Die gefundene Notiz

Ich sitze im Café gegenüber der Bibliothek und blättere durch das Buch, das ich gerade erstanden habe. Ein alter Schmöker, abgegriffen und mit diesem unverkennbaren Geruch, den nur Bücher haben, die jahrelang in irgendeinem Regal vor sich hin gealtert sind. Zwischen Seite 94 und 95 steckt ein vergilbtes Stück Papier. Meine Finger ertasten es, bevor meine Augen es sehen. Ich ziehe es heraus, entfalte es.
Eine handgeschriebene Notiz. Die Schrift ist geschwungen, etwas altmodisch, wie man heute kaum noch schreibt. Blau, verblasst an den Rändern. Ich lese:
„Wenn du das hier findest, dann bist du wahrscheinlich auch einer, der in fremden Geschichten nach Antworten sucht. Ich habe meine nicht gefunden, aber vielleicht findest du deine. Pass auf die Frau mit dem roten Schal auf. Sie weiß mehr, als sie zugibt.“
Ich schlucke. Mein Blick wandert unwillkürlich durch das Café. Da sitzt eine Frau am Fenster, graues Haar, etwa sechzig, und trägt einen roten Schal. Sie liest ebenfalls, ohne aufzublicken. Zufall? Natürlich. Trotzdem jagt mir ein Schauer über den Rücken.
Ich stecke die Notiz zurück zwischen die Seiten und nehme einen Schluck vom Kaffee, der inzwischen lauwarm ist. Die Flüssigkeit schmeckt bitter auf meiner Zunge. Hätte ich doch Zucker reingemacht.
Die Tür des Cafés öffnet sich, kalte Luft dringt ein. Ein Mann mittleren Alters, dessen Gesicht mir vage bekannt vorkommt, ohne dass ich ihn einordnen könnte. Er bestellt einen Espresso, blickt sich um, sieht mich an. Sein Blick bleibt einen Moment zu lange an mir hängen. Dann setzt er sich an einen freien Tisch, drei Tische von mir entfernt.
Ich versuche weiterzulesen, aber die Worte verschwimmen vor meinen Augen. Die Notiz lässt mich nicht los. Wer hat sie geschrieben? Und warum habe ausgerechnet ich sie gefunden? Und diese Frau mit dem roten Schal…
Ich beschließe, sie anzusprechen. Stehe auf, gehe mit klopfendem Herzen zu ihrem Tisch.
„Entschuldigung“, sage ich. Meine Stimme klingt brüchiger als beabsichtigt.
Sie blickt auf, ihre Augen sind hellgrau, fast durchsichtig. „Ja?“
„Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber…“ Ich zeige ihr die Notiz. „Ich habe das gerade in einem Buch gefunden, das ich gekauft habe. Und da ist die Rede von einer Frau mit rotem Schal, und Sie tragen einen und… naja.“
Sie betrachtet das Papier lange, ohne es zu berühren. Dann lächelt sie. Es ist ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht.
„Setz dich“, sagt sie.
Ich setze mich. Der Stuhl knarzt unter meinem Gewicht.
„Wie heißt das Buch?“, fragt sie.
„‚Die verborgenen Pfade'“, antworte ich. „Ein Roman von einem gewissen Karl Meierhofer. Kennen Sie es?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Aber ich kenne die Notiz.“
Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Wie bitte?“
„Ich habe sie geschrieben. Vor vielen Jahren.“
Die Welt um mich herum scheint stillzustehen. Das Klappern der Tassen, das Stimmengewirr, alles verstummt für einen Moment.
„Aber… das kann nicht sein“, sage ich. „Das wäre ja…“
„Ein unglaublicher Zufall?“, ergänzt sie. „Ja. Aber manchmal passieren solche Dinge.“
Ich starre sie an. Ihr Gesicht zeigt keine Regung, aber in ihren Augen liegt etwas, das ich nicht deuten kann. Eine Mischung aus Belustigung und… Traurigkeit?
„Und was bedeutet sie? Die Notiz?“, frage ich.
„Das kommt darauf an“, sagt sie. „Was bedeutet sie für dich?“
Ich schüttle den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe sie gerade erst gefunden.“
Sie nickt langsam. „Dann solltest du darüber nachdenken. Was suchst du gerade in deinem Leben? Wonach fragst du dich?“
Die Frage trifft mich unvorbereitet. Was suche ich? Eine Antwort auf die Frage, warum meine letzte Beziehung gescheitert ist? Warum ich mich in meinem Job so leer fühle? Warum ich nachts oft wachliege und auf die Decke starre?
„Ich weiß nicht recht“, antworte ich ausweichend.
Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Ihre Hände sind schmal, die Finger lang und knochig, mit auffällig kurz geschnittenen Nägeln.
„Weißt du“, sagt sie, „manche Bücher finden ihren Weg zu genau den Menschen, die sie brauchen. Ich glaube, das gilt auch für Notizen in Büchern.“
Der Mann, der nach mir hereingekommen ist, steht plötzlich neben unserem Tisch. „Entschuldigt die Störung“, sagt er. Sein Akzent ist leicht, aber unverkennbar osteuropäisch. „Aber ich konnte nicht umhin, euer Gespräch mitzuhören. Diese Notiz… darf ich sie sehen?“
Ich zögere, reiche sie ihm dann aber doch. Er liest sie, seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.
„Interessant“, murmelt er. „Sehr interessant.“
„Kennen Sie sie etwa auch?“, frage ich, halb im Scherz.
Er gibt mir die Notiz zurück. „Nein. Aber ich kenne das Buch. ‚Die verborgenen Pfade‘. Ein faszinierendes Werk.“
Die Frau mit dem roten Schal schaut ihn durchdringend an. „Setzen Sie sich zu uns“, fordert sie ihn auf.
Er kommt der Aufforderung nach. Jetzt sitzen wir zu dritt an dem kleinen Tisch, drei Fremde, verbunden durch eine vergilbte Notiz und ein Buch, das ich bis vor einer Stunde nicht einmal kannte.
„Es gibt Geschichten“, sagt der Mann mit dem Akzent, „die sich selbst erzählen wollen. Die Menschen suchen, durch die sie sprechen können.“
„Und Sie glauben, wir drei sind solche Menschen?“, frage ich skeptisch.
Er zuckt mit den Schultern. „Wer weiß? Zeig mir das Buch.“
Ich hole es vom Nachbartisch. Er nimmt es in die Hand, wiegt es, als wolle er sein Gewicht abschätzen, blättert dann langsam durch die Seiten.
„Kapitel sieben“, sagt er plötzlich. „Lies Kapitel sieben.“
Ich nehme das Buch zurück, suche Kapitel sieben. „‚Der unerwartete Gast'“, lese ich laut. Die Frau mit dem roten Schal lacht leise.
Ich beginne zu lesen, erst leise für mich, dann, auf Drängen der beiden anderen, laut. Es ist die Geschichte eines Mannes, der in einem Café sitzt und auf jemanden wartet, der nie kommt. Stattdessen trifft er zwei Fremde, die sein Leben verändern werden.
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Die Parallelen sind unheimlich.
„Es ist nur eine Geschichte“, sage ich, mehr zu mir selbst als zu den anderen.
„Natürlich“, stimmt die Frau zu. „Alles ist nur eine Geschichte. Die Frage ist, in welcher Geschichte du leben willst.“
Der Mann nickt zustimmend. „Und manchmal“, fügt er hinzu, „manchmal kreuzen sich Geschichten auf unerwartete Weise.“
Draußen beginnt es zu regnen. Dicke Tropfen klatschen gegen die Fensterscheibe, laufen in gewundenen Bahnen nach unten. Der Himmel ist dunkelgrau geworden.
„Ich muss los“, sagt die Frau plötzlich und steht auf. Sie wickelt den roten Schal enger um ihren Hals. „Es war schön, euch kennenzulernen.“
„Aber…“, beginne ich. „Wir haben doch noch gar nicht… Ich meine, was hat das alles zu bedeuten?“
Sie lächelt wieder dieses Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. „Das musst du selbst herausfinden. Lies das Buch. Vielleicht findest du deine Antworten darin.“ Sie zögert kurz. „Oder schreib deine eigene Geschichte weiter.“
Damit geht sie, die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Draußen ist ihr roter Schal für einen Moment wie ein Farbtupfer in der grauen Regenwelt zu sehen, dann ist sie verschwunden.
Der Mann und ich sitzen schweigend da. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Was glaubst du?“, fragt er schließlich. „Glaubst du an Zufälle?“
Ich überlege. „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich glaube an Geschichten.“
Er nickt, als hätte ich etwas Tiefgründiges gesagt. „Dann solltest du weiterlesen. Ich bin gespannt, wie deine Geschichte weitergeht.“
Er legt Geld für seinen Espresso auf den Tisch, steht auf und verabschiedet sich mit einem Nicken. Auch er verschwindet im Regen.
Ich bleibe allein zurück. Das Buch liegt vor mir, daneben die Notiz. Ich bestelle noch einen Kaffee, diesmal mit Zucker, und beginne zu lesen.
Die Worte ziehen mich in eine andere Welt. Eine Welt voller verborgener Pfade, unerwarteter Begegnungen und seltsamer Zufälle. Je mehr ich lese, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das Buch tatsächlich für mich geschrieben wurde. Dass es Antworten enthält, nach denen ich gesucht habe, ohne zu wissen, dass ich suche.
Als ich bei Kapitel neun ankomme, wird es draußen bereits dunkel. Ich blicke auf, reibe mir die Augen. Das Café hat sich geleert, nur noch ein paar Gäste sitzen verstreut an den Tischen. Die Kellnerin wirft mir einen fragenden Blick zu – will ich noch etwas bestellen oder endlich gehen?
Ich packe das Buch ein und bezahle. Draußen hat der Regen aufgehört, die Straßen glänzen feucht im Licht der Laternen. Die frische Luft tut gut nach der stickigen Wärme des Cafés.
Auf dem Heimweg kann ich nicht aufhören, über die seltsame Begegnung nachzudenken. War es wirklich ein Zufall? Oder steckt mehr dahinter? Die Frau mit dem roten Schal, der Mann mit dem Akzent – sie wirkten, als wüssten sie mehr, als sie zugaben.
In meiner Wohnung angekommen, setze ich mich aufs Sofa und lese weiter. Die Uhr tickt, draußen rauscht gelegentlich ein Auto vorbei. Ich versinke so tief in der Geschichte, dass ich die Welt um mich herum vergesse.
Bis ich zu einer Stelle komme, die mich erstarren lässt:
„Er fand die Notiz zwischen den Seiten eines alten Buches. Eine Warnung, eine Einladung oder beides? ‚Pass auf die Frau mit dem roten Schal auf‘, stand dort. ‚Sie weiß mehr, als sie zugibt.‘ Was er nicht wusste: Die Notiz war für ihn bestimmt, lange bevor er wusste, dass er sie finden würde.“
Ich schlage das Buch zu. Mein Herz rast. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.
Ich blättere hektisch zurück, suche die Stelle erneut. Da ist sie, schwarz auf weiß. Exakt die Worte, die auf der Notiz stehen, die ich gefunden habe.
Hat die Frau recht gehabt? Hat das Buch mich gefunden, nicht umgekehrt?
Ich stehe auf, gehe zum Fenster, schaue auf die nächtliche Straße hinunter. Ein paar Fußgänger eilen vorbei, die Köpfe gegen den neu einsetzenden Regen gesenkt. Niemand mit einem roten Schal.
Ich schlafe in dieser Nacht kaum. Die Gedanken kreisen, Szenen aus dem Buch vermischen sich mit der Begegnung im Café. Am Morgen bin ich wie gerädert, aber auch seltsam energiegeladen.
Beim Frühstück beschließe ich, in die Buchhandlung zurückzugehen, in der ich den Roman gekauft habe. Vielleicht weiß der Buchhändler mehr über den Autor. Über das Buch. Über die Notiz.
Die Buchhandlung ist ein kleiner, vollgestopfter Laden in einer Seitenstraße. Der Besitzer, ein älterer Herr mit Halbglatze und rundlicher Brille, begrüßt mich mit einem Nicken.
„Ich habe gestern dieses Buch hier gekauft“, sage ich und zeige ihm „Die verborgenen Pfade“. „Ich würde gerne mehr über den Autor erfahren.“
Der Buchhändler runzelt die Stirn. „Karl Meierhofer? Den Namen habe ich noch nie gehört. Und ich kenne mich eigentlich recht gut aus.“
„Aber ich habe das Buch hier gekauft. Gestern.“
Er nimmt es in die Hand, betrachtet es von allen Seiten. „Seltsam“, murmelt er. „Das stammt nicht aus meinem Sortiment. Sehen Sie die Signatur hier?“ Er zeigt auf einen kleinen Stempel auf der letzten Seite. „Das ist nicht meine.“
Ich starre ihn an. „Aber…“
„Sind Sie sicher, dass Sie es hier gekauft haben?“
Bin ich das? Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher. Wo genau habe ich das Buch erstanden? War es wirklich in diesem Laden? Oder woanders?
„Ich… Ich dachte es“, stammle ich.
Er gibt mir das Buch zurück. „Es gibt keinen Verlag auf dem Einband“, bemerkt er. „Und keine ISBN-Nummer. Das ist ungewöhnlich für ein gedrucktes Buch aus der neueren Zeit.“
Ich schaue genauer hin. Er hat recht. Das Buch trägt keine der üblichen Kennzeichnungen. Nur den Titel und den Autorennamen auf dem schlichten Einband.
„Vielleicht ein Eigendruck?“, mutmaßt der Buchhändler. „Oder ein sehr altes Exemplar, das neu gebunden wurde?“
Ich blättere durch die Seiten. Das Papier fühlt sich alt an, aber nicht antik. Vielleicht zwanzig, dreißig Jahre alt.
„Auf jeden Fall“, sagt der Buchhändler, „ein interessanter Fund. Wenn Sie mehr darüber herausfinden, würde ich es gerne erfahren.“
Ich verlasse den Laden noch verwirrter als zuvor. Mein Kopf schmerzt leicht, und ich spüre ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, als würde mich jemand beobachten. Ich drehe mich um, aber die Straße hinter mir ist leer.
Ich beschließe, ins Café zurückzukehren. Vielleicht ist die Frau mit dem roten Schal wieder da. Oder der Mann mit dem Akzent. Vielleicht können sie mir mehr erklären.
Das Café ist voller als gestern. Ich suche nach bekannten Gesichtern, aber weder die Frau noch der Mann sind zu sehen. Ich setze mich an denselben Tisch wie gestern und bestelle einen Kaffee.
Die Kellnerin, eine andere als gestern, bringt ihn mir. „Warten Sie auf jemanden?“, fragt sie beiläufig.
„Eigentlich ja“, antworte ich. „Eine Frau mit einem roten Schal. War sie heute schon hier?“
Die Kellnerin schüttelt den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Aber meine Schicht hat erst vor einer Stunde begonnen.“
Ich nicke dankend und nippe an meinem Kaffee. Er schmeckt anders als gestern, intensiver, bitterer. Ich öffne das Buch wieder und lese weiter.
Kapitel zehn handelt von einem Mann, der beginnt, an seiner Wahrnehmung der Realität zu zweifeln. Die Parallelen zu meiner Situation sind unheimlich. Es ist, als würde das Buch meine Gedanken lesen, meine Verwirrung aufgreifen und in Worte fassen.
Als ich aufblicke, sitzt mir die Frau mit dem roten Schal gegenüber. Ich habe nicht bemerkt, wie sie sich gesetzt hat.
„Du bist zurückgekommen“, stellt sie fest.
„Ich… ja.“ Meine Stimme klingt rau. „Ich habe Fragen.“
„Natürlich hast du die.“ Sie lächelt, und diesmal erreicht es ihre Augen. „Alle haben Fragen. Ich hatte auch welche, als ich die Notiz schrieb.“
„Warum haben Sie sie geschrieben? Und woher wussten Sie, dass ich sie finden würde?“
Sie lehnt sich zurück. „Ich wusste es nicht. Nicht genau. Ich wusste nur, dass jemand sie finden würde. Jemand, der Antworten sucht, genau wie ich damals.“
„Und die Frau mit dem roten Schal in der Notiz… das sind Sie?“
„Jetzt schon.“ Sie zupft an ihrem Schal. „Damals war ich diejenige, die die Notiz fand. Und die Frau mit dem roten Schal war jemand anderes. Jemand, der mir half, meinen Weg zu finden.“
Ich versuche, den Sinn ihrer Worte zu erfassen. „Sie meinen, die Notiz… wird weitergegeben? Von Person zu Person?“
Sie nickt langsam. „Genau wie das Buch. Hast du es gelesen?“
„Teile davon. Es ist… seltsam. Als ob es von mir handelt.“
„Das tut es“, sagt sie schlicht. „In gewisser Weise. Es handelt von jedem, der es liest. Es verändert sich.“
„Das ist unmöglich“, sage ich.
„Ist es das?“ Sie nimmt mir das Buch aus der Hand, blättert darin. „Schau dir die letzten Seiten an. Lies das letzte Kapitel.“
Ich nehme das Buch zurück, blättere zum Ende. Das letzte Kapitel trägt den Titel „Der Kreis schließt sich“. Ich beginne zu lesen, und mein Blut gefriert in meinen Adern.
Es beschreibt, wie der Protagonist beschließt, selbst eine Notiz zu schreiben. Eine Notiz, die er in das Buch legt, bevor er es weitergibt. Eine Notiz über eine Frau mit einem roten Schal.
Ich schaue auf. „Das bedeutet…“
„Es bedeutet, dass Geschichten weiterleben“, sagt sie sanft. „Durch uns. Wir sind alle Teil einer größeren Geschichte, verstehst du? Einer, die lange vor uns begann und lange nach uns weitergehen wird.“
„Und das Buch?“
„Das Buch ist nur ein Vehikel. Ein Weg, die Geschichte weiterzutragen.“ Sie legt ihre Hand auf meine. Ihre Haut ist warm und trocken. „Wichtig ist, was du mit der Geschichte machst. Wie du sie weitererzählst.“
In diesem Moment betritt der Mann mit dem Akzent das Café. Er sieht uns, kommt sofort zu unserem Tisch.
„Ich wusste, dass ich euch hier finden würde“, sagt er. „Habt ihr das Ende gelesen?“
Ich nicke stumm.
„Und?“, fragt er. „Was wirst du tun?“
Die Frage hängt in der Luft zwischen uns. Was werde ich tun? Die Geschichte weitergeben? Eine neue Notiz schreiben? Das Buch einem Fremden schenken?
„Ich weiß es noch nicht“, antworte ich ehrlich.
Die Frau und der Mann tauschen einen Blick.
„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist“, sagt sie. „Vertrau darauf.“
Wir sitzen noch eine Weile zusammen, reden über das Buch, über die seltsamen Wendungen des Lebens, über Zufälle, die keine sind. Als ich nach Hause gehe, fühle ich mich leichter, als hätte mir jemand eine Last von den Schultern genommen, die ich gar nicht bemerkt hatte.
Zu Hause setze ich mich an meinen Schreibtisch, nehme ein Blatt Papier und einen Stift. Die Worte kommen wie von selbst:
„Wenn du das hier findest, dann bist du wahrscheinlich auch einer, der in fremden Geschichten nach Antworten sucht…“
Ich wache auf. Das Licht der Morgensonne fällt durch die halbgeöffneten Vorhänge in mein Schlafzimmer. Neben mir auf dem Nachttisch liegt ein Buch, das ich nicht kenne. „Die verborgenen Pfade“ von Karl Meierhofer. Und eine handgeschriebene Notiz, die ich nicht erinnere, geschrieben zu haben.
War es ein Traum? Oder ist der Traum das, was jetzt kommt?
Ich stehe auf, gehe zum Fenster, schaue hinaus auf die morgendliche Straße. Eine Frau geht vorbei, mit einem roten Schal um den Hals. Sie blickt nach oben, direkt zu meinem Fenster, und lächelt, als wüsste sie etwas, das ich noch nicht weiß.
Ich lächle zurück. Dann setze ich mich an den Schreibtisch und beginne zu schreiben. Meine Geschichte. Unsere Geschichte. Die Geschichte, die weitergeht, durch uns alle.