Ich träume von einer schmalen Gasse, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, die unter meinen Schritten leise knarzen wie alte Knochen. Die Luft hängt schwer und staubig zwischen den Häusern, als hätte sie sich seit Jahrzehnten nicht bewegt. Es ist einer dieser Tage, an denen die Zeit selbst müde zu sein scheint.

Vor mir sitzt ein alter Mann auf den Stufen eines Hauses. Seine Haut ist pergamentartig und faltig, wie eine Landkarte längst vergessener Orte. Er trägt einen abgenutzten hellen Anzug, der einmal elegant gewesen sein muss. Seine Hände ruhen auf seinen Knien, knorrig und geädert wie Wurzeln eines alten Baumes. Er sieht nicht zu mir auf, als ich näherkomme, sondern bleibt in seine eigenen Gedanken versunken.

„Darf ich mich setzen?“, frage ich.

Er nickt kaum merklich, ohne den Blick zu heben. Ich lasse mich neben ihm auf die Stufe sinken. Der Stein ist warm von der Sonne, die hier vor Stunden geschienen haben muss, aber jetzt hinter den hohen Häusern verschwunden ist.

„Sie warten auf jemanden?“, frage ich nach einer Weile.

Der Alte hebt langsam den Kopf. Seine Augen sind hell und klar, wie Fenster in ein anderes Jahrhundert. „Nicht auf jemanden“, sagt er mit einer Stimme, die klingt wie raschelndes Papier. „Auf etwas.“

In den Fenstern des Hauses hinter uns spiegelt sich die Straße. In einem erkenne ich einen Hund, der seinen Kopf auf die Pfoten gelegt hat, in einem anderen ein Kind mit ernstem Gesicht in einem grauen Kittel. Beide schauen regungslos nach draußen, als wären sie Teil eines Gemäldes, das jemand vor langer Zeit begonnen und nie vollendet hat.

„Auf was warten Sie?“, frage ich.

„Auf den richtigen Moment“, antwortet er und lächelt leicht. „Er kommt nicht oft vorbei, weißt du. Manchmal nur einmal im Leben. Manche Menschen bemerken ihn nicht einmal, wenn er direkt vor ihnen steht.“

Ich blicke die Straße hinunter. Sie ist leer, nur ein Korb steht neben dem Alten auf der Stufe. Ich hatte ihn zunächst gar nicht bemerkt.

„Was ist in dem Korb?“, frage ich.

„Zeit“, sagt er einfach, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Übriggebliebene Zeit. Momente, die niemand bemerkt hat. Sekunden, die zwischen Atemzügen verloren, gegangen sind. Minuten, die jemand vergeudet, hat.“

Ich lache unsicher. „Zeit kann man doch nicht in einen Korb packen.“

„Nein?“ Er sieht mich jetzt direkt an, und in seinen Augen liegt ein wissender Ausdruck. „Was denkst du, woher Träume kommen? Es ist übriggebliebene Zeit, die keinen Platz in deinem wachen Leben gefunden hat.“

Ein kühler Wind streicht durch die Gasse und lässt die Fensterläden leise knarren. Das Kind im Fenster hat sich nicht bewegt, aber sein Blick scheint jetzt direkt auf mich gerichtet zu sein. Der Hund im anderen Fenster hebt kurz den Kopf, als hätte er etwas gehört, was mir entgangen ist.

„Darf ich hineinsehen?“, frage ich und deute auf den Korb.

Der Alte zögert, dann nickt er. „Du kannst hineinschauen, aber berühre nichts. Zeit, die dir nicht gehört, kann gefährlich sein.“

Ich beuge mich vor und spähe in den geflochtenen Korb. Zuerst sehe ich nichts, nur Dunkelheit. Dann beginne ich Dinge zu erkennen – schimmernde Fäden, winzige Lichter, die wie Glühwürmchen tanzen, durchsichtige Perlen, die Bilder zu enthalten scheinen. Ich beuge mich tiefer, fasziniert von einem besonders hell leuchtenden Punkt.

„Vorsicht“, warnt der Alte, aber es ist zu spät. Meine Nasenspitze hat einen der schwebenden Lichtpunkte berührt.

Die Welt um mich herum verschwimmt. Ich spüre einen Sog, als würde mich etwas in den Korb ziehen. Die Gasse, der Alte, das Haus – alles verschwindet in einem Wirbel aus Farben und Geräuschen.

Als die Welt wieder Gestalt annimmt, stehe ich in einem Raum, den ich noch nie gesehen habe, aber der mir seltsam vertraut vorkommt. Ein Fenster steht offen, durch das warme Sommerluft und das Geräusch spielender Kinder hereinweht. Auf einem Tisch liegen Papiere, Bücher, eine angefangene Zeichnung.

Ich trete näher und erkenne, dass es sich um eine Kinderzeichnung handelt. Eine Figur in hellem Anzug, die auf einer Treppe sitzt. Neben ihr ein Korb. Im Hintergrund ein Haus mit vielen Fenstern.

„Hier bist du also.“

Ich drehe mich um und sehe das Kind aus dem Fenster. Es trägt immer noch den grauen Kittel, aber jetzt kann ich erkennen, dass es ein Mädchen ist. Sie hat ernste Augen in einem schmalen Gesicht.

„Wo bin ich?“, frage ich.

„In meiner Zeit“, sagt sie. „Du hast sie berührt, also gehört sie jetzt für einen Moment auch dir.“

„Bist du… real?“

Sie legt den Kopf schief und betrachtet mich nachdenklich. „Sind Träume real? Sind Erinnerungen real? Ich bin so real wie der alte Mann, der meine Zeit sammelt.“

„Warum sammelt er Zeit?“

„Weil jemand es tun muss.“ Sie zuckt mit den Schultern, als wäre es eine lästige Pflicht, über die sie nicht weiter nachdenken möchte. „Die Welt würde überquellen, wenn all die unbeachteten Momente einfach herumliegen würden. Stell dir vor, wie das wäre – all die Augenblicke, die niemand sieht, die ungelebten Möglichkeiten, die nie genutzten Chancen. Sie müssen irgendwohin.“

Draußen bellt ein Hund. Das Mädchen dreht sich zum Fenster.

„Er ist noch da“, sagt sie. „Der Mann mit dem Korb. Er sammelt meine Zeit, weil ich bald keine mehr haben werde.“

„Was meinst du damit?“, frage ich, plötzlich beunruhigt.

Sie antwortet nicht, sondern greift nach einem Blatt Papier. Mit schnellen, sicheren Strichen skizziert sie etwas. Als sie fertig ist, reicht sie mir die Zeichnung. Es ist ein Bild von mir, wie ich schlafend in einem Bett liege, das nicht meins ist. Um mich herum schweben kleine Lichtpunkte, wie die in dem Korb.

„Deine Zeit läuft auch ab“, sagt sie. „Nicht so schnell wie meine, aber sie fließt. Jeden Tag verlierst du Momente, die du nie zurückbekommst. Der alte Mann sammelt sie für dich auf.“

„Für mich? Warum?“

„Damit du dich eines Tages erinnern kannst. An alles, was du vergessen hast. An alles, was du hättest tun können. An alles, was du nicht gesehen hast.“

Der Hund bellt wieder, lauter diesmal. Das Mädchen sieht erneut zum Fenster.

„Du musst jetzt gehen“, sagt sie. „Er ruft dich zurück.“

„Wer? Der Hund?“

Sie lacht, ein helles, überraschend fröhliches Geräusch in dem stillen Raum. „Nein, nicht der Hund. Die Zeit. Deine eigene Zeit ruft dich zurück.“

Sie berührt meine Hand, und ihre Finger sind kühl wie Wasser. Im selben Moment spüre ich wieder den Sog, den Wirbel aus Farben und Geräuschen. Ich halte noch immer die Zeichnung in der Hand, aber sie beginnt sich aufzulösen, wird durchsichtig wie ein Nebelschleier.

„Vergiss nicht zu schauen!“, ruft das Mädchen mir nach, ihre Stimme schon fern und verzerrt. „Die meisten Menschen schauen nicht!“

Dann finde ich mich wieder auf der Stufe neben dem alten Mann. Es ist, als wäre keine Zeit vergangen. Er sitzt regungslos wie zuvor, den Blick auf die leere Gasse gerichtet.

„Was hast du gesehen?“, fragt er, ohne mich anzusehen.

Ich will antworten, aber die Erinnerung ist bereits unscharf, wie ein Traum, der im Morgenlicht verblasst. „Ein Mädchen“, sage ich schließlich. „Sie hat gesagt, Sie sammeln ihre Zeit, weil sie bald keine mehr haben wird.“

Der Alte nickt langsam. „Sie ist krank. Sehr krank. Ich sammle ihre ungenutzte Zeit, damit nichts davon verloren geht.“

„Ist sie… wird sie sterben?“

Er antwortet nicht sofort. Seine knorrigen Finger streichen über den Rand des Korbes. „Alle sterben irgendwann. Aber manche hinterlassen mehr ungelebte Zeit als andere. Die Jungen hinterlassen besonders viel. All die Tage, die sie nie sehen werden. All die Sommernachmittage, all die ersten Küsse, all die Bücher, die sie nie lesen werden.“

„Und was machen Sie damit? Mit all der gesammelten Zeit?“

„Ich gebe sie zurück.“

„An wen?“

Ein leichtes Lächeln huscht über sein Gesicht. „An die Träumer. An die, die bereit sind zu sehen. An dich, zum Beispiel.“

Ich will weiterfragen, aber plötzlich fühle ich mich unendlich müde. Meine Augenlider werden schwer, als hätte jemand Gewichte daran gehängt.

„Du solltest jetzt gehen“, sagt der Alte. „Deine eigene Zeit wartet auf dich.“

Ich nicke benommen und stehe auf. Die Gasse vor mir scheint zu schwanken, die Umrisse der Häuser werden unscharf. Ich mache ein paar unsichere Schritte.

„Halt“, ruft der Alte mir nach. Ich drehe mich um. Er hält mir den Korb hin. „Nimm einen mit. Einen Moment. Als Erinnerung.“

Zögernd greife ich in den Korb. Meine Finger schließen sich um etwas Warmes, Pulsierendes. Als ich die Hand herausziehe, halte ich einen winzigen Lichtpunkt, nicht größer als eine Erbse, aber so hell, dass er meine ganze Hand durchscheinen lässt.

„Was ist das?“, frage ich.

„Ein ungenutzter Moment. Eine Möglichkeit. Vielleicht wird er dir eines Tages nützlich sein.“

Ich schließe meine Finger vorsichtig um das kleine Licht und stecke es in meine Tasche. Es fühlt sich warm an, wie ein lebendiges Wesen.

„Danke“, sage ich.

Der Alte nickt nur und wendet den Blick wieder der leeren Gasse zu. Im Fenster hinter ihm sehe ich, wie das Mädchen die Hand hebt und winkt. Der Hund hat den Kopf gehoben und scheint mich direkt anzusehen.

Ich gehe die Gasse hinunter, und mit jedem Schritt verschwimmt die Welt mehr. Die Häuser, die Pflastersteine, der Himmel – alles löst sich auf wie ein Aquarell im Regen. Nur das warme Pulsieren in meiner Tasche bleibt real.

Als ich aufwache, liege ich in meinem eigenen Bett. Durch das Fenster fällt Morgenlicht, und irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Ich greife in meine Tasche, aber natürlich ist da nichts. Kein Lichtpunkt, kein geborgter Moment aus dem Korb eines alten Mannes.

Und dennoch – als ich aufstehe und ans Fenster trete, habe ich für einen Augenblick das Gefühl, mehr zu sehen als sonst. Die Farben sind intensiver, die Geräusche klarer, die Luft schmeckt süßer. Als hätte ich tatsächlich etwas mitgebracht aus meinem Traum. Einen Moment, der nicht mir gehört, aber den ich jetzt leben darf.

Auf der Straße geht ein alter Mann vorbei. Er trägt einen hellen Anzug und schiebt ein Fahrrad, an dessen Lenker ein geflochtener Korb hängt. Er blickt nicht hoch zu meinem Fenster, aber als er vorbeigeht, glaube ich zu sehen, wie etwas in seinem Korb aufleuchtet – kurz und hell wie ein verirrter Stern.