Kein Zurück

Ich liege flach auf dem kalten Beton, mein Atem flach, stoßweise. Über mir kreischt irgendwo Metall im Wind. Vielleicht ein loses Schild, vielleicht eine Antenne, die schon längst keinen Empfang mehr hat.
Der Suchscheinwerfer zieht seine brutale Lichtbahn über die Ruinen der Straße. Ich presse mich noch tiefer in den Staub, schmecke den rostigen Nachgeschmack des Schutts.
Ein knisterndes Funkgeräusch. Stimmen. Näher als ich gehofft hatte.

„Sektor sieben. Wir haben Bewegung. Möglicher Zonenflüchtling.“

Scheiße.

Ich zähle leise bis fünf. Stehe auf. Laufe. Nicht schnell, nicht laut. Langsam genug, um nicht aufzufallen. Schnell genug, um wegzukommen.
Meine Schuhe sind durch. Das Profil weg, die Sohlen dünner als Papier. Jeder Schritt auf dem rissigen Asphalt sticht wie Nadeln durch meine Füße.

Die Straße war mal eine Hauptverkehrsader. Jetzt ein zerbrochener Rücken aus Beton und Asche. Alte Plakate flattern kraftlos im Wind: „Bleiben Sie in Ihrer Zone! Nur Sicherheit bringt Freiheit.“
Lüge. Alles Lüge.

Ich schleiche an einem ausgebrannten Bus vorbei. Die Scheiben wie tote Augen. Innen schwarze Ruß Schatten, die mal Menschen waren. Ich darf nicht stehen bleiben. Nicht nachdenken.
Mein Ziel: der alte Bahnhof am Rand des Sektors. Niemand geht da mehr hin. Zu gefährlich, zu vergiftet, zu vergessen. Genau richtig für mich.

Der Wind reißt an meiner Jacke. Ich ziehe sie fester um mich. Der Reißverschluss klemmt seit Tagen. Macht nichts.
Mein Amulett – das kleine schwarze Viereck – hängt schwer an meinem Hals. Irgendein Relikt von früher. Ich weiß nicht mal mehr, warum ich es trage.
Aber ich trage es.

Plötzlich: Hundegebell. Laut, aggressiv, nah. Ich reiße mich los und renne los, über Glassplitter, durch Pfützen mit öliger Haut, unter zerborstenen Laternen hindurch.
Mein Herz hämmert. Nicht umdrehen. Niemals umdrehen.

Der Bahnhof taucht auf. Dunkel, gespenstisch. Das Dach halb eingestürzt, rostige Schienen wie Knochen unter dem bleichen Mond.
Ich schlüpfe durch ein Loch im Zaun, ducke mich, krieche, laufe. Endlich drinnen.

Stille.

Ich lehne mich an eine Wand, lasse mich langsam zu Boden sinken. Hände zittern. Ich beiße mir auf die Lippe, um den Schmerz auszuhalten.
Der erste sichere Atemzug seit Stunden.

„Du hast es geschafft, Noura“, flüstere ich ins Dunkel.

Ich weiß: Es war erst der Anfang.

Der alte Bahnhof

Der Geruch trifft mich sofort. Eine Mischung aus Moder, altem Öl, feuchtem Beton. Ich ziehe die Nase kraus, gehe trotzdem weiter.
Was bleibt mir auch anderes übrig?

Der Bahnhof wirkt wie ein ausgehöhltes Skelett. Riesige Hallen mit zerborstenen Fenstern, durch die der Wind pfeift. Graffiti an den Wänden, Worte, die niemand mehr liest.
„NO FUTURE“, „RUN“, „ZONE = TOD“.
Sie sagen die Wahrheit.

Ich taste mich durch das Halbdunkel. Überall Trümmer, Metallstücke, abgerissene Kabel.
Meine Finger gleiten über kalte Backsteinwände. Ich halte mich daran fest, als könnten sie mich irgendwohin führen.

In einer Ecke finde ich eine alte Bank. Zerfressen vom Zahn der Zeit, aber stabil genug. Ich lasse mich fallen.
Meine Beine brennen, meine Lunge brennt.

Langsam hole ich den kleinen Stoffbeutel aus meiner Jackentasche. Inventur: zwei Stücke hartes Brot, ein rostiger Dosenöffner, ein angeknackstes Feuerzeug, mein Amulett.
Mehr habe ich nicht.

Ich höre Schritte.
Leicht. Vorsichtig. Jemand ist hier.

Mein Herzschlag setzt kurz aus. Ich greife instinktiv nach einem rostigen Rohr, das neben mir liegt.
Die Schritte kommen näher.
Ich halte die Luft an.

Dann erscheint er.
Schmal, hager, Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Hände offen erhoben.
„Ruhig“, sagt er leise. „Ich tu dir nichts.“

Ich entspanne mich nicht. Nicht sofort. Nicht hier, nicht in der Zone.

„Was willst du?“ Meine Stimme klingt rau, fast fremd.

„Schutz. Für eine Nacht. Mehr nicht.“
Er bleibt stehen, gute zwei Meter Abstand. Respekt. Vielleicht auch Angst.

Ich nicke knapp.
„Dann bleib auf deiner Seite.“

Er setzt sich. Keine weiteren Worte. Nur das Heulen des Windes füllt den Raum.
Für einen Moment sind wir einfach zwei verlorene Figuren in einem kaputten Bild.

Ich starre auf die Schienen, die ins Nichts führen.
Morgen gehe ich weiter.
Muss ich.

Vielleicht redet er morgen. Vielleicht auch nicht.
Mir egal.
Ich schlafe mit einer Hand am Rohr. Man weiß ja nie.

Die Karte der Abwege

Ich wache auf, als das Licht des frühen Morgens durch die zerbrochenen Fenster fällt.
Ein fahles, kaltes Licht, das alles noch toter wirken lässt.

Der Fremde sitzt immer noch da. Fast wie eine Statue. Nur der leichte Dampf seines Atems verrät, dass er lebt.
Ich richte mich auf, spüre jeden Knochen.

„Wie heißt du?“ frage ich, eher aus Pflichtgefühl.

Er zögert.
„Mika.“

Mehr sagt er nicht.
Ich auch nicht.

Ich ziehe mein Amulett aus der Jacke, drehe es zwischen den Fingern.
Schwarzes, glattes Plastik. Keine Inschrift, kein Zeichen. Nur ich weiß, was es bedeutet: Erinnerung an jemanden, den es nicht mehr gibt.
Oder nie gegeben hat.

Mika beobachtet mich, dann greift er in seine Jacke und holt etwas hervor.
Ein zusammengefaltetes Stück Papier. Zerfetzt, fleckig, kaum noch lesbar.

„Karte“, sagt er leise. „Alte Wege raus aus der Zone. Vielleicht.“

Ich nehme sie vorsichtig.
Straßen, Brücken, Bahngleise, Wasserläufe. Alles überzeichnet, verwischt, ergänzt mit handschriftlichen Notizen.
Ein roter Punkt ganz am Rand.
Darunter: Haven?

Mein Herz macht einen Satz.
„Haven gibt’s nicht“, sage ich rau.
So erzählt man sich das. Haven ist ein Mythos. Hoffnung für Idioten.

Mika zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht.“
Er tippt auf den Punkt.
„Besser als hier.“

Ich weiß, er hat recht.
Hier wartet nur Tod, Hunger, Ratten, Plünderer, die Schattenhüter.

Ich falte die Karte zusammen, stecke sie in meine Jacke.
„Wann brechen wir auf?“ frage ich.

„Sobald du laufen kannst.“

Ich nicke.
Der Gedanke an das, was vor uns liegt, schnürt mir die Kehle zu.

Aber ich stehe auf.
Ich gehe weiter.
Weil ich muss.

Begegnung mit Mika

Wir verlassen den Bahnhof im ersten Grau des Morgens.
Der Wind ist schneidend. Er pfeift durch die Gerippe der Gebäude, als wolle er uns warnen.

Mika läuft vorneweg. Schnelle, lange Schritte. Ich muss mich anstrengen, um mitzuhalten.
Seine Silhouette wirkt mager, kantig, als hätte die Zone ihn ausgesaugt. Vielleicht hat sie das.
Mich auch.

Wir reden nicht. Nur unsere Schritte hallen auf dem rissigen Asphalt.
Verlassene Wohnblocks, Autos, die wie Skelette am Straßenrand liegen, verrostete Reklametafeln.
Bleiben Sie stark – gemeinsam schaffen wir es!
Der Slogan eines Systems, das schon lange zusammengebrochen ist.

Plötzlich bleibt Mika stehen, hebt die Hand.
Ich friere ein.

Vorne, kaum zwanzig Meter entfernt, ein Plünderer.
Breite Statur, Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Taschen.
Wahrscheinlich bewaffnet.

Mika flüstert:
„Zurück? Oder durch?“

Ich blicke mich um. Zurück gibt es nicht.
„Durch.“

Langsam, Schritt für Schritt, gehen wir weiter.
Der Plünderer mustert uns, sagt nichts. Ich spüre seinen Blick wie einen kalten Nagel in meinem Rücken.
Mika hält meinen Arm, als ich fast zu schnell laufe.
Sein Griff ist fest, knochig.
„Ruhig“, murmelt er.

Wir passieren ihn.
Nichts passiert.
Noch nicht.

Erst als wir außer Sicht sind, lasse ich den Atem entweichen.
Mein Puls hämmert wie wild.

„Scheiße“, flüstere ich.
Mika nickt nur.
„Gewöhn dich dran.“

Am Abend finden wir Unterschlupf in einer zerfallenen Tankstelle.
Der Geruch von altem Benzin liegt noch immer schwer in der Luft.

Ich setze mich auf den Boden, Rücken an die Wand.
Mika holt aus seinem Beutel einen zerkratzten Wasserkanister, reicht ihn mir.
Ich nehme einen Schluck.
Lau, metallisch, aber Wasser.

„Warum machst du das?“ frage ich.
„Was?“
„Mit mir gehen. Du kennst mich nicht.“

Er schaut mich lange an.
„Weil ich nicht allein sein will. Nicht mehr.“

Ich sage nichts.
Verstehe ihn zu gut.

Die Entscheidung

Der Morgen ist grau. Wieder.
Wolken wie zerknülltes Blei drücken auf uns herab, als wollten sie uns daran hindern, weiterzugehen.

Wir stehen am Rand des Sektors.
Hinter uns die ausgebrannte Stadt, vor uns das offene Niemandsland.

Die Zone.

Keiner weiß genau, was dort lauert. Minenfelder, vergessene Giftdepots, Banden, die jagen, weil sie sonst nichts mehr haben.
Oder nur Stille. Endlose, zermürbende Leere.

Ich trete einen Schritt näher an den Grenzzaun.
Meterhoch, rostig, verbogen. Dahinter: nur Dunst und die dunklen Umrisse zerfallener Industrieanlagen.

Mika wirft mir einen Blick zu.
„Es gibt keinen Weg zurück, weißt du das?“

Ich nicke.
„Weiß ich.“

Er zieht die Karte hervor, zeigt auf eine schwache Linie, die sich durch das Sperrgebiet schlängelt.
„Vielleicht gibt es einen alten Wartungsweg. Vielleicht auch nicht.“

Ich taste nach meinem Amulett unter der Jacke. Der kalte, glatte Kunststoff beruhigt mich seltsam.
„Was ist, wenn es Haven gar nicht gibt?“ frage ich.

Mika zuckt mit den Schultern.
„Was bleibt dir? Hierbleiben? Warten, bis dich die Schattenhüter holen oder du in einem Plündererlager endest?“

Ich antworte nicht sofort.
Die Antwort kenne ich. Schon lange.

Ich nehme meinen Rucksack, werfe ihn mir über die Schulter.
„Wir gehen.“

Mika nickt.
„Wir gehen.“

Vorsichtig drücken wir einen alten Zaunabschnitt zur Seite.
Der Draht kratzt an meiner Jacke, reißt einen Faden heraus.
Egal.

Mit einem letzten Blick zurück betrete ich die Zone.
Das Gras dort draußen steht hoch, vertrocknet, gelb.
Kein Weg, keine Markierungen.
Nur wir und der Horizont.

Der Wind wird stärker.
Er trägt den Geruch von Rost, verbranntem Plastik und nasser Erde.

Ich ziehe meine Kapuze tiefer ins Gesicht.
Einen Schritt.
Noch einen.
Und noch einen.

Das ist der Beginn.
Kein Zurück mehr.
Nie wieder.

Verlassene Vorstädte

Der Asphalt endet schneller als gedacht.
Danach nur noch Schlamm, Geröll, zerschlissene Wiesen, dazwischen das rostige Skelett eines alten Einkaufswagens.

Wir gehen seit Stunden.
Kein Laut, außer dem Schmatzen unserer Schritte und dem fernen Kreischen von Krähen.

Die ersten Häuser tauchen auf wie Geister.
Reihenhaussiedlungen, die der Wind längst zu Grabe getragen hat.
Zersplitterte Fensterscheiben, Dächer, die wie zerschlagene Schachteln zusammengefallen sind.
Spielplätze, auf denen die Schaukeln noch leise im Wind quietschen.
Irgendwo klappert ein loses Blechschild gegen eine Wand.
„Willkommen im Grünen Winkel – Leben, wo andere Urlaub machen!“
Ironie des Verfalls.

Wir bleiben wachsam.
Ich halte das Rohr fester, das ich immer noch als Waffe bei mir trage.

Plötzlich bleibt Mika stehen.
Ich spüre es auch.

Bewegung.

Zwei Gestalten, schnell, lautlos zwischen den Häusern.
Verschwunden, bevor wir reagieren können.

„Beobachter“, murmelt Mika.
Ich nicke.
„Oder Plünderer.“

Wir entscheiden uns, in einem halb eingestürzten Bungalow Unterschlupf zu suchen.
Innen ist alles wie eingefroren.
Zeitungen von vor Jahren, „Sonderausgabe: Der große Exodus – Tausende verlassen die Städte!“
Ein Foto liegt auf dem Boden: eine Familie beim Grillen, lachend, sonnenverbrannt, sorglos.
Ich lege es wortlos auf die Anrichte zurück.

Wir essen stumm unsere Rationen.
Zwei Bissen trockenes Brot, ein Schluck abgestandenes Wasser.

Am Abend sitze ich am Fenster und starre hinaus in die Dunkelheit.
Irgendwo in der Ferne leuchtet kurz ein schwaches Licht auf.
Nicht natürlich.
Nicht gut.

Mika tritt neben mich.
„Wir brechen bei Morgengrauen auf“, sagt er.
„Bevor sie kommen.“

Ich nicke.
Der Gedanke, wer sie sind, reicht, um mir den Schlaf zu rauben.
Ich bleibe lange wach.
Der Wind draußen klingt fast wie Stimmen.

Der Strom der Flüchtlinge

Der Morgen ist nass, grau, stumpf.
Ein feiner Nieselregen legt sich wie ein Schleier auf alles.
Der Himmel hängt so tief, dass ich das Gefühl habe, er drückt mir das Gewicht der ganzen Welt auf die Schultern.

Wir gehen schweigend weiter.
Jeder Schritt auf matschigem Boden saugt Kraft.
Jede Bewegung fühlt sich an wie ein stummer Kampf gegen das Aufgeben.

Dann hören wir sie.
Zuerst nur ein entferntes Murmeln, dumpf, wie das Grollen eines weit entfernten Gewitters.
Doch es sind Stimmen.
Viele Stimmen.

Als wir den Hügelkamm erreichen, sehen wir sie: eine endlose Schlange von Menschen.
Kinder, Alte, Frauen, Männer, Gestalten, die aussehen wie Schatten ihrer selbst.
Zerrissene Kleidung, Plastiktüten, improvisierte Karren aus Einkaufswagen und alten Fahrrädern.
Augen, leer und wach zugleich.

Sie ziehen in Richtung Westen.
Weg von den Sektoren.
Weg von den Schattenhütern.
Weg von dem, was sie einmal Heimat nannten.

„Der Strom“, sagt Mika leise.
Ich nicke.
Ich habe davon gehört. Flüchtlingszüge, die durch das Niemandsland ziehen, immer in der Hoffnung, irgendwo noch ein Stück Erde zu finden, wo sie bleiben können.

Wir schließen uns an.
Wortlos.
Niemand fragt, niemand redet.
Jeder weiß, warum man hier ist.

Ich gehe neben einer Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm.
Der Junge ist schmal, hat eingefallene Wangen, große Augen.
Sein Blick haftet an mir, neugierig, aber ohne Lächeln.
So sehen Kinder aus, die nie Kindheit hatten.

Stunden ziehen sich endlos.
Nur das gleichmäßige Stapfen, das Quietschen von Rädern, das leise Stöhnen der Müden.

Plötzlich hält die Kolonne.
Vorne: ein improvisiertes Schild.
„Grenzlinie Zone. Betreten auf eigene Gefahr.“

Die Menschen stehen still.
Blicke treffen sich.
Fragen.
Zweifel.
Angst.

Mika sieht mich an.
„Jetzt wird sich entscheiden, wer weitergeht.“

Ich antworte nicht.
Ich weiß: Wir gehen.
Egal, was kommt.

Die Grenzlinie

Es ist still geworden.
Der Wind hat nachgelassen. Selbst die Krähen schweigen.

Wir stehen vor dem Zaun.
Drei Meter hoch, mit Stacheldraht bekrönt. Rost frisst sich durch das Metall.
An vielen Stellen ist er eingerissen, niedergetreten, notdürftig geflickt.
Ein Mahnmal dafür, wie oft Menschen versucht haben, hindurchzukommen.
Wie viele es nicht geschafft haben.

Das Schild daneben ist verwittert:
„Betreten strengstens verboten. Zone: kontaminiert und unbewohnt.“
Lüge oder Wahrheit?
Oder beides?

Die Schlange der Menschen stockt.
Keiner will der Erste sein.
Flüstern.
Angst.
Eine Frau weint leise, der Klang fast zu dünn, um ihn wirklich zu hören.

Mika tritt vor.
Zieht das Messer aus seinem Gürtel, schneidet vorsichtig ein Loch in den Draht.
Er arbeitet schnell, ohne zu zögern.
Ich sehe seine Hände zittern.

„Rein oder zurück?“ fragt er, ohne mich anzusehen.

Ich blicke über den Zaun.
Hinter dem Draht liegt nur Dunst.
Nebel über weiten, toten Feldern.
Nichts, das ein Ziel verspricht.
Nichts, das noch Heimat sein könnte.

Ich ziehe meinen Rucksack fester.
„Rein.“

Er nickt.
Wir kriechen durch das Loch.

Der Boden ist schlammig, übersät mit Trümmern, alten Kleidungsfetzen, Plastikresten.
Der Himmel drückt grau und schwer auf uns herab.

Hinter uns beginnen auch andere, sich durch den Zaun zu zwängen.
Zögernd.
Widerstrebend.
Aber mit demselben Wissen wie wir: Zurück gibt es nicht.

Wir gehen weiter.
Jeder Schritt in die Zone klingt lauter als er sollte.
Als würde das Land selbst jeden Eindringling zählen.

Ich taste nach meinem Amulett.
Es ist kalt, schwer, vertraut.
„Nicht stehen bleiben“, flüstere ich.
Nicht umdrehen.

Mika läuft schweigend neben mir.
Vor uns liegt die endlose Leere.

Und irgendwo dort, weit jenseits von Angst und Zweifel, vielleicht Haven.

Die dunklen Felder

Der Boden wird weicher, matschiger, je weiter wir gehen.
Jeder Schritt saugt uns tiefer hinein, als wolle das Land uns verschlingen.

Wir nennen es „Felder“, aber es ist nichts als verbrannte Erde.
Schwarzer Schlamm, tote Baumstümpfe, vergessene Ackergeräte, die wie rostige Skelette aus dem Boden ragen.

Kein Vogel, kein Insekt, kein Laut außer dem Klatschen unserer Schritte und unserem schweren Atem.

Ich schiebe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht.
Der Regen hat wieder eingesetzt.
Feiner Niesel, der alles durchdringt.
Kalt.
Unaufhaltsam.

Mika geht schweigend voran, die Karte immer wieder prüfend.
Doch es gibt keinen Weg.
Kein Pfad, keine Spur, kein Anhaltspunkt.

Nur Leere.

Plötzlich sinke ich ein.
Der Schlamm reicht mir fast bis zum Knie.
Ich fluche, ziehe mich mit Mühe wieder frei.

Mika hilft mir, ohne ein Wort zu sagen.
Sein Blick sagt alles:
Wir verschwenden Kraft, wir kommen kaum voran, wir verlieren Zeit.

Ich beiße die Zähne zusammen.
„Weiter.“

Der Tag zieht sich wie ein endloser, grauer Alptraum.
Das Wasser in unserer Flasche wird knapp.
Das Brot ist aufgeweicht, ungenießbar.

Am Abend finden wir einen halb zerfallenen Wasserturm.
Wir klettern hinein, kauern uns aneinander, um die Kälte zu ertragen.

Ich höre Mika leise flüstern:
„Was, wenn wir die Richtung verloren haben?“

Ich antworte nicht.
Ich habe Angst, die Wahrheit zu sagen.
Dass ich es auch nicht weiß.

Stattdessen halte ich mein Amulett umklammert.
Ein stummer Talisman gegen die Verzweiflung.

Ich schließe die Augen, versuche den Hunger und die Kälte wegzuatmen.
Nur noch ein Schritt.
Immer nur ein Schritt weiter.
Mehr bleibt uns nicht.

Das Lager

Wir erreichen das Lager bei Tagesgrauen.
Der Nebel liegt schwer über der Senke, in der sich Zelte, Planen, Blechhütten und notdürftige Barrikaden zusammendrängen.
Rauch steigt auf. Der beißende Geruch von verbranntem Plastik und altem Fett liegt in der Luft.

Am Rand des Lagers stehen zwei Wachposten, Gesichter hinter Tüchern verborgen, rostige Gewehre in den Händen.
Ihre Blicke sind leer, hart, abschätzend.
Sie lassen uns passieren.
Wahrscheinlich wissen sie, dass wir nichts haben, was sich zu stehlen lohnt.

Drinnen herrscht Chaos.
Kinder sitzen in Lumpen am Boden, die Augen glasig.
Alte Männer mit eingefallenen Wangen starren in leere Feuerstellen.
Frauen wühlen in Haufen von Müll, immer auf der Suche nach irgendetwas Brauchbarem.

Ich spüre sofort: Hier ist keine Hoffnung, nur Warten.
Warten aufs Weitergehen oder aufs Ende.

Mika und ich drängen uns zwischen den Hütten hindurch.
Flüstern begleitet uns.
Blicke kleben an uns.
Fremde sind verdächtig.
Fremde bringen Ärger.

Wir finden eine Ecke neben einer Betonmauer.
Genug, um den Rücken zu schützen.

„Einen Tag bleiben“, sagt Mika leise.
Ich nicke.
„Nur einen.“

Wir teilen unser letztes Wasser.
Ich beiße in ein hartes Stück Brot, das mehr Staub als Nahrung ist.

Ein Junge kommt näher.
Zehn, vielleicht elf Jahre alt.
Verdrecktes Gesicht, zu dünn, Augen wie schwarze Löcher.

„Haven?“ haucht er kaum hörbar.
Ich zucke zusammen.
„Was?“

„Sagen, ihr sucht Haven.“
Er zeigt nach Westen.
„Niemand kommt zurück.“

Ich schaue zu Mika.
Sein Blick ist dunkel.
Wir wissen, was das heißt.
Wir wussten es schon vorher.

Aber hören es von einem Kind, das alles verloren hat, ist ein Stich ins Herz.

In dieser Nacht schlafe ich kaum.
Rufe, Husten, Streit, das Klirren von Metall reißen mich immer wieder aus dem Dämmerzustand.

Als das erste Licht den Himmel grau färbt, flüstere ich Mika zu:
„Wir gehen.“

Er nickt nur.
Wir stehen auf.
Kein Blick zurück.

Der Marsch durch die Industriezone

Wir lassen das Lager hinter uns.
Die Geräusche, der Gestank, die Blicke – alles bleibt zurück.
Vor uns nur Leere.

Die Landschaft wird noch trostloser.
Hohe Silos ragen wie Grabsteine in den grauen Himmel.
Fabrikhallen, deren Dächer eingestürzt sind, rostige Rohre, die wie zerbrochene Rippen aus dem Boden stehen.

Der Wind weht Staub und Asche vor uns her.
Jeder Atemzug kratzt im Hals.
Ich binde mir ein Tuch vors Gesicht.

Wir gehen stundenlang.
Reden nicht.
Reden kostet Kraft, die wir nicht haben.

Plötzlich: ein leises, aber klares Klicken.
Mika schreit.
Ich drehe mich um.

Er liegt am Boden, hält sich das Bein.
Blut.
Viel zu viel.

Ich knie mich neben ihn.
Er beißt die Zähne zusammen, als ich vorsichtig den Stoff zerreiße.
Ein tiefes, hässliches Loch im Oberschenkel.

„Mine“, zischt er.
Verdammt.
Ich drücke mein Hemd zusammen, presse es fest auf die Wunde.
Mika stöhnt auf.

„Du kannst nicht alleine…“
„Spar dir den Atem“, unterbreche ich ihn.
„Ich krieg dich hier raus.“

Ich ziehe ihn unter den Arm, schleppe ihn weiter.
Jeder Meter ist ein Kampf.
Der Weg ist endlos.
Die Sonne brennt schwach, als würde auch sie aufgeben.

Endlich finden wir eine halb eingestürzte Lagerhalle.
Innen riecht es nach Rost und altem Öl.
Ich ziehe Mika hinein, bette ihn auf eine Plane.

Er ist bleich.
Sein Puls schwach.

Ich nehme mein Messer, schneide den Stoff weiter auf, versuche, die Blutung zu stillen.
Improvisierte Verbände aus meinem T-Shirt.
Hilflosigkeit frisst an mir.

Mika flüstert:
„Geh weiter… lass mich.“

Ich schüttle den Kopf.
„Halt die Klappe.“

Ich lege ihm das Amulett in die Hand.
Er schließt schwach die Finger darum.

Dann sitze ich da.
Der Atem schwer.
Der Tag stirbt langsam.

Ich weiß nicht, wie es weitergeht.
Aber ich weiß, ich werde nicht aufgeben.
Nicht jetzt.

Die Grenze zur Zone

Der Morgen kommt leise.
Ein dünner, blasser Streifen Licht kriecht über den Boden der Halle.

Mika schläft. Oder ist bewusstlos.
Sein Gesicht ist wächsern, der Atem flach.
Ich hocke daneben, den Kopf gegen das kalte Metall gelehnt.
Zu müde zum Denken. Zu leer zum Fühlen.

Die Karte liegt vor mir, zerknittert, fleckig, fast unlesbar.
Der letzte Strich.
Der Rand der Zone.
Dahinter? Nichts als weiße Fläche.

Ich streiche mit dem Finger darüber.
Haven.
Immer noch nur ein Wort, ein Gerücht, ein Echo.

Mika stöhnt leise.
Ich wende mich ihm zu, streiche ihm vorsichtig das wirre Haar aus der Stirn.

„Du kannst nicht weiter.“
Es ist keine Frage.
Es ist Tatsache.

Ich packe vorsichtig meine wenigen Sachen zusammen.
Wasserflasche, Messer, Karte, Amulett.
Dann hocke ich mich neben ihn.

„Ich muss gehen.“
Meine Stimme bricht fast.
„Ich werde dich nicht vergessen.“

Er öffnet schwer die Augen.
Ein winziges Lächeln zuckt über sein Gesicht.
„Geh, Noura… du musst es versuchen.“

Ich nicke.
Lege seine Hand auf mein Amulett.
„Behalte es. Für Glück.“

Dann stehe ich auf.
Schwere Schritte, als würde mich etwas Unsichtbares zurückziehen wollen.

Ich verlasse die Halle.
Der Himmel ist grau, gesichtslos.
Vor mir: der breite Streifen verbrannter Erde, Ruinen, verkohlte Stämme, gesprungene Betonplatten.

Kein Zaun mehr.
Keine Warnschilder.
Nur Stille.

Ich setze einen Fuß vor den anderen.
Spüre das Zittern in meinen Knien, den Kloß im Hals.
Aber ich gehe.

Weil ich gehen muss.
Weil ich irgendwo in diesem endlosen Nichts noch ein Stück Hoffnung suche.

Der letzte Blick zurück: Mika, winzig, verloren, kaum mehr sichtbar im Dunst.
Ich drehe mich um.
Gehe weiter.

Das verlassene Dorf

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich gehe.
Der Horizont bleibt immer gleich fern.
Kein Weg, kein Ziel, nur Schritt um Schritt durch verbrannte Landschaft.

Dann, fast wie ein Trugbild, taucht es vor mir auf:
Das Dorf.

Zerfallene Dächer, eingestürzte Mauern, Straßen, die ins Nirgendwo führen.
Fenster ohne Scheiben, Türen, die im Wind schlagen.
Ein Ort, den die Zeit vergessen hat.

Ich gehe langsam hinein.
Jede Bewegung hallt unnatürlich laut.

Überall Spuren von Leben, das längst verschwunden ist:
Ein zerbrochenes Spielzeugauto.
Ein ausgebleichtes Foto an einer Wand.
Ein Schild: „Café Esperanza“.
Ironie.

Ich trete in das Café.
Der Tresen liegt schief, Stühle sind umgestürzt, auf dem Boden liegt eine dicke Schicht Staub.
Auf einem Tisch steht noch eine Tasse, als hätte jemand sie eben erst abgestellt.

Ich setze mich.
Schließe die Augen.
Atme den modrigen Geruch ein.

„Bist du auch auf dem Weg nach Haven?“

Ich schrecke hoch.
Vor mir steht eine alte Frau, dünn, runzlig, mit wachen, hellen Augen.
Ich habe sie nicht kommen hören.

„Ja“, sage ich.
Meine Stimme klingt fremd, rau.
„Du wirst es nicht finden“, sagt sie ruhig.
„Haven gibt es nicht. Nur Geschichten. Nur Hoffnung, die wir uns erzählen, um weiterzugehen.“

Ich schaue sie lange an.
„Und du?“

Sie lächelt müde.
„Ich bin geblieben. Jemand muss die Geschichten weitertragen.“

Ich stehe langsam auf.
Blicke noch einmal in den Raum.
Das Licht fällt durch ein Loch im Dach, tanzt auf dem staubigen Boden.

„Ich werde es trotzdem versuchen“, sage ich.

Sie nickt.
„Dann geh. Und wenn du es findest, erzähl mir davon.“

Ich verlasse das Dorf.
Kein Weg, keine Karte.
Nur ich und der offene, leere Horizont.

Ich gehe weiter.

Der letzte Aufbruch

Der Morgen ist kalt, trocken, klar.
Ein seltenes Geschenk in dieser vergessenen Welt.

Ich laufe stundenlang.
Vorbei an verkohlten Wäldern, an Geröllfeldern, an verlassenen Strommasten, die sich wie klagende Skelette gegen den Himmel recken.

Dann stehe ich davor.
Die Brücke.

Einst war sie eine Autobahn.
Jetzt ist sie ein Fragment.
Zerschlissene Fahrbahn, Stahlträger, die in absurden Winkeln in die Leere ragen.
Darunter: Nichts als nebelverhülltes Land, so weit das Auge reicht.

Die mittleren Abschnitte fehlen.
Nur noch ein schmaler Streifen ist begehbar, brüchig, voller Risse.
Jeder Schritt könnte der letzte sein.

Ich atme tief durch.
Der Wind zerrt an meiner Jacke, peitscht mir Haare ins Gesicht.
Ich ziehe die Kapuze tiefer, trete auf das bröckelnde Betonband.

Meine Schritte hallen gespenstisch.
Links und rechts: Nichts.
Nur Leere.

Ich gehe langsam, tastend.
Jede Bewegung bedacht, jeder Schritt ein Wagnis.
Der Boden knackt unter meinem Gewicht.

Ich halte kurz inne.
Greife instinktiv nach meinem Amulett.
Mein Talisman ist weg.
Bei Mika.

Ich schließe die Augen.
Spüre ihn, als wäre er noch bei mir.
Höre seine Stimme in meinem Kopf:
„Du musst es versuchen.“

Ich öffne die Augen.
Setze einen Fuß vor den anderen.

Der letzte Abschnitt.
Der Wind wird stärker, reißt an mir.
Ich spüre die Kälte bis in die Knochen.

Dann, plötzlich:
Land.
Fester Boden.

Ich bin drüben.

Vor mir erstreckt sich eine weite, offene Fläche.
Gras, das sich sacht im Wind wiegt.
Keine Mauern, keine Zäune, keine Türme, keine Drohnen.

Stille.
Reine, unheimliche Stille.

Ich bleibe stehen, schaue in die Ferne.
Mein Herz hämmert.
Vielleicht ist dies Haven.
Vielleicht auch nur eine weitere Illusion.

Ich weiß es nicht.
Aber zum ersten Mal seit langer Zeit lächle ich.

Ich gehe weiter.

Am Rand der Zone

Ich weiß nicht, wie lange ich gehe.
Die Zeit hat hier draußen keine Bedeutung mehr.
Nur Wind und Schritte.

Das Land bleibt weit und leer.
Grasflächen, von Rissen durchzogen.
Büsche, knorrig und zäh, trotzen dem ewigen Wind.
Ab und zu das Skelett eines Baumes, stumm und schwarz gegen den grauen Himmel.

Ich setze mich auf einen Felsbrocken, ziehe die Knie an die Brust.
Schaue ins Nichts.
Atme.

Der Wind fährt mir durch die Haare, zerrt an meiner Jacke.
Kein Lärm, keine Sirenen, keine Stimmen, keine Verfolger.
Nur dieses gleichmäßige Rauschen, als würde die Erde selbst leise sprechen.

Vielleicht bin ich angekommen.
Vielleicht bin ich am Rand der Welt.
Vielleicht ist das hier Haven.

Kein Ort.
Kein Versprechen.
Nur ein Zustand.
Freiheit.

Ich hole die Karte aus der Tasche.
Sie ist kaum mehr als ein zerfetztes Stück Papier, unbrauchbar, sinnlos geworden.
Ich halte sie in den Wind, lasse sie los.
Sie flattert kurz, tanzt, verschwindet.

Langsam stehe ich auf.
Mein Blick verliert sich im endlosen Horizont.
Ich weiß nicht, was hinter der nächsten Anhöhe liegt.

Aber ich weiß, ich werde es herausfinden.

Ich setze einen Fuß vor den anderen.
Mein Herz schlägt ruhig.
Mein Atem ist klar.

Ich gehe weiter.