Schwarzlicht

Tintenherz
Ich sitze in diesem Zimmer, das nach altem Rauch und Lavendel duftet. Die Schatten sind weich, fast flüssig. Die Lampe an der Wand flackert wie eine Erinnerung, die nicht stillhalten will. Sie sagt nichts, die Frau mir gegenüber. Muss sie auch nicht.
Ihre Haut wirkt fast golden im schummrigen Licht, das sich in den tiefen Linien ihres Tattoos verliert – ein wildes Geflecht aus Blumen, Knochen und etwas dazwischen. Etwas, das sich bewegt, wenn man zu lange hinsieht. Ich starre trotzdem.
„Du hast ihn gesehen, oder?“ Ihre Stimme klingt tiefer als erwartet. Ruhig, mit dieser leichten Schärfe, die man sonst nur in langen Nächten oder alten Liedern findet.
Ich nicke. Langsam. „Auf dem Bahnsteig. Er hat dich gesucht.“
Sie lächelt nicht. Kein Zucken in ihrem Gesicht. Nur ein leises Blinzeln, als würde sie innerlich etwas abhaken.
„Dann wird es jetzt schnell gehen“, sagt sie.
Ich verstehe nicht, was das heißt. Noch nicht. Aber die Art, wie sie es sagt – nicht wie eine Warnung, eher wie ein Versprechen – macht mir klar, dass ich längst zu tief drin bin.
Sie steht auf, langsam, wie ein Tier, das genau weiß, wer der Jäger ist. Oder der Köder. In dem Moment sehe ich die zweite Tätowierung – knapp unter dem Schlüsselbein, dort, wo man sie nur sieht, wenn sie will, dass man sie sieht.
Ein Symbol. Irgendwas zwischen Fluch und Koordinate.
„Komm mit, wenn du wissen willst, warum du noch lebst“, sagt sie.
Ich sollte Nein sagen. Klarer Instinkt. Aber ich tue es nicht.
Ich folge ihr in die Nacht, wo irgendwer auf uns wartet. Oder etwas. Und das Schwarzlicht beginnt zu flackern.
Schwarzlicht
Die Nacht hat Zähne. Und sie beißt langsam.
Wir laufen schweigend durch Straßen, die wie ausgewaschene Erinnerungen wirken. Der Regen fällt nicht, aber er hängt überall in der Luft. Feucht auf der Haut, schwer in der Kleidung. Neben mir diese Frau – immer ein paar Schritte voraus, als würde sie etwas spüren, das ich nicht hören kann.
„Wie heißt du?“ frage ich irgendwann.
Sie dreht sich nicht um. „Nicht wichtig.“
Ich bleibe stehen. „Für mich schon.“
Sie bleibt auch stehen. Dreht sich langsam. Ihre Augen schimmern im Dunkeln, wie zwei Glutreste. „Dann nenn mich einfach das, was du siehst.“
Ich sehe… Tattoos, klar. Aber nicht diese billigen, hippen, bedeutungsschwangeren Dinger, die Leute sich stechen lassen, wenn sie betrunken sind oder traurig. Ihre Muster kriechen über die Haut wie schwarze Flammen, ranken sich über Schulter, Schlüsselbein, Hals. Symmetrisch und doch chaotisch. Und dazwischen immer wieder diese geometrischen Einschübe – wie Koordinaten, wie Warnungen.
„Okay, Schwarzlicht“, sage ich.
Sie zieht eine Augenbraue hoch. „Wirklich jetzt?“
„Passt doch“, sag ich. „Du leuchtest, wenn’s dunkel wird.“
Ein kleines, schiefes Lächeln zuckt an ihren Lippen. Kurz. Dann geht sie weiter.
Wir landen in einer Seitenstraße, dort, wo das Pflaster aufplatzt und der Asphalt aussieht wie alter Schorf. Eine Metalltür, ohne Schild. Sie klopft drei Mal. Pause. Zwei Mal. Noch mal eins.
Der Türöffner ist ein Kerl mit grauen Augen und einem Gesicht wie aus Zement gegossen. Er mustert mich, sagt nichts, lässt uns durch. Ich bleibe dicht hinter ihr. Der Flur dahinter ist schmal, voll mit Zigarettenrauch und dieser säuerlich-süßen Note von alter Haut und Desinfektionsmittel.
Ein Studio.
Aber nicht für Selfies.
Der Tätowierer sieht aus wie ein Fossil – Glatze, grauer Bart bis zur Brust, Hände wie Werkzeuge. Er sagt nur ein Wort, als er sie sieht: „Zurück.“
Sie nickt. „Ja.“
„Er auch?“
„Noch nicht. Vielleicht nie.“
Ich bin Luft. Und das ist okay.
Sie legt sich auf die Liege, zieht ihr Shirt halb hoch. Unterhalb der Rippen sitzt ein leeres Feld – ein Umriss, noch nicht gestochen. Der Alte beugt sich drüber, murmelt etwas, das klingt wie ein Fluch, oder ein Gebet. Dann beginnt er zu arbeiten.
Ich sehe zu, wie die Nadel sich in die Haut senkt. Punkt für Punkt, Linie für Linie. Und plötzlich begreife ich: Das ist keine Deko.
Das ist ein System.
Ein verdammter Plan.
„Wofür ist das?“ frage ich.
Sie antwortet nicht. Der Alte auch nicht. Nur das Brummen der Nadel, gleichmäßig, wie ein Herzschlag aus Metall. Ich merke, wie mein Puls sich daran anpasst.
Und dann sehe ich das Symbol, das entsteht – ein Kreis, durchbrochen von sieben Strahlen.
Irgendwo habe ich das schon mal gesehen. Nur nicht hier. Nicht in dieser Stadt. Nicht in diesem Leben.
Ich habe das in einem Traum gesehen.
Und sie weiß es.
Die Karte unter der Haut
Sie sagt, es sei kein Tattoo.
„Es ist ein Fenster“, murmelt sie, während sie sich das Hemd wieder überzieht. Der Stoff klebt leicht an der frischen Wunde, aber sie zuckt nicht. Kein Schmerz. Kein Zucken. Als würde die Nadel sie nie berührt haben.
Ich schaue auf ihre Haut, auf die Linien, die sich in ihr festgebrannt haben. Sie sehen aus wie Wurzeln. Oder wie Flüsse. Aber keiner dieser Flüsse verläuft gerade. Alles ist verwinkelt, verschlungen. Und am Ende jedes Arms – kleine Symbole. Runen? Zeichen? Ich erkenne einen Kreis, ein Dreieck, ein Auge.
„Was meinst du mit Fenster?“, frage ich.
Sie schaut mich an, als hätte ich gerade gefragt, was Wasser ist. „Du verstehst es nicht.“
„Nein.“
Sie nickt. „Gut.“
Wir gehen wieder raus. Der alte Tätowierer wischt mit einem Tuch über seine Werkzeuge. Kein Wort zum Abschied. Nur der Rauch seiner Zigarette, der wie Nebel zurückbleibt, als sich die Tür schließt.
Draußen ist es dunkler geworden. Nicht die normale Nacht. Eher eine Schicht aus etwas. Als hätte sich ein Film über die Stadt gelegt. Die Straßenlaternen werfen keine Kreise mehr. Nur flache, tote Lichtkegel, in denen nichts lebt.
„Ist das… normal?“, frage ich.
„Nicht für dich“, sagt sie. „Aber du bist auch nicht mehr nur du.“
Was soll das heißen?
Ich hab Fragen. Zu viele. Aber ich merk, wie mein Verstand anfängt, sie in kleine Kisten zu packen. Ordentlich, sauber. Damit ich nicht durchdrehe. Noch nicht.
Wir kommen an eine Kreuzung. Drei Straßen führen weg. Eine davon ist die U-Bahn. Der Bahnsteig, wo ich den Mann gesehen habe. Die andere führt runter ans Wasser. Da ist Nebel. Dick wie Beton. Die dritte führt zu einem Park, den man nur bei Tag betreten sollte.
„Da lang“, sagt sie.
„Wohin?“
„Zum nächsten Punkt.“
„Was für ein Punkt?“
Sie zieht ihr Shirt leicht zur Seite, zeigt auf eine Stelle zwischen zwei Rippen. Ein kleines Dreieck, eingekreist. „Da ist ein Name.“
Ich beuge mich vor. Und ich schwöre, ich sehe mein eigenes Initial. Nicht den ganzen Namen – nur den Anfang. Wie ein Stempel. Oder eine Erinnerung.
„Warum…?“
Sie legt zwei Finger auf meinen Mund. „Noch nicht. Du musst erst sehen, was ich gesehen habe.“
„Und was ist das?“
Sie sieht mich an. Ohne Lächeln. Ohne Blinzeln.
„Das, was unter der Stadt liegt.“
Ein Zug fährt in der Ferne vorbei. Aber der Ton ist falsch. Zu tief. Zu langgezogen. Als würde er durch Wasser gleiten. Ich friere, obwohl es warm ist. Oder sollte es sein.
Und dann flüstert sie:
„Wenn die Karte vollständig ist, endet alles. Oder beginnt.“
Ich sage nichts. Weil ich plötzlich weiß – sie meint nicht irgendeine Karte.
Sie meint sich selbst.
Und mich.
Der Mann auf dem Gleis
Ich sehe ihn wieder, bevor ich begreife, dass ich überhaupt dort bin.
Der Bahnsteig ist leer. Kein Wind, keine Stimmen, keine Durchsagen. Nur dieses tiefe, brummende Geräusch, das irgendwo unter den Schienen lauert. Als würde etwas Atmen da unten. Groß. Langsam. Unendlich alt.
Sie steht neben mir. Keine Berührung. Kein Blick. Aber ich spüre ihre Präsenz wie ein zweites Herz, das nicht in meiner Brust schlägt.
„Das ist er“, sagt sie leise.
Ich brauche keine Erklärung. Ich weiß, wen sie meint.
Am anderen Ende des Bahnsteigs steht er. Silhouette nur, eingerahmt vom Licht einer kaputten Neonröhre, die flackert wie ein zuckendes Auge. Er steht ganz still. Kein Zittern, kein Schritt, nichts. Als hätte man ihn dort aufgestellt. Oder vergessen.
„Wer ist das?“
„Jemand, der mich lange gesucht hat.“
„Warum?“
„Weil ich gegangen bin.“
Ich starre auf den Mann. Ich will sein Gesicht sehen. Irgendein Detail. Aber es geht nicht. Immer wenn ich mich konzentriere, rutscht es weg. Wie eine Erinnerung, die man nie wirklich hatte. Es ist, als ob sein Gesicht… falsch ist. Zu leer. Zu glatt.
„Ich kenn ihn“, flüstere ich. „Oder… ich hab von ihm geträumt.“
Sie nickt. „Jeder, der aufwacht, kennt ihn.“
„Aufwacht?“
„Aus dem Falschen.“
Da bewegt er sich. Nur ein bisschen. Der Kopf kippt. Langsam. Wie eine Marionette, deren Fäden einer nach dem anderen reißen. Und plötzlich dreht er sich zu uns. Keine Schritte. Nur… da. Plötzlich. Näher.
„Scheiße“, murmle ich. „Das war eben nicht normal, oder?“
„Nichts ist normal“, sagt sie. „Nicht mehr.“
Ich gehe einen Schritt zurück. Sie bleibt stehen. Starrt ihn an. Die Luft um sie herum flimmert. Ihre Tattoos scheinen dunkler zu werden, fast schwarzblau, wie Tinte im Wasser. Dann hebt sie den Arm.
Der Mann bleibt stehen.
Ein Ruck geht durch ihn, als hätte jemand ihn an einem unsichtbaren Faden gezogen. Und dann… dann fällt ein Geräusch durch den Raum. Schwer zu beschreiben. Wie Papier, das zerreißt. Nur lauter. Nasser.
Sein Kopf zuckt, als hätte er was gehört. Dann – Stille.
Und dann ist er weg.
Kein Schritt. Kein Flimmern. Nichts. Nur Leere, wo eben noch etwas war, das nicht sein sollte.
Ich drehe mich zu ihr. Mein Herz hämmert. „Was zur Hölle war das?“
Sie sieht mich an. Lang. Unbeweglich.
„Der erste Schatten“, sagt sie.
„Und was… was will der?“
„Er erinnert dich.“
„Woran?“
„Dass du nicht mehr hierhergehörst.“
Der Zug fährt ein. Langsam. Leise. Kein Fahrer. Kein Licht. Nur offene Türen.
Sie geht los.
Ich folge ihr.
Nicht, weil ich will.
Sondern weil ich längst vergessen habe, wo ich sonst hin sollte.
Das verlassene Atelier
Der Zug fährt weiter, als wir aussteigen. Keine Station, kein Schild. Nur ein Gittertor, halb geöffnet, rostig wie alter Zorn. Dahinter ein Korridor mit Fliesen, auf denen das Licht sich totläuft.
Sie geht voran. Kein Zögern, kein Umsehen.
„Hier war ich schon mal“, sag ich.
„Ich weiß.“
Ich sage nicht, dass das unmöglich ist. Dass ich diesen Ort nicht kennen kann. Dass ich hier nie war. Weil ich es nicht mehr sicher weiß. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Raum, in dem zu viele Stimmen reden und keiner zuhört.
Der Gang mündet in einen Innenhof. Grauer Beton, feuchte Wände, ein einziger Baum – blattlos, tot oder schlafend, schwer zu sagen. An der Rückwand ein schmales Gebäude mit Fenstern, die wie Augen aussehen, die nie blinzeln. Sie geht rein, ohne zu klopfen.
Das Atelier.
Innen ist es, als würde man einen Traum betreten, den jemand vergessen hat zu Ende zu denken. Überall Leinwände, gestapelt, halb verdeckt mit Tüchern. Der Geruch von Farbe, Staub und Eisen. An einer Wand ein großer Spiegel – zersprungen, aber nicht zerbrochen. Kein Staub auf dem Boden. Kein Fußabdruck. Als hätte seit Jahren niemand diesen Raum betreten.
Und doch liegt Wärme in der Luft. Frisch. Körperlich.
Sie bleibt vor einem Bild stehen, das halb zugedeckt ist.
„Das war mein erstes“, sagt sie.
Ich zieh das Tuch weg.
Das Bild zeigt einen Mann. Nur schemenhaft. Schwarz auf grau. Die Konturen sind weich, wie in Nebel gemalt. Doch da sind Augen. Und sie sehen mich an.
„Das ist er“, sage ich.
Sie nickt. „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“
„Aber… ich hab ihn heute zum ersten Mal gesehen.“
„Du meinst, du erinnerst dich erst jetzt.“
Ich spüre, wie mir kalt wird. Nicht körperlich. Tiefer. Als hätte sich etwas in mir geöffnet, das ich nie betreten wollte.
„Warum hast du ihn gemalt?“
„Weil ich ihn kannte. Vor dem Zerfall.“
„Zerfall?“
„So nennen wir es. Wenn das Gedächtnis nicht mehr linear ist. Wenn Zeit reißt. Wenn der Ort, an dem du warst, plötzlich nicht mehr derselbe ist. Und du auch nicht.“
Sie geht zu einem Regal, zieht eine Mappe raus. Alte Papiere, Zeichnungen, Notizen in einer Sprache, die mir bekannt vorkommt, obwohl ich sie nicht lesen kann. Eine Seite fällt heraus. Darauf – wieder das Symbol. Der Kreis mit den sieben Strahlen.
„Ich dachte, ich hab das erfunden“, murmele ich.
„Du hast es erinnert.“
Ich starre sie an. „Und warum ich?“
„Weil du Teil davon bist.“
„Wovon?“
Sie sieht mich lange an.
Dann sagt sie nur ein Wort:
„Karte.“
Ich will mehr fragen, aber draußen kracht es. Metall auf Stein. Dann Stimmen. Nicht viele. Tief, verzerrt, wie durch Filter gesprochen. Sie zuckt nicht mal.
„Sie sind schneller, als ich dachte.“
„Wer?“
„Die, die nichts sehen, aber alles spüren.“
Ich weiß nicht, was das heißt.
Aber ich weiß, dass wir gehen müssen.
Jetzt.
Echo aus Tinte
Wir verstecken uns in einem Lagerraum hinter dem Atelier. Bretter, Pappkartons, ein umgekippter Stuhl. Staub liegt in der Luft wie Asche. Ich höre meinen Atem. Ihren nicht.
Sie sitzt auf dem Boden, die Knie angezogen, die Stirn gegen die Wand gelehnt. Ihre Tattoos scheinen zu flimmern im Dunkeln. Kein Licht, und trotzdem pulsieren sie. Als würden sie sich erinnern.
„Wie lange kennen wir uns?“, frage ich.
„Länger, als du denken kannst.“
„War ich… früher jemand anderes?“
Sie nickt. „Mehr als einer.“
Ich will lachen. Will es als verrückt abtun. Aber ich erinnere mich an die Träume. An das Symbol in meinem Nacken, das nie da war, bis ich es gespürt hab. Ich kratzte mich tagelang. Dann sah ich es im Spiegel. Kreis. Strahlen. Wie bei ihr. Nur kleiner. Blasser.
„Du warst nicht immer Beobachter“, sagt sie. „Früher hast du geführt.“
„Wen?“
Sie hebt den Blick. Und da ist etwas in ihren Augen. Etwas, das sie noch nie gezeigt hat. Wärme vielleicht. Oder Reue.
„Mich.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich will schreien. Lachen. Wegrennen. Oder sie berühren, nur um zu prüfen, ob sie echt ist. Aber alles, was ich tue, ist: sitzen. Atmen. Und warten, bis sie weiterredet.
„Ich war Künstlerin. Früher. Bevor ich gezeichnet wurde.“
„Was meinst du mit ‚gezeichnet‘?“
„Ich hab die erste Linie nicht selbst gemacht. Sie wurde mir gestochen, in einer Nacht ohne Namen. In einem Raum mit einem Spiegel, der nichts zurückwarf. Danach wusste ich Dinge, die ich nicht wissen sollte.“
„Wie was?“
„Wo die Tore liegen. Wo die Stimmen herkommen. Und wer du bist.“
Ich schlucke. Die Luft ist dicker geworden. Oder meine Kehle enger.
„Und? Wer bin ich?“
Sie legt den Kopf schräg. „Du bist derjenige, der alles vergessen musste. Damit es wieder beginnt.“
Stille.
Dann sagt sie: „Ich hab versucht, dich zu finden. Jahre. In den Bildern, in den Linien, im Rauch. Du warst immer nah. Immer verschwommen.“
„Warum ich?“
„Weil dein Herz der Schlüssel ist.“
Ein dumpfer Schlag draußen. Schritte. Metall auf Stein. Wieder diese Stimmen – tief, gebrochen, rhythmisch. Wie Maschinen, die beten.
Sie steht auf. „Wir müssen weiter. Bevor sie uns riechen.“
„Wer sind sie?“
„Die Unmarkierten.“
Ich will fragen, was das heißt. Aber sie reicht mir die Hand. Und ich nehme sie. Sie ist kalt. Fester Griff.
An ihrer Handfläche: Tinte.
Mein Name.
Nur die ersten Buchstaben.
Aber sie sind da.
Und sie leben.
Kalter Brand
Wir schlagen uns durch Hinterhöfe, unter Feuerleitern durch, vorbei an Fenstern, die nichts mehr zeigen. Die Nacht hat sich verändert. Sie riecht anders. Schwerer. Als würde etwas verbrannt, das nicht brennen sollte.
Sie sagt kein Wort.
Ich folge.
Immer ein, zwei Schritte hinter ihr, wie ein Schatten, der vergessen hat, wozu er da ist.
Wir landen in einem alten Motel am Rand der Stadt. Leuchtreklame, halb tot. Ein Surren in der Luft, das mir in die Zähne kriecht. Sie geht rein, sagt nichts zur Rezeptionistin. Die nickt nur. Als hätte sie auf uns gewartet.
Zimmer 17.
Sie wirft den Schlüssel auf das Bett, zieht die Vorhänge zu. Dann setzt sie sich auf den Boden, kreuzt die Beine, legt die Hände auf die Knie. Meditativ fast. Aber ihre Schultern zucken. Kaum sichtbar. Ich merke, dass sie friert. Trotz der Hitze.
„Was ist los mit dir?“
„Ich verglüh langsam.“
„Was meinst du?“
Sie zeigt auf ihre Seite, dort wo das neue Tattoo ist. Die Linien verlaufen. Bluten aus. Die Tinte franst. Wie eine Landkarte, die unter Säure zerfließt.
„Die Koordinaten verändern sich“, sagt sie. „Das ist kein gutes Zeichen.“
Ich knie mich zu ihr. Der Geruch von Metall steigt mir in die Nase. Ihre Haut ist heiß. Nicht fiebrig – glühend. Als würde etwas in ihr brennen. Kein Feuer. Kein Licht. Etwas Kaltes. Schwarz.
„Kalter Brand“, murmelt sie. „So nennen sie es.“
„Wer?“
„Die, die zu lange geblieben sind.“
Ich will ihr helfen. Irgendwas. Wasser. Worte. Aber beides scheint lächerlich in diesem Moment. Also nehme ich ihre Hand. Sie presst meine Finger fest. Zu fest.
Dann flüstert sie: „Wenn ich falle… nimm mein Herz.“
Ich weiß nicht, ob das ein Bild ist. Oder eine Anweisung.
Dann zieht sie mich plötzlich an sich. Die Stirn an meine Brust. Ich höre ihren Atem. Flach. Flatternd.
„Du musst mich erinnern“, sagt sie. „Wenn ich’s selbst nicht mehr kann.“
„Ich verspreche nichts, das ich nicht verstehe.“
„Tu’s einfach.“
Ein Klopfen an der Tür. Sanft. Dreimal. Dann Stille.
Ich will aufstehen. Sie hält mich fest.
„Nicht bewegen“, flüstert sie. „Sie hören Bewegung.“
„Wer?“
„Die, die zwischen den Wänden leben.“
Ich halte den Atem an.
Etwas schabt draußen. Langsam. Kratzend. Dann ein Kichern. Trocken. Fremd.
Ein Schatten fällt unter der Tür durch. Er bewegt sich nicht. Wartet.
Dann ein Flüstern.
Mein Name.
Nicht laut.
Aber richtig.
Und dann – Nichts.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort sitzen. Minuten? Stunden? Jahre?
Irgendwann fällt ihr Kopf an meine Schulter. Ich glaube, sie schläft. Oder sie flieht in etwas, wo sie nicht mehr brennen muss.
Ich halte sie fest.
Und zum ersten Mal hab ich das Gefühl, dass ich jemand war.
Vielleicht sogar: jemand bin.
Der Kreis
Sie wacht auf, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte.
Kein Strecken, kein Blinzeln. Nur ein kurzes, scharfes Einatmen. Ihre Augen sofort klar. Als hätte sie die Nacht in einem anderen Körper verbracht.
„Wir müssen los“, sagt sie.
„Wohin?“
„Zurück an den Anfang.“
Ich frage nicht weiter. Ich spüre, dass Fragen hier nur noch Umwege sind. Und die Zeit wird kürzer. Das merke ich an den Straßen, durch die wir gehen. Die Stadt wirkt… wach. Aber auf die falsche Weise. Türen stehen offen, obwohl kein Licht brennt. Hunde bellen nicht mehr. Und irgendwo schreit ein Kind, aber es hört nicht auf.
Wir steigen in ein altes Parkhaus, fahren ganz nach unten. Drei Stockwerke unter die Straße, wo nur noch Beton und Dunkelheit wohnt. Dann ein Durchgang. Versteckt hinter einem Müllcontainer, abgesperrt mit einem rostigen Gitter, das sie mit einem Schlüssel öffnet, den sie aus dem Schuh zieht.
„Du hast das geplant“, sag ich.
„Ich hab’s geahnt.“
Der Gang dahinter ist schmal. Riecht nach Öl, nach Erde, nach etwas anderem – metallisch und warm. Als würde Blut durch Rohre fließen. Nach hundert Schritten: ein Raum. Groß. Rund. Voller Schatten.
Sie bleibt stehen. Ich trete neben sie.
Zehn Menschen stehen im Kreis. Tätowierte Körper. Frauen, Männer, Gesichter im Halbdunkel, alle mit Zeichen unter der Haut. Ihre Muster flimmern, leuchten matt. Und in der Mitte: ein Becken. Flach, aus schwarzem Stein, gefüllt mit einer Flüssigkeit, die kein Wasser ist. Dicker. Dunkler. Lebendig.
„Was ist das hier?“, flüstere ich.
„Der Kreis. Der Ursprung. Die Erinnerung.“
Ein Mann tritt vor. Hohe Wangenknochen, Augen wie Rauch. Seine Stimme klingt alt. Älter als sein Körper.
„Du hast ihn mitgebracht“, sagt er.
Sie nickt. Kein Wort.
Er schaut mich an. „Du trägst es noch.“
Ich fasse mir an den Nacken. Spüre das Tattoo unter der Haut brennen. Nicht heiß – sondern wie ein leises Summen. Wie ein Magnet, der sich ausrichtet.
„Was ist das?“ frage ich.
„Ein Schlüssel. Ein Fehler. Ein letzter Versuch.“
Ich will widersprechen. Sagen, dass ich nicht Teil von irgendwas bin. Aber ich weiß, dass das gelogen wäre. Ich weiß es, weil die Flüssigkeit in der Schale beginnt, sich zu bewegen. Sie zeigt Bilder. Fragmente. Menschen, die ich nicht kenne. Oder kannte. Oder gewesen bin.
Und mittendrin: sie.
Wie sie fällt.
Wie sie wieder aufsteht.
Wie sie mich sucht.
„Warum zeigst du mir das?“, frage ich.
Der Mann antwortet nicht. Stattdessen treten alle näher. Sie legen ihre Hände auf den Rand der Schale. Flüstern. Wörter, die ich nicht kenne – und trotzdem verstehe.
Dann sagt sie:
„Wenn du springst, ändert sich alles. Aber du wirst nicht mehr der sein, der du warst.“
„Und wenn ich nicht springe?“
„Dann wird jemand anderes es tun. Und das war schon einmal schlimm genug.“
Ich sehe in die Flüssigkeit. Und sie sieht zurück.
Ich trete näher.
Der Kreis schließt sich.
Fehler im Muster
Ich tauche nicht mit dem Körper ein.
Nur mit dem Blick.
Aber es reicht.
Die Oberfläche der schwarzen Flüssigkeit bricht nicht – sie dehnt sich. Schmiegt sich an mein Spiegelbild, wie Haut an Haut. Dann zieht sie mich. Nicht mit Kraft, sondern mit Erinnerung.
Ich falle.
Nicht tief, nicht weit – aber durch mich selbst hindurch.
Ich stehe in einem Zimmer. Steril. Neonlicht. Eine Liege in der Mitte, darauf: ich. Jung. Blass. Tätowiert.
Das Symbol auf meinem Nacken ist frisch. Noch rot. Ich zucke unter der Nadel. Neben mir steht sie – nur jünger. Kein Tattoo auf ihrer Haut. Nur ein Blick, der mehr weiß als ich damals.
„Warum ich?“ frage ich.
Sie antwortet nicht. Nur der Mann mit dem grauen Bart – der Tätowierer – murmelt: „Weil du es tragen kannst. Vielleicht.“
Ich will mich abwenden, aber der Raum hält mich fest. Ich sehe, wie ich aufstehe. Taumelnd. Verwirrt. Wie sie meine Hand nimmt. Wie ich nicke. Und wie wir gehen.
Wieder ein Schnitt.
Ein Bahnsteig.
Ein Schatten. Der Mann ohne Gesicht. Ich sehe ihn wieder, aber diesmal bleibt er. Klar. Unbeweglich. Und das, was er sagt, trifft mich wie Strom.
„Du bist nicht das Original.“
Ich schreie. Oder denke es. Oder beides.
Dann zerbricht alles.
Ich wache auf.
Liege auf dem Boden der Halle. Die anderen stehen noch um die Schale. Ihre Blicke auf mich gerichtet. Keiner spricht.
Sie kniet neben mir. Ihre Hand auf meiner Schulter. Warm. Schwer.
„Du hast es gesehen?“
Ich nicke. „Ich bin… eine Wiederholung.“
„Ein Abdruck. Ja.“
„Und du?“
„Ich bin der Fehler.“
Ich schaue sie an. Ihre Tattoos sind heller geworden. Fast durchsichtig. Als hätte sich etwas aus ihr gelöst.
„Was heißt das?“
„Ich war nie vorgesehen. Ich hab mich reingeschrieben. In das System. In den Code. In dich.“
Ich will fragen, wie das geht. Aber mein Mund bleibt trocken. Zu viel, zu schnell.
Dann spricht der Alte wieder:
„Das Muster verändert sich. Es gibt neue Linien. Neue Wege.“
Er deutet auf meine Brust.
Ich reiße mein Hemd auf.
Dort, über dem Herzen, ist ein neues Symbol.
Nicht gestochen.
Gebrannt.
Kreis. Drei Strahlen nur.
Ein Fragment.
„Was heißt das?“, frage ich.
„Dass du die Karte trägst. Aber nur den halben Schlüssel.“
„Und der andere?“
Sie senkt den Blick.
„Ist in mir.“
Ich verstehe.
Wir sind zwei Teile derselben Schleife.
Und wenn einer fällt, beginnt es von vorn.
Aber wenn beide…
Wenn beide sich erinnern –
könnte es enden.
Oder neu beginnen.
Splitter aus Licht
Wir fliehen.
Nicht vor etwas, sondern vor allem.
Die Halle bleibt hinter uns zurück, mit ihrem Flüstern und den tätowierten Zeugen, die keine Namen tragen wollen. Die Stadt ist still, aber nicht leer. Etwas hat sich verändert. Wie eine Uhr, die zu ticken beginnt, aber niemand weiß, ob vorwärts oder zurück.
Sie hält meine Hand.
„Wo gehen wir hin?“, frage ich.
„Dorthin, wo sich alles spiegelt.“
„Was heißt das?“
„Der Ort, an dem du dich erkennst. Oder verlierst.“
Klingt wie etwas, das man nicht freiwillig besucht. Und doch folgen meine Füße ihr, als gehörten sie mehr ihr als mir.
Wir erreichen einen alten Gebäudekomplex. Etwas zwischen Fabrikruine und Theater. Graffitis an den Wänden, Fenster zerschlagen, der Asphalt voller Löcher. Sie kennt den Weg. Ein vergessener Seiteneingang, ein dunkler Gang, dann Treppen nach unten. Immer weiter.
Schließlich: ein Raum.
Nichts Besonderes. Leere Wände. Staub. Ein einzelner Stuhl in der Mitte. Und an der Stirnseite: ein riesiger Spiegel.
Aber er ist nicht echt.
Ich sehe mich – und auch wieder nicht. Das Gesicht stimmt. Aber der Blick ist anders. Wacher. Härter. Ein Ich, das Entscheidungen getroffen hat, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existieren.
„Was ist das?“
„Ein Splitter“, sagt sie. „Ein Riss in der Projektion. Hier zeigt sich, was das Muster mit dir gemacht hat.“
Ich gehe näher.
Der Spiegel verändert sich. Bilder flackern auf – nicht chronologisch, nicht geordnet. Ein Kind, das rennt. Ein Mann, der schreit. Ein Kuss, den ich nie erlebt habe. Eine Stadt unter Wasser. Ich.
Ich.
Ich.
Zehn Versionen. Zwanzig.
„Wie viele bin ich?“, flüstere ich.
„Alle. Und keiner.“
Dann dreht sich der Spiegel. Kein Rahmen. Kein Scharnier. Einfach so – eine Bewegung, als würde die Welt sich beugen. Auf der Rückseite: eine Karte. Eingeritzt. Wie ihre Tattoos. Wie meins.
Sie legt ihre Hand auf die Oberfläche.
Ihr Symbol glimmt auf.
Ich tue es ihr gleich.
Meins glimmt auch.
Dann – eine dritte Stelle. Leer.
„Da fehlt jemand“, sage ich.
Sie nickt. „Der, der alles begonnen hat.“
„Und wer ist das?“
„Der Mann ohne Gesicht.“
Der, der mich ruft.
Der, der mich kennt.
Der, der ich war.
Oder werden könnte.
Als wir den Raum verlassen, ist draußen Licht. Nicht warm. Nicht echt. Aber grell, künstlich. Wie eine Operation am offenen Selbst.
Sie sagt: „Es wird nicht mehr lange dauern.“
Ich nicke. Und sage leise:
„Dann lass uns Fehler machen, bevor alles wieder von vorne beginnt.“
Und in dem Moment denke ich, dass ich zum ersten Mal die Wahrheit gesagt habe.
Der Spiegel
Es beginnt, bevor wir den Raum betreten.
Ein Ziehen hinter den Augen. Wie Druck. Als würde jemand mit kalten Fingern durch meine Gedanken blättern. Nicht grob. Fast zärtlich. Aber es ist nicht meiner.
Der Weg führt uns in ein altes Badehaus. Zerfallene Kacheln, feuchte Luft, die nach vergessener Zeit riecht. Pilz, Schweiß, Eisen. Es hallt, obwohl wir still sind.
Im Zentrum: ein Becken. Leer. Kein Wasser. Nur Boden, gesprungen wie Glas. An der gegenüberliegenden Wand: ein Spiegel.
Diesmal ist es kein Splitter. Kein Fragment.
Diesmal ist es das Ganze.
Ich gehe näher. Schritt für Schritt. Sie bleibt zurück, am Rand. Ich weiß, warum. Manche Dinge muss man allein sehen. Oder aushalten.
Ich stehe davor. Sehe mich.
Und sehe ihn.
Der Mann vom Gleis.
Aber jetzt sehe ich sein Gesicht.
Weil es meins ist.
Nur… älter. Härter. Fremd und doch vertraut. Narben auf der Wange. Das gleiche Tattoo am Hals. Nur dunkler, tiefer gestochen. Wie in Fleisch geschnitten, nicht Haut.
Er sieht mich an. Und ich spüre, wie mein Herz stillsteht.
Er hebt die Hand. Ich auch.
Aber er ist schneller.
Seine Lippen bewegen sich.
Ich kann die Worte nicht hören – aber ich kenne sie. Spüre sie in der Kehle. Als hätte ich sie selbst gesagt, vor Jahren, in einer Nacht ohne Zeugen.
„Du warst ich. Du bist ich. Du wirst ich sein.“
Dann zerbricht der Spiegel.
Nicht in Scherben.
In Licht.
Ein Strahl – direkt in meine Brust. Ich falle zurück, spüre nichts. Kein Schmerz. Nur Leere. Ein Auflösen.
Sie fängt mich auf.
Ich liege in ihren Armen, wie ein Kind. Oder ein Mensch, der zum ersten Mal atmet.
„Was war das?“, flüstere ich.
„Du hast dich erinnert.“
„Und was… bin ich?“
„Ein Echo.“
Ich will weinen. Kann nicht. Zu viele Stimmen im Kopf. Alte Versionen. Alte Versprechen. Und mittendrin: ich.
Später, als wir draußen stehen, sagt sie:
„Der Spiegel zeigt nicht, wer du bist. Sondern wer du sein könntest, wenn niemand zusieht.“
„Und wer war er?“
„Der erste. Der, der das Muster geprägt hat.“
„Und jetzt?“
Sie sieht mich an. Ihre Tattoos sind verblasst. Fast wie Schatten. Aber da ist etwas in ihrem Blick. Keine Müdigkeit. Kein Schmerz.
Freiheit.
„Jetzt gibt es keinen Ursprung mehr. Nur noch dich.“
Ich weiß nicht, ob das gut ist.
Aber ich weiß, dass der Kreis offen ist.
Und ich weiß, dass das Licht brennt.
In mir.
Zweite Haut
Wir finden Zuflucht in einem ehemaligen Waschsalon. Zerborstene Fenster, die Maschinen tot, der Geruch von Lauge noch in den Ritzen. Irgendwo tropft ein Rohr. Rhythmisch. Wie ein Herz, das sich weigert, stehenzubleiben.
Sie sagt nichts.
Ich auch nicht.
Wir sitzen uns gegenüber. Zwischen uns: eine rostige Metallschale mit etwas Wasser darin, das zu schwarz ist, um sauber zu sein. Es spiegelt nichts.
„Was wird jetzt aus dir?“, frage ich.
„Das liegt an dir.“
„Warum?“
Sie zieht ihr Shirt langsam hoch. Stück für Stück. Ihre Haut ist blass, durchscheinend. Und unter den verblassten Linien beginnt sich etwas Neues zu formen.
Ein zweites Muster.
Keine Tinte.
Kein Schnitt.
Licht.
Es wandert. Schimmert. Wie unter Wasser. Wie Bewegung in der Tiefe.
Ich starre.
„Das ist dein Abdruck“, sagt sie.
„Wie meinst du das?“
„Du hast dich erinnert. Und etwas abgelegt. Ich trage es jetzt.“
Ich will widersprechen. Aber ich sehe es. Ihre Haut hat begonnen, meine Linien zu spiegeln. Meine Entscheidungen. Meine Fehler. Und das, was ich geworden bin.
„Du warst nie allein“, flüstert sie. „Du warst immer durch andere hindurchgeschnitten.“
„Und jetzt?“
Sie lehnt sich vor. Legt ihre Stirn gegen meine. Ihre Stimme kaum mehr als ein Zittern.
„Jetzt darfst du entscheiden.“
„Was?“
„Ob du bleibst.“
Ich schlucke. Der Raum ist still. Zu still. Als hätte die Zeit den Atem angehalten.
Ich nehme ihre Hände. Spüre das Zittern. Nicht vor Angst. Vor Übertragung.
Dann ziehe ich mein Shirt aus.
Mein Oberkörper ist bedeckt mit Linien. Symbole, die ich nie bewusst gewählt habe. Orte, an denen ich nie war – und doch kenne. Namen, die ich nie sprach, aber immer trug.
„Ich will wissen“, sage ich.
„Dann zeig es mir“, sagt sie.
Und sie legt ihre Hand auf meine Brust.
In dem Moment bricht etwas auf. Kein Schmerz. Kein Schrei. Nur Licht. Helles, fließendes Licht, das sich über unsere Körper legt wie eine neue Haut.
Eine zweite Haut.
Nicht tätowiert.
Gewachsen.
Als es vorbei ist, sehen wir uns an.
Keine Tinte mehr.
Keine Zeichen.
Nur wir.
Und ich weiß, dass wir uns das nicht genommen haben. Sondern geschenkt.
„Jetzt bist du frei“, sagt sie.
Ich atme. Zum ersten Mal ohne Muster. Ohne Vorgabe.
Frei?
Vielleicht.
Aber ich weiß: Freiheit ist nicht das Ende.
Freiheit ist der Punkt, an dem die Geschichte beginnt, neu geschrieben zu werden.
Das Ritual
Die Einladung kommt ohne Worte.
Ein Zettel, gefaltet, in meiner Jackentasche, obwohl ich ihn nie dort hineingelegt habe. Auf ihm: nur ein Symbol – das alte Zeichen, jetzt durchgestrichen. Darunter eine Adresse, handgeschrieben, in einer Schrift, die aussieht, als wäre sie geträumt worden.
Ich zeige ihn ihr.
Sie nickt nur. Keine Überraschung. Keine Angst.
„Es ist so weit.“
Das verfallene Theater liegt am Rand der Stadt. Dahinter beginnt nur noch Nebel. Keine Straßen, keine Häuser. Nur Weiß.
Die Fassade ist eingerissen, als hätte jemand versucht, das Gebäude aus der Realität zu reißen. Innen: ein Auditorium, das nach Ruß und Vergangenheit riecht. Der rote Samt auf den Sitzen ist grau geworden. Die Bühne leer. Nur ein Kreis aus schwarzer Kreide zieht sich über die Dielen.
Dort stehen sie.
Die Tätowierten.
Die, die geblieben sind.
Die, die sich erinnern.
Und in der Mitte: ein Stuhl.
Sie tritt zuerst in den Kreis. Lässt sich langsam nieder. Dann blickt sie mich an.
„Jetzt musst du wählen.“
„Zwischen was?“
„Zwischen Geschichte… und Ende.“
Ich verstehe es nicht. Aber ich spüre es. Dieses Ziehen unter der Haut. Das Pochen hinter dem Auge. Der Spiegel in meinem Inneren beginnt zu flimmern.
Ich trete in den Kreis. Es knackt unter meinen Schuhen – als wäre der Boden lebendig. Oder wach.
„Was passiert jetzt?“, frage ich.
„Du gibst ab. Oder du behältst.“
„Was?“
„Dich selbst.“
Die anderen beginnen zu summen. Kein Lied. Kein Ton, den man kennt. Aber ich verstehe ihn trotzdem. Der Klang ist alt. Erinnert an Nächte, die nie passiert sind, an Stimmen aus Träumen.
Sie nimmt meine Hand.
„Wenn du mich hältst, bleibst du. Dann wirst du Teil der Wiederholung. Ein neues Muster. Ein neuer Träger.“
„Und wenn ich loslasse?“
„Dann bist du du.“
Ich sehe sie an. So nah. So fremdvertraut. Sie hat mir alles genommen, was nicht echt war. Und mir dafür etwas gegeben, das ich nicht benennen kann.
Ich lasse los.
Und in dem Moment –
verstummt der Gesang.
Die Luft wird schwer.
Der Kreis beginnt zu brennen.
Aber ohne Flammen.
Nur Licht.
Nur Wahrheit.
Sie steht auf. Lächelt zum ersten Mal. Traurig. Frei.
„Dann war es das.“
„Für dich?“
„Für uns.“
Als sie geht, bricht etwas aus mir heraus.
Nicht Schmerz. Nicht Freude.
Etwas Tieferes.
Etwas, das keine Worte kennt.
Ich bleibe zurück.
Allein.
Aber ganz.
Nach dem Schwarz
Ich weiß nicht, wie lange ich hier sitze.
Das Theater ist still. Der Kreis verblasst. Kein Licht mehr. Nur Asche. Und ich.
Die Stimmen sind weg. Der Nebel draußen ist dichter geworden. Oder ich bin durch ihn hindurchgegangen.
Vielleicht beides.
Ich gehe.
Nicht schnell. Nicht zielgerichtet. Nur… weiter.
Die Stadt erkennt mich nicht mehr. Kein Blick folgt mir. Keine Schatten an den Wänden, die sich falsch bewegen.
Ich bin keiner von ihnen mehr.
Und auch keiner von früher.
Etwas Neues.
Unbenannt.
An der Kreuzung, wo alles begann, halte ich inne.
Die Lampe flackert.
Eine letzte Erinnerung.
Ich greife in meine Jackentasche.
Der Zettel ist weg.
Dafür ist da etwas anderes.
Ein Stück Haut. Tätowiert.
Alt.
Wie eine vergessene Nachricht.
Darauf: das Symbol.
Aber es ist verändert.
Keine Strahlen mehr.
Nur noch der Kreis.
Ungebrochen.
Geschlossen.
Ich drehe ihn.
Er wird zum Punkt.
Zum Nichts.
Zum Ursprung.
Später – viel später – sitze ich in einem Café.
Ein anderer Ort.
Andere Farben.
Die Tasse in meiner Hand dampft. Ich schmecke Zimt. Ich schmecke Realität.
Sie kommt nicht mehr.
Und doch spüre ich sie.
Wenn Licht auf Haut trifft.
Wenn Stimmen sich überlagern.
Wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe und für einen Wimpernschlag ein anderes Ich darin sehe.
Ich trage keine Tinte mehr.
Aber sie ist da.
In mir.
Nicht als Zeichen.
Sondern als Echo.
Und ich weiß:
Es war nicht das Ende.
Es war das Nach dem Schwarz.