Elina – Im Schatten der Mauern

Die Mauer
Ich stehe wieder hier.
An diesem gottverdammten Ort, an dem die Zeit stockt und die Schatten sich wie Katzen in die Ecken schleichen.
Die Mauer. Grau, porös, mit Rissen, die wie alte Narben wirken. Ich fahre mit den Fingerspitzen darüber, spüre das raue Kratzen, das Staubige. Der Geruch von feuchtem Stein, von Moos, von Moder. Als würde das Ding atmen.
Ich ziehe die Jacke enger um mich. Der Wind ist plötzlich da. Kalt, spitz, kriecht mir in den Nacken. Natürlich ist er da. Immer wenn ich hier bin.
„Was machst du hier, Elina?“, flüstere ich mir selber zu. Keine Antwort.
Die Stadt liegt hinter mir. Laut, stumpf, gleichgültig. Doch hier… hier ist es anders. Hier ist alles lauter. Der Kies unter meinen Stiefeln knirscht wie ein Schrei. Ein Krähenruf zerreißt die Stille.
Ich drehe das Amulett zwischen meinen Fingern. Dünne goldene Kette, ein seltsames Symbol auf dem Anhänger. Kein Mensch weiß, was es bedeutet. Ich auch nicht. Aber es ist das Einzige, was von ihr blieb. Von meiner Mutter.
Sie ging. Einfach so. Vor fünf Jahren. Spurlos. Keine Nachricht, kein Abschiedsbrief, nichts.
Nur das Amulett. Und diese verdammte Mauer.
Manchmal glaube ich, sie hat etwas mitgenommen. Einen Teil von mir. Vielleicht mein Lachen. Vielleicht mein Vertrauen.
Ich lehne mich an die kalte Steinwand. Atme tief ein. Schließe die Augen. Der Wind hört auf. Unnatürlich plötzlich.
Da.
Ein Flüstern. Direkt an meinem Ohr.
„Elina…“
Ich reiße die Augen auf. Nichts. Nur das Zittern meiner eigenen Hände.
War’s der Wind? Oder doch mehr?
Ich bleibe stehen. Lange. Bis die Sonne langsam verschwindet und die Mauer in ein fahles Blau taucht.
Mein Herz hämmert. Ich weiß, ich werde wiederkommen.
Ich kann nicht anders.
Die Nachricht im Stein
Ich bin zurück.
War klar. Ich kann mich selber nicht mehr ernst nehmen, wenn ich mir schwöre, das lasse ich jetzt sein. Die Mauer zieht mich an wie ein Magnet.
Oder ein Abgrund.
Es ist noch früh. Die Sonne hängt bleich und müde zwischen den Wolken. Ich gehe langsam, fast zögerlich. Jeder Schritt ein leises Knirschen auf dem Schotterweg.
Heute ist da etwas anders.
Das Licht bricht sich seltsam im Mauerwerk. Fast, als hätte jemand einen dünnen Schleier aus Glas darüber gelegt.
Ich knie mich hin. Direkt da, wo die größten Risse sind. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil ich denke, irgendwo muss doch ein Zeichen sein. Ein Hinweis.
Und dann sehe ich es.
Ein kleiner, zusammengefalteter Zettel, eingeklemmt zwischen zwei Steinen. So dünn, dass ich ihn beim ersten Hinsehen fast übersehe.
Ich ziehe ihn vorsichtig heraus. Die Ecken sind brüchig, das Papier riecht nach Erde und altem Eisen.
Meine Hände zittern, als ich ihn entfalte.
Schwarz auf vergilbtem Grund, eine einzige Zeile in krakeliger, unruhiger Schrift:
„Folge dem Ruf.“
Ich starre auf die Worte. Mein Mund wird trocken.
Keine Unterschrift. Keine Erklärung. Nur dieser Satz.
Der Wind kommt zurück. Hart, böig. Wirbelt Staub und kleine Kieselsteine auf. Das Amulett an meinem Hals schlägt gegen meine Brust.
Ich blicke mich um. Niemand. Nur ich und diese Mauer, die mich wieder ansieht.
Oder bilde ich mir das ein?
Ich stecke den Zettel ein. Atme schwer. Meine Gedanken rasen.
Ich weiß, was ich tun werde.
Ich werde dem verdammten Ruf folgen.
Schattenrisse
Seit dem Fund lässt mich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Nicht direkt. Eher so… aus dem Augenwinkel. Wie ein Hauch, der sich in die Haut frisst.
Ich laufe durch die Stadt. Die normalen Straßen. Die, die jeder kennt. Kopfsteinpflaster, schiefe Laternen, Stromkästen mit Aufklebern, die keiner mehr lesen kann.
Aber ich sehe sie.
Die Risse.
Feine, dunkle Linien, die plötzlich an den Hauswänden auftauchen. An der alten Backsteinfassade der Post. Am Tunnel unter den Bahnschienen. Am Sockel der Bronzestatue auf dem Marktplatz.
Ich bleibe stehen.
Lege die Fingerspitzen an eine dieser Linien. Kalt.
Nichts passiert. Natürlich nicht. Und doch…
Als ich die Hand wegziehe, bilde ich mir ein, dass sich der Riss bewegt hat.
Nur ein kleines bisschen. Ein kaum sichtbares Pulsieren.
Wie etwas, das schläft und gerade anfängt, sich zu regen.
Nachts träume ich schlecht.
Ich stehe wieder an der Mauer, aber sie ist höher, endlos hoch, und aus den Rissen quellen Schatten. Schwarze, schlanke Figuren ohne Gesichter. Sie sehen mich nicht, sie wissen, dass ich da bin. Das ist fast schlimmer.
Ich wache schweißgebadet auf.
Am nächsten Morgen beschließe ich, zurückzugehen.
Zur Mauer. Zum Ursprung.
Ich muss wissen, was das alles bedeutet.
Der Wind empfängt mich schon am Anfang des Weges. Ich spüre, wie mein Amulett kälter wird, je näher ich komme.
Die Mauer steht da, unverändert, aber ich erkenne sofort: etwas hat sich verändert.
Da.
Eine Gestalt.
Am Rand meines Blickfelds.
Blass, still, reglos. Nur für einen Atemzug sichtbar. Dann ist sie weg.
Ich schlucke schwer. Meine Beine wollen fliehen. Mein Kopf bleibt stehen.
Es hat begonnen.
Der Ruf hat mich gefunden.
Die Begegnung
Ich stehe da wie angewurzelt.
Der Schatten… war da. Ich hab ihn gesehen. Nicht eingebildet.
Der Wind wirbelt Blätter über den Boden, als wollte er mich auslachen.
Ich ziehe den Kragen hoch, mache einen Schritt. Noch einen.
Und da. Wieder.
Diesmal steht er direkt vor mir.
Eine schlanke Gestalt, ganz in dunklem Stoff. Mantel? Umhang? Keine Ahnung. Das Licht bricht sich seltsam an seinen Konturen, als wäre er halb hier, halb woanders.
Er hebt den Kopf. Ich sehe das Gesicht. Blass, fast durchsichtig, harte, scharfe Züge. Augen, so grau wie kalter Stahl, und doch… da ist etwas Warmes darin. Eine Traurigkeit vielleicht.
Wir starren uns an. Lange.
Ich will etwas sagen. Meine Stimme bleibt stecken.
„Du hast den Zettel gefunden.“
Seine Stimme ist ruhig, dunkel, fast zu leise für den Wind.
Ich nicke nur.
Er kommt einen Schritt näher. Ich weiche nicht zurück. Warum auch? Mein Herz hämmert sowieso wie verrückt.
„Elina.“
Mein Name in seinem Mund klingt fremd. Ich frage nicht, woher er ihn kennt.
„Wer bist du?“
„Lior.“
Er sagt es, als sei es Antwort genug.
Pause.
Die Stille zwischen uns ist dick, fast greifbar.
„Was willst du?“
„Ich bin nicht gekommen, um dir etwas zu wollen. Ich bin gekommen, weil du gesucht hast.“
Sein Blick wandert zu meinem Amulett.
„Der Schlüssel.“
Ich fasse das Ding unbewusst an.
„Was soll das heißen?“
Er geht an mir vorbei, bleibt bei der Mauer stehen. Legt die Hand auf den Stein, streicht fast zärtlich darüber.
„Die Stadt hat viele Gesichter. Viele Wege. Die meisten siehst du nicht. Noch nicht.“
Ich gehe langsam zu ihm.
„Meine Mutter…“
Er nickt nur.
„Ich weiß.“
Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Dass er es weiß oder dass er nicht überrascht ist.
Lior dreht sich wieder zu mir.
„Wenn du Antworten willst, Elina… dann musst du mir folgen.“
Der Wind wird stärker. Ich spüre, wie sich etwas um uns verdichtet. Unsichtbar, schwer.
Ich schaue ihm in die Augen.
Grauer Nebel.
Und ich weiß: Ich werde mitgehen.
Ich habe keine Wahl.
Das verlassene Viertel
Wir gehen schweigend.
Lior schreitet voraus, als kenne er jeden Zentimeter des Weges. Ich trotte hinterher, den Blick auf seine dunkle Silhouette geheftet.
Der Wind hat nachgelassen. Stattdessen hängt eine drückende Stille über allem.
Die Stadt verändert sich.
Kaum merklich zuerst.
Zäune wirken krummer, Fenster blinder, Laternen biegen sich in falschen Winkeln.
Als ob jemand das Viertel in Eile zusammengeflickt hätte, um es dann sofort wieder zu vergessen.
Ich bleibe kurz stehen.
Vor mir ein Schaufenster. Früher mal ein Blumenladen vielleicht. Jetzt nur noch bröckelndes Glas, ein umgekippter Blumentopf, darin Erde, staubtrocken.
Eine einzelne welkende Blüte steckt noch schief darin.
Ich fröstele.
„Komm.“
Liors Stimme reißt mich aus dem Blick.
Er führt mich tiefer hinein.
Straßenschilder sind verwittert, kaum lesbar.
Ein alter Zeitungskiosk steht da, windschief, als würde er gleich umkippen. Drinnen liegen Zeitungen, datiert auf Jahre, die es nie gegeben hat.
Dann plötzlich: Geräusche.
Flüstern.
Wie Stimmen, die direkt unter meiner Haut kriechen.
Ich halte an. Blicke hektisch um mich.
Leere. Nur das Echo meiner Schritte auf dem bröckelnden Asphalt.
„Du hörst sie?“
Lior steht da, wartet geduldig.
„Was… was ist das?“
Er sieht mich an, seine grauen Augen ohne Regung.
„Die Schatten derer, die vergessen wurden.“
Ich schlucke.
Wir gehen weiter.
An einer Hauswand zieht sich ein Riss von oben bis unten. Schwarz, pulsierend wie ein lebendiges Ding.
Mein Magen verkrampft sich.
„Wohin bringst du mich?“
„Dorthin, wo es beginnt.“
Ich sage nichts mehr.
Laufe einfach weiter, Schritt für Schritt, in diese zerfallene Welt hinein, aus der es vielleicht kein Zurück mehr gibt.
Der Spiegel ohne Bild
Der Weg endet abrupt.
Vor uns ragt ein altes Gebäude auf, grau, verwittert, Fensterläden hängen schief, als hätten sie schon lange aufgegeben.
Die Tür steht halb offen. Lior schiebt sie mit einem knarrenden Stoß ganz auf.
„Hier.“
Er tritt ein, ich folge.
Drinnen: Staub. So viel, dass er in der Luft tanzt wie kleine glimmende Partikel.
Der Boden ist von Schutt übersät. Alte Zeitungen, zerfetzte Tapeten, zerbrochene Fliesen.
Es riecht nach kaltem Stein, nassem Holz, Rost.
Im hinteren Raum bleibt Lior stehen.
Ich sehe es sofort.
Ein Spiegel. Groß, fast zwei Meter hoch, in einem massiven, dunklen Rahmen. Steht einfach so da, an die Wand gelehnt.
Der Staub hat sich nicht darauf abgesetzt. Er glänzt. Unnatürlich sauber.
Unwirklich.
„Geh näher.“
Liors Stimme klingt plötzlich anders. Tiefer. Fast wie ein Befehl.
Ich gehe. Zögerlich. Jeder Schritt knarzt.
Bleibe vor dem Spiegel stehen. Schaue hinein.
Und sehe… nichts.
Kein Spiegelbild.
Nur dunkle Leere. Tief, bodenlos.
Mein Herz schlägt schneller. Ich strecke zögerlich die Hand aus.
Die Oberfläche bleibt glatt, kalt.
Doch dann…
Ein Flackern.
Schemen tauchen auf. Erst verschwommen, dann schärfer.
Ein Gesicht.
Ich reiße die Hand zurück.
Mein Atem stockt.
Es ist sie.
Meine Mutter.
Blickt mich an, ernst, still. Lippen bewegen sich, aber kein Ton dringt durch.
Ich will schreien, etwas rufen, aber kein Laut kommt aus meiner Kehle.
Dann verblasst das Bild, zieht sich zusammen wie Rauch und verschwindet.
Der Spiegel zeigt wieder nur Dunkelheit.
Ich drehe mich zu Lior um.
„Was war das?“
Er schaut mich an, ernst.
„Ein Fragment. Ein Schatten ihrer Erinnerung. Noch nicht die Wahrheit.“
Ich presse die Hände gegen meinen Brustkorb, als könnte ich damit mein Herz beruhigen.
„Was jetzt?“
Lior wendet sich ab, geht zur Tür.
„Jetzt gehen wir tiefer.“
Die Bibliothek der verlorenen Namen
Wir laufen schweigend.
Der Weg wird schmaler, die Gebäude um uns herum wirken wie zusammengedrückt, als wollten sie uns zerquetschen.
Kein Laut. Kein Wind. Keine Vögel. Nur unser Atem und unsere Schritte.
Lior bleibt vor einem unscheinbaren Gebäude stehen.
Fensterlos. Glatte Steinwände, grau wie Asche. Keine Tür, kein Eingang.
„Vertrau mir.“
Er legt seine Hand flach an die Wand. Das Amulett an meinem Hals wird in diesem Moment eiskalt.
Ein Riss bildet sich, läuft wie eine schwarze Narbe über den Stein.
Langsam schiebt sich ein Spalt auf. Dahinter Dunkelheit.
Ich zögere.
„Was ist das?“
„Die Bibliothek der verlorenen Namen.“
Lior tritt ein. Ich folge ihm in die Dunkelheit.
Drinnen entzündet sich Licht. Schwaches, schwebendes Glühen, das aus nichts zu kommen scheint.
Ich stehe da und starre.
Meterhohe Regale, endlos in die Höhe gestapelt. Alte, zerfledderte Bücher. Pergamentrollen. Schubladen mit Karteikarten.
Der Geruch von Staub, Leder und etwas Unfassbarem, das ich nicht benennen kann.
Lior geht zielstrebig zu einem alten Pult.
Schlägt ein dickes Buch auf.
Der Einband: Schwarz, rissig, mit einem Symbol, das meinem Amulett ähnelt.
„Hier sind sie alle verzeichnet“, sagt er leise.
„Wer?“
„Die, die gegangen sind. Die, die verschwunden sind. Die, die von der Stadt geholt wurden.“
Mein Herz rast.
„Und meine Mutter?“
Er blättert. Seite um Seite. Namen, unendlich viele.
Ich lehne mich vor, lese flüchtig: Corvin Adler. Lia Mendez. Rafael Lorne…
Seite um Seite. Kein Hinweis.
Lior schlägt das Buch abrupt zu.
Sein Blick ist düster.
„Sie ist nicht hier.“
Mein Magen zieht sich zusammen.
„Was heißt das?“
„Sie ist nicht tot. Nicht ganz verloren. Aber sie ist außerhalb des bekannten Weges.“
Ich presse die Lippen zusammen, spüre Wut, Angst, Hoffnung zugleich.
„Was jetzt?“
Lior legt mir kurz die Hand auf die Schulter.
„Jetzt müssen wir dorthin, wo niemand freiwillig hingeht.“
Der Spalt hinter uns beginnt sich lautlos zu schließen.
Ich weiß, der Weg zurück existiert nicht mehr.
Zwischenwelt
Wir gehen.
Kein Ziel in Sicht. Nur dieses diffuse Gefühl, dass jeder Schritt uns weiter fortträgt von dem, was ich einmal als „meine Welt“ kannte.
Der Boden unter unseren Füßen wird zu etwas anderem. Erst Kopfsteinpflaster, dann glatter Stein, dann etwas Weiches, das bei jedem Schritt nachgibt wie nasser Sand.
Ich schaue nicht mehr zurück. Da ist nichts mehr. Nur Nebel.
Vor uns: Mauern.
Keine Häuser mehr, nur noch Mauern, die sich endlos winden. Hoch, glatt, kalt.
Ein Labyrinth.
„Das ist die Zwischenwelt“, sagt Lior leise. „Hier vermischen sich Spuren, Erinnerungen, verlorene Wege.“
Ich berühre die nächste Wand. Sofort spüre ich den kalten Schlag, als ob mir jemand einen Stromstoß verpasst hätte.
Ein Flüstern direkt an meinem Ohr:
„Elina…“
Ich reiße die Hand weg, weiche zurück.
„Was war das?“
„Fragmente. Reste derer, die nicht zurückgefunden haben.“
Seine Stimme bleibt ruhig, als sei das völlig normal.
Wir laufen weiter.
Jede Mauer sieht gleich aus. Grau, glatt, rissig. Aber manchmal sehe ich kurz Gesichter, Hände, Schatten, die aus der Wand herauszuwollen scheinen.
Nie ganz. Nie lang genug, um sicher zu sein, was ich gesehen habe.
Plötzlich bleiben wir stehen.
Vor uns eine Tür. Alt, verwittert, ohne Klinke. In das Holz ist mein Symbol eingeritzt.
Lior schaut mich an.
„Das ist deine Schwelle.“
Ich lege meine Hand zögerlich auf das Zeichen.
Ein leises Klicken. Die Tür öffnet sich langsam.
Ich atme tief ein.
Hinter der Schwelle: Nichts als Dunkelheit.
„Nur du kannst weitergehen.“
Lior bleibt stehen. Keine Bewegung, kein Versuch, mir zu folgen.
Ich blicke zurück. Unsere Blicke treffen sich.
„Und du?“
„Ich bin nur dein Begleiter bis hierhin. Ab jetzt musst du allein sein.“
Der Wind hebt sich plötzlich. Die Dunkelheit ruft.
Ich mache einen Schritt nach vorne.
Dann den nächsten.
Die Tür schließt sich lautlos hinter mir.
Der Schlüssel der Erinnerung
Dunkelheit.
Nicht schwarz, sondern tiefer, als ob selbst das Schwarz geschluckt wird.
Ich stehe still. Höre nur meinen Atem.
Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich an wie glattes, kaltes Metall.
Vorsichtige Schritte. Ein Knirschen, als ob ich über Glassplitter gehe.
Plötzlich ein schwaches Leuchten in der Ferne.
Ich gehe darauf zu.
Der Raum weitet sich. Die Dunkelheit wird dünner.
Vor mir steht ein alter Tisch, zerkratzt, schief, die Beine wirken wie von Termiten angefressen.
Darauf: ein kleiner Gegenstand.
Ich trete näher.
Ein Schlüssel.
Schwer, aus dunklem Metall, fast schwarz. Der Griff geformt wie das Symbol meines Amuletts.
Ich strecke die Hand aus.
Kaum berühre ich ihn, höre ich Stimmen.
Flüsternd, durcheinander, rauschend wie Wind in Bäumen.
Bruchstücke:
„…Elina…“
„…finde mich…“
„…vergiss nicht…“
Der Schlüssel liegt warm in meiner Hand. Pulsierend.
Mein Amulett glüht schwach.
Ich presse die Lippen zusammen, stecke den Schlüssel ein.
Der Raum beginnt zu beben. Risse ziehen sich durch den Boden, Licht schießt hindurch wie scharfe Klingen.
Ich stolpere zurück.
Eine neue Tür erscheint.
Groß, aus schwarzem Holz, eingerahmt von Mauern, die ich nicht sehen kann, weil sie im Nichts verschwinden.
Keine Klinke. Nur das Schlüsselloch.
Mein Herz rast.
Ich weiß, ich soll da durch.
Ich weiß auch, dass dahinter nichts mehr so sein wird wie vorher.
Langsam, fast zögerlich, führe ich den Schlüssel zum Schloss.
Er passt perfekt.
Mit einem leisen Klicken dreht er sich.
Die Tür öffnet sich.
Ich trete hinein.
Das Haus ohne Türen
Ich betrete den Raum.
Es ist… still.
Nicht die gewöhnliche Stille, die nach Ruhe klingt. Sondern eine, die dröhnt, die einen fast taub macht.
Die Luft steht. Schwer, dick, als würde sie mich am Weitergehen hindern wollen.
Das Haus ist da.
Plötzlich.
Ein grauer, kantiger Bau mitten im Nichts. Kein Himmel, kein Boden, nur dieses Haus, das einfach ist.
Fenster blind und verhangen. Keine Türen. Keine Eingänge.
Ich gehe langsam darauf zu.
Meine Schritte hallen. Jeder Schritt ein Schlag in der Leere.
Als ich die Fassade berühre, spüre ich es sofort.
Pulsierend. Lebendig.
Das Haus atmet.
Oder ich bilde mir das ein.
„Was soll das?“ flüstere ich ins Nichts.
Keine Antwort.
Ich laufe um das Haus. Einmal. Zweimal.
Nichts.
Keine Tür.
Aber ich weiß, ich muss hinein.
Mein Amulett beginnt zu glühen.
Ich drücke es gegen die Wand.
Ein Zittern. Dann ein Riss, schmal, kaum sichtbar.
Der Riss weitet sich.
Licht bricht hindurch, grell und unwirklich.
Ich trete hindurch.
Innen: Chaos.
Zerbrochene Möbel, zerschlissene Vorhänge, Bilderrahmen mit verblassten Fotos, deren Gesichter ausgelöscht sind.
Ein Radio in der Ecke flüstert unverständliche Worte, immer wieder dieselbe tonlose Stimme.
An der Wand: Schatten.
Formen, die nicht da sein dürften.
Bewegungen ohne Ursprung.
Ich bleibe stehen. Starre.
Plötzlich steht sie da.
Eine Frau.
Verschwommen, als bestünde sie aus Nebel.
Ihr Umriss vertraut.
Ich weiß, wer es ist.
Meine Mutter.
Bevor ich etwas sagen kann, verblasst sie.
Zurück bleibt nur die flüsternde Stimme des Radios:
„Suche weiter… unter dem See…“
Mein Herz schlägt wie wild.
Ich presse die Hände zu Fäusten.
Unter dem See.
Ich drehe mich um.
Der Riss hat sich wieder geschlossen.
Keine Tür. Kein Ausgang.
Nur das Echo meiner eigenen Schritte, das mich wieder hinausführt, dorthin, wo das nächste Rätsel wartet.
Die stummen Kapitäne
Ich stehe draußen.
Der Raum um mich ist jetzt Nebel. Dicht, schwer, salzig.
Der Geruch trifft mich wie eine Welle: Algen, Salz, nasses Holz.
Ich höre Wasser. Nicht weit entfernt.
Langsam löst sich der Nebel.
Vor mir: ein alter Steg, morsch, knarrend bei jedem Windstoß.
Das Wasser darunter schwarz wie Öl, unbeweglich und doch lebendig.
Ich gehe. Schritt für Schritt.
Jeder Schritt ein Risiko. Der Steg wirkt, als würde er jeden Moment nachgeben.
Dann sehe ich sie.
Gestalten.
Am Ende des Stegs.
Unwirklich.
Groß, in lange, tropfnasse Mäntel gehüllt.
Die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen.
Ihre Hände klammern sich um verrottete Steuerräder, als würden sie Schiffe lenken, die nicht mehr existieren.
Sie bewegen sich nicht.
Doch als ich näher komme, höre ich es.
Das Geräusch brechender Wellen.
Obwohl das Wasser unter mir völlig still ist.
Ich bleibe stehen.
Kann mich nicht rühren.
Einer der Kapitäne hebt langsam den Kopf.
Sein Gesicht… nein, da ist keins.
Nur Schatten, Leere.
Sein Blick trifft mich trotzdem.
Eisig. Zeitlos.
Für einen Moment habe ich das Gefühl, die Zeit friert ein. Mein Atem stockt.
Er hebt die Hand.
Weist hinaus auf den See.
Ein winziges Licht flackert dort, weit draußen, kaum zu erkennen.
„Unter dem See…“
Die Stimme ist kein Klang.
Sie ist in meinem Kopf, schwer und kalt wie ein Felsen.
Ich nicke.
Der Kapitän senkt langsam den Arm.
Die anderen drehen sich gleichzeitig um, wie von einem unsichtbaren Befehl geleitet.
Schreiten lautlos davon.
Ich bleibe zurück, allein mit der Gewissheit:
Das Licht ruft.
Dort muss ich hin.
Die Tür unter dem See
Ich stehe am Ufer.
Der See liegt da, unbewegt, eine schwarze Fläche, die kein Licht zurückwirft.
Selbst der Mond, der irgendwo über mir hängt, schafft es nicht, eine Reflexion zu zaubern.
Nur dieses schwache, pulsierende Licht, das weit draußen unter der Wasseroberfläche glimmt.
Mein Herz hämmert.
Ich weiß, ich muss.
Mein Amulett ist heiß geworden, als würde es drängen, mich schieben.
Ich ziehe Schuhe und Jacke aus, trete ins Wasser.
Eisig.
So kalt, dass mir sofort die Luft wegbleibt.
Ich gehe weiter, Schritt für Schritt, bis das Wasser mich ganz umschließt.
Stille.
Nur mein eigener Atem, das Schlagen meines Herzens.
Ich tauche.
Das Licht kommt näher.
Ich bewege mich langsam, meine Glieder taub, der Druck auf den Ohren unerträglich.
Dann sehe ich sie:
Die Tür.
Groß, metallisch, umwuchert von Algen und Seetang, eingerahmt von schwarzem Stein.
Ein Schlüsselloch.
Das gleiche Symbol wie auf meinem Amulett.
Ich hole zitternd den Schlüssel hervor, den ich die ganze Zeit umklammert habe.
Setze ihn an.
Er passt.
Dreht sich lautlos.
Die Tür öffnet sich nach innen.
Kein Wasser strömt hinein.
Dahinter: absolute Schwärze.
Ich zögere.
Blicke zurück.
Oben sehe ich nur die verzerrte Oberfläche des Sees, das fahle Licht des Mondes.
Tief einatmen.
Dann trete ich hindurch.
Jenseits der Tür
Ich falle nicht.
Ich stehe einfach da.
Boden unter meinen Füßen, weich wie Moos, warm und trocken, obwohl ich eben noch im Wasser war.
Langsam gewöhnt sich meine Sicht an das Dämmerlicht.
Überall schwebt Staub, als wären es Sterne in einer endlosen, dunklen Höhle.
Vor mir: ein schmaler Pfad, gesäumt von leuchtenden Linien, die sich wie Adern durch das Dunkel ziehen.
Ich folge ihm.
Jeder Schritt hallt dumpf.
Der Weg scheint kein Ende zu haben.
Dann: eine Silhouette.
Zart, wie aus Licht und Nebel geformt.
Ich bleibe stehen.
Mein Herz bleibt auch stehen.
Es ist sie.
Meine Mutter.
Oder das, was von ihr übrig ist.
Ihr Gesicht ist verschwommen, wechselt ständig zwischen jung und alt, klar und konturenlos.
Ich mache einen Schritt auf sie zu.
„Mama…“
Sie hebt die Hand.
Ihr Blick trifft mich, brennt sich in mich hinein.
So traurig. So müde.
„Elina“, flüstert sie.
Ihre Stimme ist schwach, fast ein Hauch.
„Du darfst nicht bleiben.“
Ich schüttele den Kopf. Tränen laufen mir übers Gesicht, obwohl ich es kaum bemerke.
„Ich habe dich gesucht… ich lasse dich nicht hier.“
Sie schüttelt sanft den Kopf.
„Ich gehöre hierher. Zwischen den Erinnerungen. Zwischen den Zeiten.“
Ich will sie berühren.
Meine Hand fährt durch sie hindurch wie durch Rauch.
„Was soll ich tun?“ frage ich verzweifelt.
„Lass los. Du musst zurück.“
Der Weg hinter mir beginnt zu leuchten.
Der Druck in meinem Brustkorb wird stärker.
Alles zieht an mir.
„Ich liebe dich“, flüstere ich.
„Ich weiß.“
Ihre Gestalt beginnt zu verblassen.
Ich will schreien, mich wehren, doch ich kann nicht mehr stehen.
Das Licht verschlingt mich.
Alles wird weiß.
Entscheidung
Ich erwache mit einem Ruck.
Kalter Boden unter mir.
Der Geruch von nassem Stein und Moos ist wieder da.
Ich liege im Kreis der Mauern.
Alles wie am Anfang.
Und doch… alles anders.
Mein Amulett ist weg.
Der Schlüssel ist weg.
Nur ich bin noch da.
Ich stehe langsam auf, wanke, mein Kopf dröhnt.
Vor mir: zwei Wege.
Der eine zurück zur Stadt, vertraut, leer, gleichgültig.
Der andere: ein schmaler, dunkler Pfad, der sich zwischen Mauern verliert, ein letztes Flüstern in der Luft.
Ich spüre sie.
Ihre Anwesenheit.
Nicht mehr als Körper, nicht mehr als Stimme.
Nur als warme Erinnerung, tief in mir verankert.
Ich atme schwer.
Der Drang, ihr zu folgen, ist da. Stark.
Doch ich weiß: Das wäre mein Ende.
Ich würde verschwinden wie sie.
Ich balle die Hände zu Fäusten.
Schaue noch einmal in den dunklen Pfad.
Dann drehe ich mich um.
Zurück.
In das Leben.
Unvollständig, verletzt, aber da.
Jeder Schritt fühlt sich falsch und richtig zugleich an.
Der Wind zerrt an meinen Haaren.
Ich höre ein letztes Flüstern, kaum mehr als ein Hauch:
„Danke.“
Ich lächle.
Traurig.
Zerbrechlich.
Aber echt.
Ich gehe.
Der Morgen wartet.
Am Morgen
Ich stehe wieder an der Mauer.
Der Himmel ist grau, milchig.
Vögel kreisen über den zerfallenen Dächern, die Stadt atmet schwer.
Autos in der Ferne. Stimmen. Leben.
Ich streiche mit den Fingerspitzen über das rissige Gestein.
Kalt. Still.
Kein Flüstern mehr.
Keine Schatten.
Nur Stein.
Mein Blick wandert zum Boden.
Da, wo sonst mein Amulett gegen die Brust schlug, ist nichts mehr.
Ich fühle mich nackt.
Aber auch… leichter.
Die Stadt liegt da, breit und ruppig wie immer.
Der Lärm, der Geruch nach nassem Asphalt, der Rauch aus den Schornsteinen.
Ich blinzele in das fahle Licht.
Ein letzter Gedanke:
Habe ich sie wirklich gefunden?
Oder war alles nur ein Spiel aus Erinnerungen, Hoffnung, Angst?
Ich weiß es nicht.
Vielleicht ist es egal.
Vielleicht reicht es, dass ich weitergehe.
Ich atme tief ein.
Der erste echte Atemzug seit langer Zeit.
Fülle meine Lungen mit der schweren, schmutzigen, lebendigen Luft der Stadt.
Meine Schritte hallen auf dem Pflaster, als ich mich von der Mauer abwende.
Kein Zurückblicken.
Der Tag gehört mir.
Ich bin Elina.
Und ich gehe.