Die Schattenläufer

Ich renne durch die Stadt, nicht aus Angst, eher aus einer Art Notwendigkeit. So wie man manchmal Durst hat und trinken muss. Nur dass es eben Rennen ist. Die Straßen sind leer, aber nicht auf diese unheimliche Art, eher wie an einem Feiertag, wenn alle zuhause sind und nur die wirklich Wichtigen unterwegs. Zu denen ich offenbar gehöre. Ich fühle die Pflastersteine unter meinen Sohlen, ein bisschen zu hart, ein bisschen zu deutlich. Meine Schuhe sind dünn, wahrscheinlich die falschen für so was. Aber wer plant schon einen Traum-Marathon?
Die Häuserwände links und rechts sind blass, wie ausgewaschen. Beige vielleicht, oder ein sehr helles Grau. Manchmal kommt mir ein Gedanke, dass die Farben nachträglich retuschiert wurden, wie bei diesen alten Fotos, die man digital aufgepeppt hat. Nur dass hier jemand den Schieberegler für Sättigung fast auf Null gezogen hat. Einzig die Schatten sind dunkel und satt, viel zu präsent für dieses blasse Bühnenbild einer Stadt.
„Du musst den Rhythmus finden“, sagt eine Stimme neben mir. Es ist ein Mann mittleren Alters, der plötzlich mit mir läuft. Er trägt einen alten Trainingsanzug, der an den Ellbogen glänzt. Seine Haut ist ledrig, wie bei jemandem, der sein Leben draußen verbracht hat. „Wenn du den Rhythmus verlierst, dann holen sie dich.“
„Wer sind ’sie‘?“, frage ich, ohne langsamer zu werden.
„Die Schatten natürlich“, sagt er und lacht, als hätte ich einen schlechten Witz gerissen. „Die werden immer länger, je länger du läufst. Und wenn dein Schatten so lang ist, dass er sich mit dem Horizont verbindet, dann ist es vorbei.“
Ich schaue nach unten und sehe meinen Schatten vor mir, länger, als er sein sollte. Es ist später Vormittag, die Sonne steht hoch, eigentlich müsste er kurz sein, fast unter mir. Aber er streckt sich, mindestens drei Meter weit. Am Ende bewegt er sich nicht ganz synchron mit mir, wie eine verzögerte Übertragung.
„Du warst schon mal hier“, sagt der Mann. Es ist keine Frage.
Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin. Die Stadt kommt mir bekannt vor.
„Die Schatten sammeln Erinnerungen“, sagt er. „Deshalb werden sie länger.“
Wir biegen um eine Ecke, und plötzlich stehen wir auf einem kleinen Platz. In der Mitte steht ein Brunnen ohne Wasser. Drumherum sitzen Menschen an Tischen, die zu einem Café gehören müssen, das ich nicht sehen kann. Sie alle tragen Sonnenbrillen, obwohl es nicht besonders hell ist. Als wir näherkommen, drehen sie synchron ihre Köpfe in unsere Richtung. Ihre Gesichter sind ausdruckslos.
„Ignorier sie“, sagt mein Begleiter. „Die sind nur Platzhalter. Die eigentlichen Leute sind woanders.“
Wir laufen weiter, jetzt etwas schneller. Die Straßen werden enger, und der Himmel darüber ist nur noch ein schmaler Streifen zwischen den Dächern. Es riecht nach Salz und altem Fisch, wie an einem Hafen, der schon lange keine Schiffe mehr gesehen hat. Irgendwo spielt jemand Gitarre, dieselben drei Akkorde, immer wieder.
„Wo genau laufen wir hin?“, frage ich.
„Zum Meer“, sagt er. „Wie immer.“
Und mit einem Mal weiß ich, dass er recht hat. Natürlich laufen wir zum Meer. Dort ist alles, was wichtig ist. Meine Schritte werden leichter bei dem Gedanken, und für einen Moment vergesse ich meinen Schatten.
„Ein Fehler“, sagt mein Begleiter, und ich spüre etwas an meinem Knöchel. Ein Ziehen, wie wenn Gras sich um das Bein wickelt. Als ich nach unten schaue, sehe ich, wie mein Schatten sich verfestigt hat, wie schwarzer Teer. Und er hält mich fest.
Ich strauchle, fange mich aber wieder. Der Mann bleibt bei mir, legt eine Hand auf meine Schulter. „Du darfst nie vergessen, dass sie da sind“, sagt er. „Sobald du vergisst, werden sie real.“
Mit einer plötzlichen Bewegung reiße ich mein Bein los. Der Schatten zerreißt wie dünnes Papier, aber ich weiß, dass er sich wieder zusammensetzen wird. Wir rennen weiter, jetzt wirklich aus Notwendigkeit.
Die Straßen werden wieder breiter, und dann öffnet sich die Stadt wie ein Vorhang. Vor uns liegt das Meer, tiefblau und endlos. Am Ufer steht ein einzelnes Haus, weiß und würfelförmig, mit einer Terrasse, die aufs Wasser hinausragt. Ich kenne dieses Haus.
Das Haus sollte nicht hier sein. Es wurde vor Jahren abgerissen, um Platz für einen Hotelkomplex zu machen. Aber in diesem Moment ist es so real wie der Boden unter meinen Füßen.
„Da sind wir“, sagt mein Begleiter und bleibt stehen. „Du kannst jetzt reingehen. Ich warte hier.“
Ich sehe ihn an, verwirrt. „Sie werden dich holen“, sage ich und zeige auf seinen Schatten, der sich wie eine dunkle Pfütze um seine Füße gesammelt hat.
Er lächelt. „Ich bin nur ein Teil deines Traums. Ich bin schon lange geholt worden.“ Dann setzt er sich auf einen Stein am Wegesrand. „Geh schon.“
Ich zögere, dann laufe ich auf das Haus zu. Der Sand unter meinen Füßen ist heiß, aber nicht unangenehm. Er knirscht zwischen meinen Zehen, und ich merke erst jetzt, dass ich barfuß bin. Meine Schuhe müssen irgendwo auf dem Weg geblieben sein.
Die Tür des Hauses steht offen. Ich trete ein und finde mich in einem großen, hellen Raum wieder. Die Möbel sind einfach: ein rustikaler Holztisch, einige Stühle, ein Sofa mit verblichenem Blumenmuster. An den Wänden hängen Bilder von Landschaften, die ich nie gesehen habe. Durch die offenen Fenster weht eine leichte Brise und bringt den Geruch von Salz und Pinien mit sich.
In der Küchennische steht eine Frau. Sie hat mir den Rücken zugewandt und schneidet etwas auf einem Holzbrett. Das rhythmische Klopfen des Messers ist das einzige Geräusch im Raum. Ihre Haare sind zu einem lockeren Knoten gebunden, und sie trägt ein einfaches weißes Kleid, das im Wind flattert.
Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich weiß, dass ich sie kenne. Oder kennen sollte.
„Du bist spät“, sagt sie, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme ist weder vorwurfsvoll noch besonders freundlich. Sie stellt einfach eine Tatsache fest.
„Ich wurde aufgehalten“, sage ich. „Von den Schatten.“
Sie nickt, als wäre das eine völlig normale Erklärung. Vielleicht ist es das hier. „Das Essen ist fast fertig. Du kannst schon mal den Tisch decken.“
Ich tue, was sie sagt, finde Teller und Besteck in Schubladen, die mir seltsam vertraut vorkommen. Als ich fertig bin, dreht sie sich um, und ich sehe ihr Gesicht. Es ist nicht das einer konkreten Person, eher eine Zusammensetzung aus verschiedenen Gesichtern, die ich kenne oder mal gekannt habe. Ihre Augen sind sehr dunkel, fast schwarz, und scheinen alles zu sehen.
Sie stellt eine Schüssel auf den Tisch. Darin liegt etwas, das aussieht wie Paella, aber die Farben sind zu intensiv, das Gelb des Reises leuchtet fast, und die roten Paprikastücke pulsieren wie kleine Herzen.
„Iss“, sagt sie. „Du brauchst Kraft für den Rückweg.“
„Welchen Rückweg?“
Sie setzt sich mir gegenüber. „Du kannst nicht hierbleiben. Niemand kann das. Das hier ist nur ein Zwischenstopp.“
Ich nehme einen Löffel von der Paella. Sie schmeckt intensiv nach Safran und Meer, aber unter diesen Aromen liegt noch etwas anderes, etwas Bitteres, das ich nicht einordnen kann. Trotzdem esse ich weiter, plötzlich hungrig.
„Die Schatten sind Teile von dir“, sagt die Frau nach einer Weile. „Deshalb kannst du nicht vor ihnen weglaufen. Nicht für immer.“
„Was soll ich dann tun?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Das musst du selbst herausfinden. Ich bin nur hier, um dich zu füttern.“
Nach dem Essen führt sie mich auf die Terrasse. Die Sonne steht tief über dem Meer, und alles ist in goldenes Licht getaucht. Vor der Terrasse erstreckt sich ein kleiner Garten, der direkt in den Strand übergeht. Im Garten steht ein alter Olivenbaum, dessen silbrige Blätter im Wind rascheln.
„Es gibt einen Weg zurück durch den Olivenhain“, sagt sie und deutet auf eine Stelle hinter dem Baum, wo ich jetzt mehrere weitere Olivenbäume sehen kann, die einen kleinen Hain bilden. „Aber du musst warten, bis die Sonne untergegangen ist.“
„Warum?“
„Weil dann die Schatten verschwinden. Für eine kurze Zeit zumindest.“
Wir setzen uns auf zwei Stühle an der Terrassenkante und schauen aufs Meer hinaus. In der Ferne sehe ich ein Schiff, das langsam am Horizont entlangfährt. Es hinterlässt keine Spur im Wasser.
„Wirst du mitkommen?“, frage ich die Frau.
Sie schüttelt den Kopf. „Ich gehöre hierher. Zu diesem Haus, zu dieser Version des Meeres.“
„Und der Mann? „
„Er ist ein Grenzgänger“, sagt sie. „Er kann überall sein. Manchmal ist er der, der führt, manchmal der, der warnt. Heute war er beides.“
Die Sonne berührt den Horizont, und das Meer färbt sich rot wie Blut. Mein Schatten, der sich von meinen Füßen bis fast zum Haus erstreckt, beginnt zu verblassen.
„Es ist Zeit“, sagt die Frau und steht auf. Sie führt mich durch den Garten zum Olivenhain. Die Bäume stehen dichter, als ich gedacht hätte, und zwischen ihnen schlängelt sich ein schmaler Pfad.
„Folge einfach dem Weg“, sagt sie. „Und dreh dich nicht um. Egal, was du hörst.“
Ich nicke und trete auf den Pfad. Die Blätter der Olivenbäume reflektieren das letzte Sonnenlicht und scheinen fast zu leuchten. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist weich von altem Laub.
Nach ein paar Schritten höre ich, wie die Frau meinen Namen ruft. Nicht meinen richtigen Namen, sondern einen, den ich vor langer Zeit hatte, in einem anderen Leben vielleicht. Ich halte inne, zwinge mich aber, nicht zurückzuschauen.
„Es gibt noch etwas, das du wissen solltest“, ruft sie. Ihre Stimme klingt jetzt anders, tiefer und irgendwie dringlicher. „Die Schatten sind nicht deine Feinde. Sie sind deine Wegweiser. Ohne sie würdest du dich verirren.“
Ich gehe weiter, obwohl jede Faser meines Körpers mich drängt, mich umzudrehen. Der Pfad führt leicht bergauf, und die Olivenbäume werden allmählich durch andere Bäume ersetzt, die ich nicht erkennen kann. Es wird dunkler, aber nicht so dunkel, dass ich nichts mehr sehen könnte. Eher wie in der Dämmerung, wenn alle Konturen weicher werden und die Welt in Blautönen zu verschwimmen beginnt.
Irgendwann spüre ich, dass ich nicht mehr allein bin. Neben mir läuft jemand, ein Schatten am Rande meines Blickfelds. Ich weiß, dass es der Mann ist, obwohl ich ihn nicht direkt ansehe.
„Du hast es fast geschafft“, sagt er. „Nur noch ein kleines Stück.“
„Wohin gehen wir eigentlich?“, frage ich.
„Nach Hause“, sagt er einfach. „Wo sonst?“
Der Weg endet abrupt vor einer Tür, die mitten im Wald steht, ohne Wand, ohne Gebäude. Nur eine Tür mit einem messingfarbenen Knauf. Sie sieht aus wie die Tür zu meinem Kinderzimmer, aber gleichzeitig wie alle Türen, durch die ich je gegangen bin.
„Hier trennen sich unsere Wege“, sagt der Mann. „Zumindest für diesmal.“
„Werde ich dich wiedersehen?“, frage ich.
Er lacht leise. „Du hast die Regeln immer noch nicht verstanden. Ich bin du. Oder zumindest ein Teil von dir. Derjenige, der rennt, wenn alle anderen stehen bleiben.“
Dann ist er weg, und ich stehe allein vor der Tür. Ich lege die Hand auf den Knauf, der warm ist, als hätte ihn gerade jemand berührt. Als ich die Tür öffne, strömt helles Licht heraus, so intensiv, dass ich die Augen schließen muss.
Als ich sie wieder öffne, liege ich in meinem Bett. Das Laken ist verschwitzt und um meine Beine gewickelt wie eine Fessel. Durch das Fenster fällt Morgenlicht, und irgendwo in der Ferne höre ich das Rauschen des Meeres. Oder vielleicht ist es nur der Verkehr der erwachenden Stadt.