Ich heiße…

Morgengrauen.

Zum ersten Mal scheint Licht durchs Fenster, das nicht nur flach ist, sondern weich. Kein grelles Aufwachen. Kein göttliches Erleuchten. Nur Licht, das sagt: Du bist noch da.

Ich sitze immer noch am Küchentisch. Das Buch liegt vor mir, geschlossen. Als wäre alles gesagt. Vielleicht ist es das auch.

Ich streiche mit der Hand über den Einband. Er fühlt sich nicht mehr fremd an. Nicht mehr wie eine fremde Geschichte. Sondern wie ein alter Mantel, den man lange nicht getragen hat – und der doch noch passt.

In meinem Kopf klingt immer noch ihr Flüstern.
„Jetzt kannst du gehen.“

Aber wo soll ich hin?

Ich blicke durch das Fenster.
Der Garten ist überwuchert, der Apfelbaum tot.
Und doch – irgendwo zwitschert ein Vogel.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen gehört habe.

Ich gehe ins Bad. Schaue in den Spiegel.
Kein Kind mehr. Kein Schatten.
Nur ich.
Mit müden Augen.
Und einem Gesicht, das endlich zu mir gehört.

Ich öffne das Buch noch einmal.

Letzte Seite.
Nur eine Zeile.

„Ich heiße…“

Ich zögere.
Dann nehme ich den Stift.
Setze an.
Schreibe.

Nicht den Namen, den ich trug, als ich wegging.
Nicht den, den man mir gegeben hat.

Sondern den, der blieb.

„Ich heiße Erinnerung.“

Ich klappe das Buch zu.
Stehe auf.
Öffne die Tür.

Draußen wartet kein Happy End.
Aber auch kein Abgrund.

Nur: ein Weg.

Und der erste Schritt gehört mir.

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