
Ich stehe vor einem Hörsaal, der leer sein sollte. Es ist spät, vielleicht zehn oder elf Uhr abends. Die Flure der Universität sind ausgestorben, nur das gleichmäßige Summen der Neonröhren begleitet mich. Meine Schritte hallen auf dem abgenutzten Linoleum wider, irgendwo tropft ein Wasserhahn in unregelmäßigen Abständen. Tock. Tock. Tock.
Die Tür zum Hörsaal ist nur angelehnt. Ein schmaler Lichtstreifen dringt durch den Spalt und schneidet die Dunkelheit des Ganges entzwei. Seltsam. Um diese Zeit sollte hier niemand mehr sein. Der Hausmeister macht seine Runde immer erst nach Mitternacht, das weiß ich, weil ich oft bis spät in der Bibliothek sitze.
Ich weiß nicht, warum ich zögere. Vielleicht ist es die Stille, die zu vollkommen ist, zu absichtlich. Als ob sie auf etwas wartet. Auf mich vielleicht.
„Komm rein“, sagt eine Stimme.
Ich zucke zusammen. Die Stimme klingt gedämpft durch die schwere Holztür, aber dennoch klar. Männlich, nicht alt, nicht jung. Völlig neutral, als hätte jemand das Wort „neutral“ in einen Stimmsynthesizer eingegeben.
Meine Hand liegt auf der Türklinke. Sie ist kalt, kälter als sie sein sollte. Ich drücke sie nach unten und die Tür schwingt auf.
Der Hörsaal ist ein amphitheaterartiger Raum, mit ansteigenden Sitzreihen, die halbrund angeordnet sind. Von der Decke hängen Projektoren, die Wand hinter dem Pult ist eine riesige Leinwand. Der Raum ist für dreihundert Studenten ausgelegt, aber jetzt ist er leer.
Fast leer.
Am Pult steht jemand. Eine Gestalt, die ich nur schemenhaft erkennen kann, weil das Licht hinter ihr so hell ist. Es ist wie bei einer Sonnenfinsternis – ich sehe nur die Silhouette, während das Licht drumherum strahlt.
„Du bist spät“, sagt die Figur am Pult. Es ist dieselbe Stimme wie zuvor. Sie klingt nicht vorwurfsvoll, nur feststellend.
„Ich wusste nicht, dass ich erwartet werde“, antworte ich und bin überrascht, wie ruhig meine Stimme klingt. Als ob dies ein gewöhnliches Treffen wäre, vereinbart und vorbereitet.
„Natürlich wusstest du das“, sagt die Gestalt. „Deshalb bist du hier.“
Ich gehe den Mittelgang hinunter, meine Schritte lautlos auf dem Teppich. Seltsam, ich kann mich nicht erinnern, dass hier je ein Teppich lag. Das Pult rückt näher, aber die Figur dahinter bleibt verschwommen, wie durch milchiges Glas betrachtet.
„Weißt du, was das ist?“, fragt die Gestalt und deutet auf die weiße Fläche hinter sich.
Ich stutze. „Eine Leinwand?“
„Nein“, sagt die Gestalt und macht eine umfassende Handbewegung. „All das. Der Hörsaal, die Universität, die Stadt da draußen.“
Ich zucke mit den Schultern. „Die Wirklichkeit?“
Die Gestalt lacht, aber es klingt nicht wie ein echtes Lachen. Es klingt wie ein Wort, das ausgesprochen wird. „Lachen“, gesagt in einem gleichgültigen Ton.
„Ein Traum“, sagt die Gestalt. „Dein Traum. Aber das weißt du bereits, oder nicht? Tief in dir drin.“
Und plötzlich weiß ich es. Natürlich ist dies ein Traum. Ich war nie ein Student, nie an einer Universität. Oder doch? Die Erinnerungen sind da, aber sie fühlen sich an wie geliehene Kleider, die nicht richtig passen.
„Warum dieser Hörsaal?“, frage ich. „Warum träume ich von einem leeren Hörsaal?“
„Das musst du dir selbst beantworten“, sagt die Figur. „Aber ich kann dir helfen, die richtigen Fragen zu stellen.“
Die Gestalt tritt zur Seite, und das Licht hinter ihr wird schwächer. Jetzt kann ich ein Gesicht erkennen – oder vielmehr die Andeutung eines Gesichts. Es ist, als hätte jemand mit wenigen Strichen ein Gesicht skizziert: zwei Augen, eine Nase, ein Mund. Keine Details, keine besonderen Merkmale. Ein Platzhalter für ein Gesicht.
„Setzt dich“, sagt die Gestalt und deutet auf die erste Reihe.
Ich setze mich und spüre sofort, wie der Sitz sich meinem Körper anpasst. Die Polsterung gibt genau im richtigen Maß nach, nicht zu weich, nicht zu hart. Es ist der komfortabelste Stuhl, auf dem ich je gesessen habe.
Die Gestalt tippt auf dem Pult herum, und plötzlich erwacht die Leinwand zum Leben. Bilder flackern auf, zu schnell, um sie zu erkennen. Gesichter, Orte, Gegenstände – ein Kaleidoskop aus visuellen Eindrücken, das mir fast schwindelig macht.
„Stopp!“, rufe ich, und überraschenderweise hält die Bilderflut sofort an.
Auf der Leinwand ist jetzt ein einzelnes Bild zu sehen: ein kleines Café mit runden Tischen auf einem Bürgersteig. Die Sonne scheint, und die Tische sind mit rot-weiß karierten Tischdecken bedeckt. Eine Szene, die mir seltsam vertraut vorkommt, obwohl ich mir sicher bin, nie dort gewesen zu sein.
„Erkennst du es?“, fragt die Gestalt.
Ich schüttle den Kopf, aber da ist etwas – ein Kribbeln im Hinterkopf, als würde eine Erinnerung versuchen, an die Oberfläche zu gelangen.
„Du wirst es wiedererkennen, wenn du dort bist“, sagt die Gestalt. „Es wartet auf dich.“
„Was wartet auf mich?“
„Die nächste Frage. Die nächste Antwort. Der nächste Traum.“
Die Gestalt berührt erneut das Pult, und das Bild des Cafés verschwindet. Stattdessen erscheint ein Text auf der Leinwand, eine einzelne Zeile:
„Die Antworten liegen in den Träumen, die du noch nicht geträumt hast.“
Ich runzle die Stirn. „Das ist ziemlich kryptisch.“
Die Gestalt zuckt mit den Schultern, eine allzu menschliche Geste für ein Wesen ohne klare Konturen. „Träume sind immer kryptisch. Das ist ihr Wesen. Sie sprechen in Rätseln, weil die Wahrheit zu direkt wäre.“
„Welche Wahrheit?“
„Deine Wahrheit.“
Ich seufze frustriert. „Könntest du bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen?“
„Könnte ich“, sagt die Gestalt. „Aber dann würdest du nichts lernen.“
Die Gestalt tritt hinter dem Pult hervor und kommt auf mich zu. Mit jedem Schritt wird sie deutlicher, konkreter. Es ist, als würde sie aus dem Nebel einer ungenauen Skizze in die Klarheit einer hochauflösenden Fotografie treten. Und je näher sie kommt, desto mehr erkenne ich…
Mich selbst.
Nicht exakt wie ich bin – oder glaube zu sein. Etwas älter vielleicht, die Haare etwas länger, die Haltung etwas aufrechter. Aber unverkennbar ich.
„Überrascht?“, fragt mein anderes Ich und setzt sich neben mich.
„Nicht wirklich“, sage ich, und es stimmt. Auf einer tieferen Ebene habe ich es gewusst, vom ersten Moment an.
„Gut“, sagt mein Doppelgänger. „Das macht es einfacher.“
„Was einfacher?“
„Den Übergang.“
Ich spüre ein leichtes Unbehagen. „Welchen Übergang?“
Mein Doppelgänger lächelt, ein Lächeln, das ich aus dem Spiegel kenne, aber irgendwie anders. Weiser vielleicht, oder einfach nur müder.
„Von diesem Traum zum nächsten“, sagt er. „Du steckst fest, weißt du? In einer Schleife. Immer dieselben Träume, immer dieselben Muster. Du musst weitergehen.“
„Ich verstehe nicht“, sage ich, obwohl ein Teil von mir genau versteht.
Mein Doppelgänger seufzt. „Natürlich verstehst du. Du bist ich. Ich bin du. Wir sind derselbe Träumer.“
Er steht auf und geht zu einer Seitentür des Hörsaals, die ich vorher nicht bemerkt habe. Sie ist klein und unscheinbar, fast versteckt in der Wandvertäfelung.
„Diese Tür führt zum nächsten Traum“, sagt mein Doppelgänger. „Zu dem Café, das du auf der Leinwand gesehen hast. Jemand wartet dort auf dich.“
„Wer?“
„Das musst du selbst herausfinden.“ Mein Doppelgänger öffnet die Tür. Dahinter ist nichts zu sehen außer einem blendend weißen Licht. „Geh jetzt.“
Ich zögere. „Was ist, wenn ich nicht gehen will?“
Mein Doppelgänger zuckt mit den Schultern. „Dann bleibst du hier. In diesem leeren Hörsaal. Für immer. Ist das, was du willst?“
Natürlich ist es das nicht. Aber der Gedanke, durch diese Tür zu gehen, ins Unbekannte, macht mir Angst. Es ist lächerlich – ich weiß, dass dies nur ein Traum ist. Was kann mir schon passieren?
Aber Träume haben ihre eigene Logik, ihre eigenen Konsequenzen.
„Wird es… schmerzhaft sein?“, frage ich.
Mein Doppelgänger lacht, und diesmal klingt es echt. „Nein, es wird nicht schmerzhaft sein. Es wird wie Aufwachen sein, nur dass du in einen anderen Traum aufwachst.“
Ich nicke und stehe auf. Langsam gehe ich auf die Tür zu, auf das weiße Licht dahinter. Mit jedem Schritt fühle ich mich leichter, als würde die Schwerkraft nachlassen. Als ich die Tür erreiche, drehe ich mich noch einmal um.
Der Hörsaal ist jetzt nicht mehr leer. Auf jedem Sitz sitzt eine Figur, alle wie mein Doppelgänger aussehend, alle mich anstarrend. Hunderte von mir, alle in verschiedenen Altersstufen, in verschiedenen Kleidungsstilen, einige lächelnd, andere ernst.
„Was bedeutet das?“, frage ich.
Mein Doppelgänger, der immer noch neben der Tür steht, lächelt. „Alle Träume, die du noch träumen wirst. Alle Versionen von dir, die du noch sein wirst. Sie warten alle auf dich.“
Er macht eine einladende Geste zur Tür hin. „Geh jetzt. Das Café wartet.“
Ich nicke, atme tief durch und trete durch die Tür, in das weiße Licht.
Das Licht umhüllt mich, blendet mich, und für einen Moment bin ich nichts – kein Körper, kein Geist, nur Bewusstsein, das in der Helligkeit schwebt.
Dann verblasst das Licht, und ich blinzle in die Sonne. Ich sitze an einem der rot-weiß karierten Tische des Cafés, das ich auf der Leinwand gesehen habe. Der Platz vor mir ist besetzt, aber das Gesicht meines Gegenübers ist im Schatten eines großen Sonnenschirms verborgen.
„Endlich“, sagt eine Stimme. „Ich habe auf dich gewartet.“
Ich versuche, das Gesicht meines Gegenübers zu erkennen, aber die Sonne steht zu tief, blendet mich.
„Wer bist du?“, frage ich.
Die Gestalt lehnt sich vor, aus dem Schatten ins Licht, und ich erkenne…
Eine Frau. Nein, ein Mädchen. Vielleicht sechzehn oder siebzehn. Sie trägt ein weißes Sommerkleid und hat langes dunkles Haar. Ihre Augen sind von einem intensiven Blau, das fast übernatürlich wirkt.
„Erkennst du mich nicht?“, fragt sie, und in ihrer Stimme liegt Enttäuschung.
Ich schüttle den Kopf. „Sollte ich?“
„Ich bin in all deinen Träumen“, sagt sie. „Manchmal im Vordergrund, manchmal nur ein Gesicht in der Menge. Aber immer da.“
Ich versuche, mich zu erinnern, aber meine Traumerinnerungen sind wie Sand, der durch meine Finger rinnt. Je mehr ich versuche, sie festzuhalten, desto schneller verschwinden sie.
„Es tut mir leid“, sage ich. „Ich kann mich nicht erinnern.“
Sie seufzt, nicht verärgert, eher traurig. „Das ist in Ordnung. Es ist Teil des Problems.“
„Welches Problem?“
„Dass du vergisst“, sagt sie. „Dass du immer wieder von vorne anfängst, ohne zu wissen, was zuvor war.“
Sie nimmt einen Schluck aus einer Tasse, die plötzlich vor ihr steht – schwarzer Kaffee, ohne Zucker oder Milch, genau wie ich ihn mag.
„Weißt du, warum wir hier sind?“, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf.
„Wir suchen nach einem Weg hinaus“, sagt sie. „Aus der Schleife.“
„Welche Schleife?“
„Die Traumschleife. Du träumst, du vergisst, du träumst wieder. Immer und immer wieder, ohne Fortschritt, ohne Entwicklung.“
Ich schaue mich um. Das Café ist an einer belebten Straße, Autos fahren vorbei, Menschen gehen auf dem Bürgersteig entlang. Alles wirkt normal, alltäglich. Aber wenn ich genauer hinsehe, bemerke ich Unstimmigkeiten. Ein Auto, das zweimal vorbeikommt, in genau derselben Farbe, mit genau denselben Insassen. Ein Mann, der vorübergeht, innehält, sich umdreht und denselben Weg zurückgeht. Eine Taube, die aufsteigt, nur um Sekunden später wieder an derselben Stelle zu landen.
„Siehst du es jetzt?“, fragt das Mädchen.
Ich nicke langsam. „Eine Schleife.“
„Genau“, sagt sie. „Eine Reihe von Ereignissen, die sich wiederholen, mit kleinen Variationen, aber im Wesentlichen gleich bleiben.“
„Und wie kommen wir da raus?“
Das Mädchen lächelt, ein geheimnisvolles Lächeln, das ihr junges Gesicht alt erscheinen lässt. „Das ist die richtige Frage. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass es eine Schleife gibt. Der zweite Schritt ist, zu verstehen, warum.“
Sie deutet auf die Straße, auf die vorbeigehenden Menschen. „Schau sie dir an. Wirklich an. Was siehst du?“
Ich beobachte die Passanten. Auf den ersten Blick sehen sie normal aus, Menschen jeden Alters, jeder Größe, jeder Hautfarbe. Aber je länger ich schaue, desto mehr Gemeinsamkeiten entdecke ich. Die Art, wie sie gehen. Der Rhythmus ihrer Schritte. Die Weise, wie sie den Kopf halten.
„Sie sind alle… ähnlich“, sage ich zögernd.
„Sie sind alle du“, sagt das Mädchen. „Verschiedene Versionen von dir, verschiedene Möglichkeiten. Das hier ist kein gewöhnlicher Traum. Es ist ein Ort, an dem alle potentiellen Versionen deiner selbst zusammenkommen.“
Ich schaue wieder auf die Straße, und plötzlich kann ich es sehen. Unter den unterschiedlichen Gesichtern, Körpern, Kleidungsstilen erkenne ich mich selbst. In dem geschäftigen Banker, in dem lässigen Straßenmusiker, in der eiligen Mutter mit dem Kinderwagen, sogar in dem alten Mann, der langsam mit seinem Stock über die Straße geht.
„Aber warum?“, frage ich. „Warum träume ich von all diesen Versionen von mir?“
„Weil du nach etwas suchst“, sagt das Mädchen. „Nach einem bestimmten Weg, einem bestimmten Leben, das dir entgangen ist. Du durchsuchst alle Möglichkeiten, alle Pfade, die du hättest nehmen können.“
Ich versuche, diesen Gedanken zu verarbeiten. Es klingt verrückt, aber in der Logik des Traums macht es Sinn.
„Und was ist mit dir?“, frage ich. „Wer bist du in diesem… Szenario?“
Das Mädchen lächelt wieder, und diesmal erreicht das Lächeln ihre Augen. „Ich bin der Schlüssel zur Tür. Der Weg aus der Schleife heraus.“
„Wie meinst du das?“
„In jedem deiner Träume gibt es eine Aufgabe zu lösen, ein Rätsel zu entschlüsseln. Wenn du es schaffst, kommst du der Lösung näher. Dem Ende der Schleife.“
Ich lehne mich zurück und betrachte das Mädchen. Sie wirkt so selbstsicher, so überzeugt von dem, was sie sagt. Aber etwas stimmt nicht. Da ist ein Flackern in ihren Augen, ein leichtes Zittern ihrer Hand, als sie ihre Tasse hält.
„Du sagst nicht die ganze Wahrheit“, stelle ich fest.
Sie hält inne, und für einen Moment sieht sie überrascht aus. Dann lacht sie, ein helles, klares Lachen.
„Du lernst“, sagt sie anerkennend. „Du beginnst, die Muster zu erkennen.“
„Welche Muster?“
„Die kleinen Hinweise, die verräterischen Details. Die Risse in der Fassade.“ Sie stellt ihre Tasse ab und lehnt sich vor. „Nein, ich sage nicht die ganze Wahrheit. Aber das ist Teil des Spiels. Teil des Rätsels.“
„Also gut“, sage ich und lehne mich ebenfalls vor. „Was ist das Rätsel dieses Traums?“
„Du musst herausfinden, wer ich bin“, sagt sie. „Nicht nur in diesem Traum, sondern in allen Träumen. Wer ich wirklich bin, jenseits der Masken und Rollen, die ich spiele.“
Ich schüttle frustriert den Kopf. „Wie soll ich das tun, wenn ich mich nicht an meine früheren Träume erinnern kann?“
Das Mädchen greift über den Tisch und nimmt meine Hand. Ihre Haut ist warm, fast heiß, als würde Feuer unter ihrer Oberfläche brennen.
„Die Erinnerungen sind da“, sagt sie. „Tief in dir. Du musst sie nur wieder erwecken.“
Als sie meine Hand berührt, passiert etwas Seltsames. Die Welt um uns herum beginnt zu flackern, wie ein altes Fernsehbild mit schlechtem Empfang. Ich sehe Bilder, Fragmente anderer Träume: ein Wüstenpfad, der sich in der Hitze kräuselt; ein verschneiter Berggipfel im Mondlicht; ein überfüllter Marktplatz in einer fremden Stadt; ein einsames Leuchtfeuer an einer felsigen Küste.
Und in jedem dieser Bilder sehe ich eine Figur, manchmal im Zentrum, manchmal am Rand: das Mädchen in dem weißen Kleid. In der Wüste trägt sie einen weiten Umhang zum Schutz vor der Sonne. Auf dem Berggipfel ist sie in dicke Pelze gehüllt. Auf dem Marktplatz trägt sie bunte Tücher, die im Wind flattern. Am Leuchtfeuer steht sie in einem Regenmantel, der im Sturm flattert.
Immer sie, immer in verschiedenen Verkleidungen, aber mit denselben tiefblauen Augen.
„Du erinnerst dich“, sagt sie, und es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich nicke langsam. „Ja, aber nur an Bruchstücke. Ich weiß immer noch nicht, wer du bist.“
„Natürlich nicht“, sagt sie. „Das ist nicht so einfach zu beantworten. Aber du bist auf dem richtigen Weg.“
Sie lässt meine Hand los, und die Visionen verschwinden. Die Welt um uns herum stabilisiert sich wieder, wird wieder fest und greifbar.
„Die Zeit wird knapp“, sagt sie und wirft einen Blick zur Sonne, die nun tiefer steht als zuvor. „Der Traum neigt sich dem Ende zu.“
„Was passiert, wenn der Traum endet?“, frage ich.
„Du wachst auf“, sagt sie. „In der wirklichen Welt. Für eine Weile. Dann schläfst du wieder ein, und der nächste Traum beginnt. Vielleicht erinnerst du dich an diesen hier, vielleicht nicht.“
„Das klingt… entmutigend.“
Sie zuckt mit den Schultern. „Es ist, wie es ist. Aber mit jeder Runde der Schleife kommst du der Wahrheit näher. Und wenn du die Wahrheit erkennst, kannst du die Schleife durchbrechen.“
„Welche Wahrheit?“
„Wer ich bin“, sagt sie wieder. „Und wer du wirklich bist.“
Die Sonne berührt nun den Horizont, und die Schatten werden länger. Die Straße ist fast leer geworden, die meisten Figuren – die Versionen von mir – sind verschwunden.
„Bevor du gehst“, sagt das Mädchen, „habe ich noch einen Hinweis für dich.“
Sie greift in die Tasche ihres weißen Kleides und zieht etwas heraus, das wie eine alte, abgenutzte Spielkarte aussieht. Sie legt sie auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten.
„Nimm sie“, sagt sie. „Sie gehört dir.“
Ich nehme die Karte und drehe sie um. Es ist eine Tarotkarte, „Der Narr“, dargestellt als ein junger Mann, der sorglos am Rand einer Klippe tanzt, ohne auf den Abgrund zu seinen Füßen zu achten. In einer Hand hält er einen Stab, über der Schulter trägt er ein kleines Bündel, als wäre er bereit für eine lange Reise.
„Was bedeutet das?“, frage ich.
„Der Narr ist der Beginn einer Reise“, sagt das Mädchen. „Er steht für Potenzial, für Möglichkeiten, für den Mut, ins Unbekannte zu springen.“
Sie deutet auf die Karte. „Sieh genauer hin.“
Ich betrachte die Karte noch einmal, und diesmal bemerke ich etwas, das ich zuvor übersehen habe. Das Gesicht des Narren ist mein Gesicht. Und am Fuß der Klippe, halb verborgen zwischen Felsen, steht eine kleine Figur in einem weißen Kleid, die zu ihm aufschaut.
„Du und ich“, sage ich. „Am Anfang einer Reise.“
„Ja“, sagt das Mädchen. „Aber nicht nur am Anfang. Auch in der Mitte und am Ende. Wir sind immer zusammen, in jedem Traum, in jeder Möglichkeit.“
Die Sonne ist nun fast verschwunden, und das Café beginnt zu verblassen, wie ein Aquarell, auf das Wasser getropft ist. Die Farben laufen ineinander, die Konturen werden unscharf.
„Es ist Zeit“, sagt das Mädchen. „Der Traum endet.“
„Werde ich dich wiedersehen?“, frage ich, und bin überrascht von der Dringlichkeit in meiner Stimme.
Sie lächelt, ein Lächeln, das traurig und hoffnungsvoll zugleich ist. „Natürlich. Ich bin in all deinen Träumen. Du musst mich nur finden.“
Sie steht auf und geht um den Tisch herum. Bevor ich reagieren kann, beugt sie sich vor und küsst mich auf die Stirn. Ihre Lippen sind warm wie die Sonne.
„Vergiss nicht zu suchen“, flüstert sie. „Vergiss nicht, wer ich bin.“
Und dann löst sie sich auf, verschmilzt mit der verblassenden Welt um uns herum. Ich bin allein an dem Tisch, halte die Tarotkarte in der Hand und schaue in die untergehende Sonne.
Der Traum verblasst vollständig, löst sich in Licht auf, und ich falle, falle durch Schichten von Bewusstsein, bis ich sanft in meinem Bett lande, aufwache und an die Decke starre.