Ich stehe in meiner Wohnung zwischen Kisten und Tüten. Überall Zeug. Man sammelt so viel an im Leben. Unnützes Zeug. Wie lange hab ich das aufgeschoben? Drei Monate? Vier? Der Frühjahrsputz wird zum Sommerprojekt und jetzt ist es fast Herbst.

Die Fenster stehen offen. Draußen brüllt jemand seinem Hund hinterher. „Komm her, verdammt!“ Der Hund hört nicht. Klar. Warum auch. Die Leute können nicht mal mit ihren Haustieren reden, wie sollen sie dann miteinander klarkommen?

Ich nehme mir die Kiste vom Schrank vor. Eine von denen, die man nie anrührt. Die da einfach steht und wartet. Jahre vielleicht. Staub hat sich auf dem Deckel angesammelt, eine feine graue Schicht. Als ich sie abwische, muss ich niesen. Dreimal hintereinander.

Die Kiste ist nicht schwer. Wabbelig irgendwie, als wäre sie nicht richtig gefüllt. Als hätte jemand wahllos Zeug reingestopft, nur um sie zu füllen. Ich stelle sie auf den Boden, knie mich hin. Alte Rechnungen, ein paar Fotos, Quittungen. Die üblichen Verdächtigen. Eine Gebrauchsanweisung für einen Wasserkocher, den ich nicht mehr habe. Sinnloses Zeug, das man aus irgendeinem Grund nicht wegwerfen konnte.

Und dann liegt da dieses Ding.

Ich starre es an. Es starrt zurück. Nein, Quatsch, es starrt nicht. Es hat keine Augen. Es ist nur… seltsam. Ein Objekt, etwa handgroß, wie ein abgerundetes Dreieck. Die Oberfläche glänzt matt, fast wie polierter Stein, aber es fühlt sich nicht wie Stein an. Nicht wie Metall. Nicht wie Kunststoff. Es fühlt sich an wie… wie nichts, was ich kenne.

„Was zum Teufel bist du denn?“ Ich rede mit diesem Ding, als könnte es antworten. Komische Angewohnheit. Die Luft in der Wohnung scheint plötzlich dichter zu werden. Ich drehe das Ding in meinen Händen. Es ist leicht, leichter als es aussieht. Und warm. Nicht heiß, einfach… körperwarm. Als hätte es die Temperatur meiner Hände sofort angenommen.

Ich kann mich nicht erinnern, dieses Ding jemals gesehen zu haben. Geschweige denn, es in eine Kiste gepackt zu haben. Was macht es hier?

Der Nachmittag draußen wird langsam grau. Es wird bald regnen. Ich höre auf, aufzuräumen, und setze mich aufs Sofa, das Ding immer noch in der Hand. Drehe es, betrachte es aus allen Winkeln. Keine Kratzer, keine Abnutzungsspuren. Keine Beschriftung, kein „Made in China“, kein gar nichts.

Ich schlafe ein, mit dem Ding in der Hand.

Und dann träume ich.


Ich stehe auf einer Straße, die ich nicht kenne. Breite Bürgersteige, alte Häuserfassaden, aber alles ist irgendwie verschoben. Die Fenster zu hoch, die Türen zu schmal. Die Luft riecht nach Zimt und nassem Asphalt. Es muss vor kurzem geregnet haben. Der Himmel hat diese merkwürdige Farbe, die er nur in Träumen hat – nicht blau, nicht grau, sondern irgendwas dazwischen, was es in der Wirklichkeit nicht gibt.

Ich gehe die Straße entlang. Meine Füße machen dieses Geräusch auf dem nassen Pflaster. Platsch, platsch. Ich trage das seltsame Objekt in meiner Hand. Es pulsiert leicht, wie ein zweites Herz.

„Sie haben es also gefunden.“

Die Stimme kommt von einem Mann, der plötzlich neben mir geht. Ich habe nicht bemerkt, wie er aufgetaucht ist. Er trägt einen altmodischen Anzug, der nicht richtig zu seiner Größe passt. Zu kurze Ärmel, zu breite Schultern. Seine Haut hat einen leichten Blaustich.

„Was habe ich gefunden?“ frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.

„Den Schlüssel, natürlich.“ Er nickt zu dem Ding in meiner Hand. „Wir warten schon lange darauf, dass jemand ihn findet.“

„Wir?“

Er zeigt nach vorne. Die Straße mündet in einen Platz. Der Platz ist voller Menschen. Oder… nicht ganz Menschen. Sie sehen aus wie Menschen, aber etwas an ihnen ist falsch. Zu lange Arme. Zu große Augen. Zu flüssige Bewegungen. Sie alle schauen in meine Richtung. Warten.

„Was soll ich damit machen?“ Ich halte das Ding – den Schlüssel – hoch.

Der Mann mit dem schlecht sitzenden Anzug lächelt. Ein schiefes Lächeln, bei dem seine Zähne zu sehen sind. Zu viele Zähne.

„Sie müssen das richtige Schloss finden.“

„Und wo ist das?“

„Das ist die Frage, nicht wahr?“ Er lacht, und sein Lachen klingt wie Glas, das über Marmor kratzt. „Vielleicht dort?“ Er zeigt auf ein Gebäude am Platz. Es sieht aus wie eine Mischung aus Bibliothek und Bahnhof. Große Bogenfenster, eine breite Treppe, die zum Eingang führt.

Ich sehe zum Gebäude, dann wieder zu dem Mann. Aber er ist verschwunden. Die ganze Straße ist leer. Nur der Platz mit den seltsamen Menschen-nicht-Menschen ist noch da. Sie alle starren mich an. Warten auf etwas.

Ich gehe auf das Gebäude zu. Die Luft wird mit jedem Schritt wärmer. Das Ding – der Schlüssel – in meiner Hand pulsiert stärker.

Die Treppe zum Eingang ist steiler, als sie aussieht. Ich bin außer Atem, als ich oben ankomme. Die große Doppeltür ist aus dunklem Holz mit Messingbeschlägen. Kein Türgriff, kein Schlüsselloch. Nur eine rechteckige Vertiefung in der Mitte, etwa so groß wie meine Hand.

Ich sehe auf den Schlüssel in meiner Hand, dann auf die Vertiefung in der Tür. Offensichtlich passt er da rein. Aber will ich das? Sollte ich das? Die Menschen auf dem Platz hinter mir sind näher gekommen. Sie stehen jetzt am Fuß der Treppe. Warten.

Ich lege den Schlüssel in die Vertiefung. Er passt perfekt. Als hätte jemand die Vertiefung genau für dieses Objekt gemacht. Oder das Objekt für diese Vertiefung.

Ein dumpfer Ton erklingt, wie eine tiefe Glocke unter Wasser. Die Tür schwingt auf.

Dahinter ist kein Gebäudeinneres. Kein Foyer, keine Halle. Dahinter ist ein Garten. Ein wilder, üppiger Garten bei Nacht, beleuchtet von einem Mond, der viel zu groß am Himmel steht.

„Willst du reingehen?“ fragt eine Stimme neben mir. Eine Frau steht da, in einem Kleid aus etwas, das wie flüssiges Silber aussieht. Ihr Gesicht wirkt gleichzeitig jung und alt. „Du musst nicht. Du kannst auch gehen.“

Ich drehe mich um. Die Menschen am Fuß der Treppe haben sich vermehrt. Jetzt stehen sie dicht gedrängt bis zum Horizont.

„Ich glaube, ich habe keine Wahl,“ sage ich.

„Wir haben immer eine Wahl,“ sagt die Frau. „Aber manchmal ist die Wahl, die wir haben, nicht die, die wir wollen.“

Ich trete durch die Tür in den nächtlichen Garten. Die Luft ist erfüllt vom Duft blühender Blumen und etwas Metallischem. Der Boden unter meinen Füßen fühlt sich seltsam nachgiebig an, wie ein Teppich aus Moos.

Der Schlüssel ist wieder in meiner Hand. Er leuchtet jetzt schwach, pulsiert im Rhythmus meines Herzschlags.

„Du solltest dich beeilen,“ sagt die Frau in dem silbernen Kleid, die mir durch die Tür gefolgt ist. „Sie werden bald hier sein.“

„Wer?“

„Die, die den Schlüssel haben wollen.“

„Und was ist mit dir? Willst du ihn nicht?“

Sie lächelt, und ihr Lächeln verändert ihr Gesicht, macht es schärfer, gefährlicher. „Ich will, dass du findest, was du suchst.“

„Ich suche nichts.“

„Jeder sucht etwas,“ sagt sie. „Besonders hier.“

Sie deutet auf einen Pfad, der sich durch den Garten schlängelt. Er scheint aus leuchtenden Steinen zu bestehen, die im Mondlicht glühen.

„Folge dem Pfad. Er wird dich hinbringen.“

„Wohin?“

Aber sie ist verschwunden, wie der Mann zuvor. Verschwunden in die dunklen Schatten zwischen den Bäumen und Sträuchern des Gartens.

Ich folge dem Pfad. Was bleibt mir anderes übrig? Er führt durch einen Dschungel aus überdimensionierten Pflanzen. Blumen so groß wie Teller, Blätter wie Teppiche. Alles duftet intensiv, fast betäubend. Der Mond wirft bizarre Schatten.

Irgendwann komme ich an eine Lichtung. In ihrer Mitte steht ein Pavillon aus weißem Marmor. Seine Säulen sind mit Ranken umwunden, die kleine leuchtende Blüten tragen. Im Pavillon sitzt jemand auf einer Bank.

Es ist ein Kind. Oder sieht aus wie ein Kind. Ein Junge, vielleicht zehn oder elf. Er trägt altmodische Kleidung – kurze Hosen, ein weißes Hemd mit Fliege, Kniestrümpfe. Aber etwas stimmt nicht mit seinen Proportionen. Seine Arme sind zu lang, seine Augen zu groß für sein Gesicht.

„Du bist spät,“ sagt er, und seine Stimme klingt nicht wie die eines Kindes. Sie klingt uralt.

„Ich wusste nicht, dass ich erwartet werde,“ antworte ich.

„Jeder wird erwartet,“ sagt das Kind-nicht-Kind. „Früher oder später. Du hast den Schlüssel gefunden. Das bedeutet, du bist an der Reihe.“

„An der Reihe wofür?“

„Zu träumen.“ Das Kind lächelt, und sein Lächeln ist zu breit für sein Gesicht. „Oder zu erwachen. Je nachdem, wie man es betrachtet.“

Es deutet auf den Schlüssel in meiner Hand. „Weißt du, was das ist?“

Ich schüttle den Kopf.

„Es ist ein Fragment von etwas Größerem. Etwas, das zerbrochen wurde, vor langer Zeit. Die Stücke wurden in verschiedene Welten verstreut. Manche landen in Träumen. Manche in der wachen Welt. Manche dazwischen.“

„Und wofür ist es ein Schlüssel?“

„Für jede Tür, die du öffnen willst.“ Das Kind steht auf. Es ist größer, als ich dachte. Fast so groß wie ich. „Aber vor allem ist es ein Schlüssel zu dir selbst.“

„Das klingt… kryptisch.“

„Die Wahrheit ist immer kryptisch.“ Das Kind kommt näher. Ich kann jetzt sehen, dass seine Haut nicht glatt ist, sondern von feinen Linien durchzogen, wie eine alte Porzellanpuppe. „Willst du wissen, wie du hierher gekommen bist?“

„In diesen Traum?“

„Ist es ein Traum?“ Das Kind nimmt meine Hand mit dem Schlüssel. Seine Finger sind kalt. „Oder ist das, was du ‚Wirklichkeit‘ nennst, der eigentliche Traum?“

Ein Windhauch fegt über die Lichtung. Die leuchtenden Blüten an den Ranken flackern wie Kerzen.

„Du solltest jetzt gehen,“ sagt das Kind plötzlich. Es klingt besorgt. „Sie kommen.“

„Wer?“

„Die Sammler. Sie sammeln solche Schlüssel. Sie sammeln Träumer wie dich.“

In der Ferne höre ich ein Geräusch. Ein tiefes Brummen, wie von schweren Maschinen.

„Geh,“ drängt das Kind. „Nimm den Schlüssel und geh. Finde die anderen.“

„Welche anderen?“

„Die anderen Schlüssel. Die anderen Träumer.“ Das Kind schiebt mich vom Pavillon weg. „Der Pfad wird dich zurückführen. Aber nicht zur Tür. Die Tür ist jetzt geschlossen. Du musst einen anderen Weg finden.“

Das Brummen wird lauter. Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu vibrieren.

Ich renne. Zurück auf den leuchtenden Pfad, durch den nächtlichen Garten. Aber der Pfad führt nicht mehr zurück zur Tür. Er windet sich in eine andere Richtung, tiefer in den Garten hinein.

Das Brummen ist jetzt ein Dröhnen. Zwischen den Bäumen sehe ich Bewegung. Große, dunkle Gestalten.

Der Pfad endet abrupt an einem Abgrund. Jenseits des Abgrunds ist nur Leere. Schwarzer, sternenloser Raum.

Ich drehe mich um. Die dunklen Gestalten kommen näher. Sie bewegen sich langsam, aber unaufhaltsam.

Ich blicke auf den Schlüssel in meiner Hand. Er pulsiert heftig, fast schmerzhaft.

„Ein Schlüssel für jede Tür, die ich öffnen will,“ murmle ich.

Aber hier ist keine Tür. Nur der Abgrund.

Ich schließe die Augen, halte den Schlüssel vor mich und drehe ihn, als würde ich ein unsichtbares Schloss öffnen.

Ein Klicken. Ein Knarren.

Als ich die Augen öffne, schwebt vor mir eine Tür im leeren Raum. Eine einfache Holztür ohne Rahmen. Sie steht einfach da, mitten in der Luft.

Die dunklen Gestalten sind fast bei mir. Ich kann jetzt erkennen, dass es keine Menschen sind. Keine Tiere. Nichts Lebendiges. Sie sehen aus wie wandelnde Risse in der Realität, Löcher in der Welt in Form von Menschen.

Ich öffne die Tür und trete hindurch.


Ich wache auf meinem Sofa auf. Mein Nacken tut weh vom unbequemen Liegen. Draußen ist es dunkel geworden. Es regnet, das Prasseln an den Fenstern ist das erste, was ich höre.

Meine Hand ist leer. Der Schlüssel ist weg.

Ich setze mich auf, reibe mir die Augen. Ein seltsamer Traum. Zu lebendig, zu zusammenhängend für einen normalen Traum.

Mein Blick fällt auf den Boden neben dem Sofa. Die Kiste steht noch da, halb ausgeräumt. Daneben liegt ein Buch, das ich nicht kenne. Ein schlanker Band ohne Titel, mit dunkelblauem Einband.

Ich hebe es auf, schlage es auf. Die Seiten sind leer, bis auf die erste. Dort steht in einer feinen, geschwungenen Handschrift:

„Für den Träumer. Der erste Schlüssel ist gefunden. Suche die anderen.“

Darunter ist eine Zeichnung. Das dreieckige Objekt, der Schlüssel aus meinem Traum. Perfekt wiedergegeben, jedes Detail.

Ich blättere durch den Rest des Buches. Leere Seiten. Aber als ich das Buch umdrehe und von hinten durchblättere, sehe ich etwas. Auf der letzten Seite, kaum sichtbar, wie mit Bleistift geschrieben und wieder ausradiert:

„Sie werden dich finden. Sei bereit.“

Ich klappe das Buch zu. Meine Hände zittern leicht.

Draußen hört der Regen auf. Die plötzliche Stille ist beunruhigend.

Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Die Straße glänzt nass im Licht der Laternen. Leer, bis auf eine Gestalt. Eine Person, die unter einer Laterne steht und zu meinem Fenster hochschaut.

Eine Person in einem altmodischen Anzug, der nicht richtig passt.

Ich trete vom Fenster zurück, das Buch fest an mich gedrückt.

Der Traum ist noch nicht vorbei.