Naura – Und wenn wir fallen

Flackerlicht
Die Neonröhre im Flur surrt. Dieses sirrende, fiebrige Geräusch, als würde gleich irgendwas durchbrennen – entweder das Licht oder mein Kopf. Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu, leise, fast entschuldigend. Es ist halb zwei. Meine Stiefel sind noch feucht vom Regen, ich rieche nach nasser Straße und kaltem Rauch. Im Spiegel über der Garderobe sehe ich nur die Umrisse meines Gesichts. Die Augen sind wach. Zuviel.
Ich hänge den Mantel an den einen Haken, der noch halbwegs hält. Den Schlüssel lege ich wie immer auf die alte Bonbondose – rund, verbeult, mit dem verblichenen Aufdruck „Liebesperlen“. Hab ich vor Jahren in einem verlassenen Umzugskarton gefunden, oben auf dem Dachboden des Nachbarhauses. Manches schmeißt man nicht weg. Auch wenn man nicht mehr weiß, warum.
In der Küche ist alles, wie ich es verlassen habe. Der Geruch von abgestandenem Kaffee hängt in der Luft. Der kleine Tisch ist ein Sammelbecken für das, was niemand mehr braucht:
– Ein Feuerzeug mit dem Aufdruck „Ari’s Späti – immer offen, außer Montag“
– Ein eingerahmtes Foto von zwei Fremden, Arm in Arm vor einem Caravan. Keine Notiz, kein Datum.
– Eine kleine Plastikfigur – ein Elefant im Astronautenanzug, der rechte Arm fehlt
– Drei Einkaufszettel, alle mit anderer Handschrift, alle mit „Marmelade“ am Ende
– Eine Streichholzschachtel aus dem Hotel Primavera, Mailand, leer
– Ein zerknittertes Stück Packpapier, darauf steht in blassem Filzstift: „Ich wollte dich nicht verlieren.“
Ich setze mich. Ziehe langsam die Stiefel aus. Die Zehen sind taub, dampfen leicht. Ich massiere sie, während ich die Decke anstarre, als würde da ein Film laufen, den nur ich sehen kann.
Dann stelle ich den Elefanten auf die Fensterbank. Draußen ist die Straße leer. Eine Straßenlaterne flackert. Ein Typ mit Kapuze schiebt ein Fahrrad über das Kopfsteinpflaster, obwohl es völlig in Ordnung aussieht. Alles wirkt schief. Verschoben. Als hätte jemand die Welt nicht richtig zusammengesetzt.
Ich greife mir das Notizbuch, das ich immer offen lasse, und schreibe:
1:52 Uhr. Das Surren der Neonröhre bohrt sich in die Schädeldecke. Draußen alles nass, innen alles müde. Die Fundstücke erinnern mich daran, dass ich nicht allein bin. Irgendwer hat mal geliebt, verloren, geraucht, gehofft. Irgendwer war da.
Ein Schrei aus der Wohnung über mir. Nicht panisch. Eher genervt. So klingt jemand, der zum dritten Mal denselben Albtraum hat.
Ich stelle den Wasserkocher an. Habe keinen Tee mehr. Ist egal. Es geht um das Geräusch. Das Warten. Den Dampf. Als würde man damit irgendwas freikochen, was sonst nicht rauskommt.
Unten schiebt jemand einen Müllcontainer über das Pflaster. Klack. Klack. Klack.
Ich sitze einfach da. Mit den Dingen. Und denke an nichts. Oder vielleicht an alles.
Kaffeetropfen
Der Morgen riecht nach Schimmel und Erinnerung. Ich bin viel zu früh wach, obwohl ich erst spät eingeschlafen bin – irgendwann zwischen dem Pfeifen der Heizungsrohre und dem Kratzen aus dem Treppenhaus. Das Licht, das durch die schmutzigen Scheiben fällt, hat diesen fahlen, grau-beigen Ton, der einem sofort sagt: Heute wird kein Tag, an den du dich erinnern willst.
Barfuß stehe ich in der Küche, in einem übergroßen Pulli, der mal Elias gehörte. Der Kaffee läuft langsam durch den Filter, ungeduldig tröpfelnd, als hätte auch die Maschine zu wenig Schlaf. Ich warte. Ich warte gern. In der Zeit, in der andere Menschen morgens scrollen oder irgendwas optimieren, starre ich lieber auf braune Tropfen, die durch ein Papierfilterherz in eine Glaskanne fallen.
Auf meinem Fenstersims versammelt sich ein kleines Theater der Verlorenen:
– Eine Kinokarte vom 9. Oktober – Der Himmel über Berlin, Reihe 12, Platz 7. Zwischen den Seiten eines Heftromans gefunden, den jemand in den Bücherbus geworfen hat.
– Ein Zigarettenstummel mit tiefrotem Lippenstift – fast violett – in einer Glasflasche, luftdicht. Sieht aus wie ein Geschenk an jemanden, der nie kam.
– Ein Stück Stoff, handbestickt mit „M.K.“ – eingerollt wie eine winzige Flagge für ein untergegangenes Land.
– Eine Feder, wahrscheinlich Möwe, leicht ausgefranst. Hat was Zerbrechliches.
– Und ein kaputter Kopfhörer – nur eine Seite geht noch. Genau die, mit der „In the Aeroplane Over the Sea“ lief, beim letzten Spaziergang am Hafen.
Ich nehme die Kinokarte in die Hand, drehe sie zwischen den Fingern. Das Datum ist nicht zufällig – es ist mein Geburtsjahr. Vielleicht hat an diesem Tag jemand seinen Lieblingsfilm gesehen. Vielleicht jemand, der wie ich nicht wusste, wo er hinsoll. Vielleicht war da jemand allein.
Der Kaffee ist fertig. Ich trinke den ersten Schluck, verbrenne mir leicht die Zunge, aber ich zucke nicht. Bitter, staubig, genau richtig.
Auf dem Tisch liegt mein Notizbuch, das sich an der einen Ecke schon leicht wellt – zu viel Feuchtigkeit, zu wenig Sonne. Ich klappe es auf.
7:26 Uhr. Kaffee schmeckt heute wie früher. Als ich noch dachte, Wärme kommt von innen. Die Kinokarte mit Platz 7 fühlt sich an wie ein geplatztes Versprechen. Vielleicht setze ich mich heute in einen echten Kinosaal. Einfach sitzen. Einfach schauen.
Ein Aufprall im Treppenhaus. Dumpf. Wahrscheinlich hat wieder jemand versucht, zu viele Pfandflaschen auf einmal zu tragen. Ich höre das öfter – hier im Haus hat fast jeder mehr Leergut als Perspektive. Unter mir wohnt ein Paar, das sich jeden Sonntag trennt und montags wieder gemeinsam Nudeln kocht. Über mir: die Frau mit den drei Katzen, von denen eine regelmäßig abhaut und an meiner Tür kratzt.
Ich ziehe mir eine Zigarrenkiste aus meinem Regal – Worte steht drauf, in krakeliger Wachsmalerei. Drin liegen Notizen, Karten, Briefe, Fragmente. Ich lege die Kinokarte dazu, ganz hinten, zu dem Brief, den ich am Kanal gefunden habe, in Plastikfolie. Der erste Satz: „Ich weiß nicht, ob ich dir schreiben darf, aber ich tue es trotzdem.“
Ich habe nie weitergelesen. Manche Dinge will ich nicht entzaubern.
Draußen nieselt es. Das Licht verändert sich kaum. Wie ein Tag, der nicht ganz weiß, ob er existieren will.
Ich lehne mich an den Türrahmen, dampfender Kaffee in der Hand, zu weiter Pulli auf den Schultern. Ich frage mich, wie man eigentlich merkt, dass man lebt. Ob es reicht, Dinge zu sammeln, die andere verloren haben.
Dann klingelt das Telefon.
Festnetz.
Ich friere ein.
Ich gehe ran.
Ich sage nichts.
Ich atme nur.
Und eine Stimme fragt: „Naura? Bist du das?“
Stille zwischen zwei Songs
Ich sehe ihn zum ersten Mal in der U-Bahn. Linie 6, kurz vor Betriebsschluss. Der Wagen ist fast leer, nur zwei schlafende Gestalten und ein Typ mit Kopfhörern, der seine Füße auf die Sitzbank legt, als sei er allein auf der Welt.
Er sitzt schräg gegenüber. Schwarze Jacke, schwarze Mütze, schwarze Schuhe. Nicht aus Prinzip – eher aus Müdigkeit. Unsere Blicke treffen sich. Nur für einen Moment. Dann schauen wir wieder weg. So wie man das macht, wenn man nicht weiß, ob man bereit ist.
Ich höre keine Musik. Habe meine Kopfhörer vergessen. Also beobachte ich. Er trommelt leicht mit den Fingern auf sein Bein. Ungleichmäßig. Als würde er versuchen, sich selbst wachzuhalten.
Nächste Station: Kottbusser Tor. Er steht auf. Ich auch. Unsere Bewegungen sind nicht synchron, aber irgendwie verbunden. Draußen ist die Luft feucht, schmeckt nach Metall und warmem Müll. Ich gehe hinter ihm her, nicht absichtlich, nicht unabsichtlich. Unser Schatten läuft doppelt – einer echt, einer durch die flackernden Werbereklamen an der Wand.
Er bleibt vor einem Schaufenster stehen. Musikladen. Innen flackert das Licht. Alte Verstärker, Gitarren, Plattencover, Staub. Ich bleibe stehen, ein paar Meter hinter ihm.
Dann dreht er sich um und sagt einfach:
„Du sammelst Dinge, oder?“
Ich starre ihn an. Nicken geht gerade nicht. Reden auch nicht.
„Ich hab dich mal gesehen. In der Nähe vom Hafen. Du hast einen Stuhl mitgenommen, der nur noch drei Beine hatte.“
Ich lache. Ganz kurz. Er lächelt nicht. Er meint das ernst.
„War der schön, der Stuhl?“ fragt er.
„Nein,“ sage ich. „Aber traurig.“
Er nickt. Als hätte ich die richtige Antwort gegeben.
Wir stehen da. Reden nicht mehr. Der Moment ist zu still für Worte. Zwischen uns: ein Geräusch wie das Klicken einer Kassette kurz bevor die nächste Seite anfängt zu spielen.
Ich frage nicht nach seinem Namen. Er fragt nicht nach meinem.
Als ich weitergehe, höre ich seine Schritte noch eine Weile hinter mir. Dann nichts mehr.
Ich nehme die kleine Feder aus meiner Jackentasche – Fundstück vom Morgen – und lege sie später auf den Tisch. Daneben schreibe ich:
3:04 Uhr. Ein Blick in der U-Bahn. Ein Satz vor dem Musikladen. Und ein Stuhl, der traurig war. Vielleicht fängt alles so an.
Schwarzlicht im Waschsalon
Der Waschsalon an der Ecke hat dieses Licht, das alles kränker aussehen lässt, als es ist. Bläulich, kalt, wie in einer billigen Notaufnahme. Ich bin trotzdem hier. Zwei Maschinen surren, meine läuft auf „Pflegeleicht 40°“, obwohl ich nichts Besonderes wasche – nur das Übliche: alte Shirts, ein viel zu dünnes Spannbettlaken, zwei Paar Socken, die nie zueinanderfinden.
Ich sitze auf der Bank neben dem Fenster. Vor mir: ein klappernder Einkaufswagen voll loser Wäsche, ein vergilbtes Poster von Waschmittel aus den Neunzigern, und der Geruch von heißem Waschmittel und langsam sterbender Hoffnung.
Er kommt rein, ohne zu zögern. Schwarze Jacke, wieder. Heute keine Mütze. Ich erkenne ihn sofort, obwohl ich ihn gestern kaum kannte.
„Du wohnst hier in der Nähe?“, fragt er. Keine Begrüßung. Kein Smalltalk. Direkt rein in die Unwägbarkeit.
„Nicht weit“, sage ich.
„Du auch?“
Er nickt, stellt eine Tasche auf den Boden, kramt Wäsche raus, wirft sie grob in die Maschine. Die Unterhosen sind schwarz. Natürlich. Ich sage nichts.
Er setzt sich mir gegenüber. Die Maschinen rumpeln los. Zwischen uns: das rhythmische Drehen von Trommeln und eine seltsame, absurde Vertrautheit. So als hätten wir uns schon öfter in anderen Leben im Waschsalon getroffen, zwischen Lärm und Lauge.
„Was sammelst du heute?“, fragt er.
Ich überlege.
„Zwei Büroklammern, ein halbes Brillenetui, und ein Einkaufszettel auf Französisch.“
„Was stand drauf?“
Ich muss lachen.
„Nur ‚Beurre, vin, regrets‘. Butter, Wein, Bedauern.“
Er grinst. Kurz. Dann schaut er auf seine Schuhe. Ich mag diese Momente – wenn Menschen denken, niemand sieht sie beim Nachdenken.
„Und du?“, frage ich.
„Ich sammle keine Dinge. Nur Fehler.“
Das sitzt. Ich will etwas sagen, finde aber nichts, das dem standhält. Also schweigen wir. Neben uns schleudert das Leben bei 1200 Umdrehungen. Draußen fährt ein Krankenwagen vorbei. Das Blaulicht bricht sich in der Glasscheibe und taucht den Raum für einen Moment in Stroboskop.
Er heißt Elias. Sagt er irgendwann. Einfach so, zwischen zwei Maschinen Pieptönen.
Ich sage meinen Namen nicht. Noch nicht. Vielleicht nie. Vielleicht weiß er ihn längst.
Die Maschine piept. Meine Wäsche ist fertig. Ich greife den nassen Haufen, schiebe alles in den Jutebeutel. Er beobachtet meine Finger, wie ich ein graues Shirt glattstreiche, bevor ich es verstaue.
„Lass uns irgendwann weiterreden“, sagt er.
„Vielleicht.“
Draußen riecht es nach Regen. Ich nehme einen Umweg durch die Seitengasse, wo früher das Fotogeschäft war. Heute nur noch eine leere Auslage mit eingerahmten Schwarzweiß-Bildern. Ich bleibe kurz stehen. Auf einem der Bilder ein Mädchen auf einem Fahrrad. Das Gesicht unscharf, der Moment klar.
Ich reiße mich los, gehe heim. Falte die Wäsche ordentlich, was ich sonst nie mache. Dann lege ich den französischen Einkaufszettel in die Kiste mit der Aufschrift Sprache.
Daneben schreibe ich:
22:17 Uhr. Eine Waschladung Wäsche, zwei Sätze zu viel, einer zu wenig. Vielleicht sind Fehler auch nur Erinnerungen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.
Nichts als Luft
Manchmal ziehe ich die Schublade auf, nur um nichts zu fühlen. Ich weiß, was drin ist. Jeder Zettel, jede Kassette, jeder verdammte Haargummi hat seine Geschichte. Und trotzdem: heute nichts. Ich starre nur rein. Warte auf irgendeinen Impuls, eine Erinnerung, einen Hauch.
Nichts.
Nur Luft.
Ich schließe die Schublade wieder, langsam, als könnte ich damit irgendetwas verschonen.
Es ist still in der Wohnung. Keine Geräusche von oben. Keine Katze kratzt. Nur das Summen des Kühlschranks, dieses mechanische Atmen, das man irgendwann nicht mehr hört, außer man ist zu lange allein.
Ich gehe ans Regal, ziehe die Kiste mit der Aufschrift Mutter. Die Schrift ist älter, zögerlicher als bei den anderen. Ich nehme ein Foto heraus. Meine Mutter mit Zigarette, irgendwo in der Sonne. Ihre Haare sind hell, fast weiß vor dem Hintergrund. Sie lacht. Ich weiß nicht, worüber. Ich war da, aber ich erinnere mich nicht. Vielleicht war ich zu klein. Vielleicht zu weit weg.
Es war ein Mittwoch, glaube ich. Der letzte Tag. Sie hat ein Ei gekocht und dann gesagt, sie geht kurz raus. Kam nicht zurück. Keine große Geschichte. Keine Polizei. Kein Abschiedsbrief. Nur das Ei auf dem Teller, das langsam kalt wurde.
Ich lege das Foto wieder zurück.
Auf dem Fensterbrett steht ein kleiner Keramikvogel. Er war in einem Karton auf dem Flohmarkt. Ganz hinten. Ohne Preis. Ich hab den Verkäufer gefragt, ob er ihn loswerden will. Der hat nur gesagt: „Der ist schon lange allein.“ Ich hab ihn mitgenommen.
Elias meldet sich nicht. Was auch immer das heißt. Ich weiß nicht mal, ob ich das will – ihn, oder seine Fragen, oder nur den Moment im Waschsalon, der wie ein Riss im Alltag war.
Ich ziehe die Vorhänge zu. Es ist heller draußen, als ich dachte. Ich mache das Licht an, obwohl es Tag ist.
Dann nehme ich den Vogel, stelle ihn mitten auf den Tisch, setze mich davor. Wie bei einem stillen Gespräch.
14:04 Uhr. Nichts ist schwerer als Luft, wenn sie sich füllt mit dem, was fehlt. Ich denke an das Ei auf dem Teller. Es war weichgekocht. So weich wie alles in mir an diesem Tag.
Ich bleibe lange sitzen. Rede nicht. Ich denke nicht. Ich lasse einfach zu, dass es so ist.
Vielleicht ist das genug für heute.
Die Stadt schläft nie gleichzeitig
Ich streife durch die Straßen, seit Stunden schon. Ohne Ziel. Nur weg vom Denken. Mein Atem bildet kleine Wolken in der kalten Luft, mein Schal riecht nach Waschmittel und Zigarrenrauch vom Kioskbesitzer unten an der Ecke.
Die Stadt ist wach. Nicht ganz, aber an den Rändern. Die Fenster flackern – Bildschirme, Nachtlichter, manchmal nur Schatten. Jemand telefoniert in einem Fensterrahmen im dritten Stock, wild gestikulierend, obwohl ihm niemand antwortet.
Ich liebe diese Stunden. Wenn man das Gefühl hat, man ist allein, aber gleichzeitig Teil von etwas, das größer ist als man selbst. Ein geheimer Pakt mit der Dunkelheit.
Ich komme an einem alten Kiosk vorbei. Der Rollladen ist halb runter, aber drinnen brennt noch Licht. Ich klopfe leicht. Eine Hand hebt sich. Der Mann hinter der Scheibe nickt nur, reicht mir wortlos ein kleines Paket durch den Schlitz. Keine Ahnung, warum. Ich nehme es. Zahle zwei Euro.
Drin ist ein zerknittertes Magazin von 2004 und eine kleine Spielkarte – Pik Acht. Ich stecke beides ein, ohne nachzufragen.
Ein paar Straßen weiter entdecke ich eine Mauer, die jemand mit Kreide bemalt hat: bunte Linien, Gesichter, Wörter. „Ich hab dich nie vergessen.“ steht da. Darunter ein kleiner Pfeil, der ins Leere zeigt. Ich grinse. Das könnte über fast alles stehen, was ich besitze.
In der Nähe des Kanals treffe ich auf einen Straßenmusiker. Er spielt auf einem verstimmten Cello. Keine Melodie, nur Töne. Tiefe, vibrierende, schleppende Töne. Ich bleibe stehen. Höre zu.
„Magst du Musik ohne Absicht?“, fragt er irgendwann, ohne mich anzusehen.
„Nur solche“, antworte ich.
Er nickt, spielt weiter.
Ich denke an Elias. Ob er auch unterwegs ist. Ob er jetzt irgendwo sitzt, in einem anderen Waschsalon, mit anderen Gedanken. Oder ob er schläft. Wahrscheinlich schläft er. So wie alle, die vergessen haben, wie man wacht.
Ich nehme einen Umweg nach Hause. Vor dem Hauseingang liegt eine einzelne Socke. Grau, mit blauer Spitze. Ich hebe sie auf, überlege kurz, stecke sie in meine Jackentasche. Vielleicht findet sie irgendwann ihr Gegenstück in meiner Waschmaschine.
Oben in der Wohnung ist alles, wie ich es verlassen habe: der Vogel auf dem Tisch, die Vorhänge halb zu, der Kühlschrank, der immer noch atmet.
Ich setze mich hin, ziehe mein Notizbuch näher.
2:19 Uhr. Die Stadt schläft nie gleichzeitig. Immer irgendwo ein Fenster, das blinzelt. Ein Ton, der nicht zu Ende geht. Ein Mensch, der noch nicht aufgibt.
Ich lege die Socke in die Kiste mit der Aufschrift Einzelgänger.
Daneben kommt die Pik Acht.
Dann lösche ich das Licht.
Und lausche.
Weil manchmal das Lauschen das Einzige ist, was noch bleibt.
Himmel über Beton
Ich treffe Elias wieder an einem Dienstag, als die Stadt nach Frühling riecht, obwohl es erst Februar ist. Die Sonne schafft es durch die grauen Wolken, aber sie wärmt nichts. Alles bleibt kalt, nur heller.
Er steht vor dem Bäcker an der Ecke, in der Hand eine Tüte mit zwei Croissants. Die Tüte ist fettig an der Seite. Ich mag das. Diese Ehrlichkeit von Fett auf Papier. Wir sagen gleichzeitig „Hey“. Es klingt fast wie ein Echo.
„Ich hab mir gedacht, du isst lieber das zweite“, sagt er.
Ich nehme es. Ohne Danke. Ohne Zögern.
„Wieso?“
„Weil du nie das erste willst.“
Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber es fühlt sich richtig an.
Wir setzen uns auf eine niedrige Betonmauer am Rand eines leeren Spielplatzes. Die Schaukel quietscht. Kein Kind weit und breit. Nur wir, zwei Erwachsene, die versuchen, keine zu sein.
„Du hast gesagt, du sammelst Fehler“, sage ich nach ein paar Bissen.
„Hab ich das?“
Ich nicke.
„Dann ist das hier einer“, meint er, deutet auf sich, dann auf mich, dann auf die leere Luft dazwischen.
Ich lache. Kurz, kratzig.
„Klingt wie ein Lied von Element of Crime.“
„Magst du die?“
„Nur die traurigen Lieder.“
„Also alle?“
Ich nicke wieder.
Ein Vogel landet vor unseren Füßen, pickt nach etwas Unsichtbarem. Elias schaut ihm lange nach. Dann sagt er:
„Ich hab mal gedacht, ich könnte jemand retten. Jemanden, der gar nicht gerettet werden wollte.“
„Und?“
„Ich hab’s trotzdem versucht.“
Ich beiße ins Croissant. Krümel auf meiner Jacke. Ich lass sie liegen. Ich will nicht ordentlich wirken. Nicht jetzt.
„Vielleicht ist das auch eine Form von Sammeln“, sage ich.
„Was?“
„Menschen, die nicht gerettet werden wollen.“
Er sieht mich an. Für einen Moment zu lang.
Dann sagt er nichts mehr.
Wir sitzen da, bis der Schatten der Schaukel über unsere Füße kriecht. Die Sonne ist schon halb verschwunden. Die Stadt atmet aus.
Später, zu Hause, finde ich ein altes Stück Pappe im Briefkasten. Jemand hat mit Filzstift darauf geschrieben: „Ich bin nicht weg. Nur woanders.“ Kein Absender. Kein Zusammenhang.
Ich klebe es an die Wand über dem Schreibtisch.
Dann schreibe ich:
17:41 Uhr. Himmel über Beton. Zwei Menschen auf einer Mauer. Ein Vogel. Ein Satz, der bleibt. Vielleicht ist Nähe nichts weiter als das Teilen eines Croissants ohne Fragen.
Ich esse das restliche Stück kalt, mit den Fingern.
Der Tag ist fast vorbei.
Aber er hat sich nicht angefühlt wie einer, den man sofort vergisst.
Ein Haus aus Papier
Ich treffe sie vor dem Supermarkt, die alte Frau mit dem zu großen Mantel und dem nervösen Blick. Sie steht da, als wüsste sie nicht mehr, warum sie losgegangen ist. Ihre Finger klammern sich an den Henkel eines Beutels, der fast leer ist.
„Soll ich helfen?“, frage ich, bevor mein Kopf mir sagen kann, dass ich eigentlich keine Energie für andere habe.
Sie schaut mich an, durch mich durch, als würde sie mich woanders suchen.
„Wenn du magst“, sagt sie.
Wir gehen gemeinsam die Straße runter, langsam. Ihre Knie machen komische Geräusche, meine Gedanken auch. Vor einem Haus bleibt sie stehen – Altbau, abgesackt, mit einem Windspiel aus Kronkorken über der Tür. Es klimpert. Leise. Fragil.
Drinnen riecht es nach Suppe. Und nach alten Zeitungen. Und irgendwie nach gestern. Die Wohnung ist vollgestellt mit Dingen, die niemand mehr braucht, aber sie hat ihnen Plätze gegeben. Kleine Altäre für das Vergangene.
„Setz dich ruhig“, sagt sie, und ich tue es. Ein Stuhl mit gestricktem Überzug, weich wie der Flaum an einem Pfirsich.
Sie serviert mir Tee, obwohl ich nicht darum gebeten habe. Kamillentee, leicht bitter.
„Du erinnerst mich an jemanden“, sagt sie.
„Wen?“
„Mich. Früher. Als ich noch gesammelt habe.“
Ich starre auf die Kommode hinter ihr. Da steht ein kleines Haus aus Papier. Sorgfältig gefaltet, bemalt, mit winzigen Fenstern. Es sieht aus, als könnte ein Windhauch es zerstören.
„Das hast du gemacht?“
Sie nickt. Dann lächelt sie.
„Jeder Mensch sollte ein Haus haben, das so leicht ist, dass er es mit sich tragen kann.“
Ich sage nichts. Ich will den Moment nicht stören.
Sie nimmt einen Löffel aus der Schublade, stellt ihn neben meine Tasse. Der Löffel ist verbogen, aber sauber. Ich streiche mit dem Daumen über das Metall. Kalt. Glatt. Echt.
Ich bleibe eine Stunde. Oder vielleicht zwei. Wir reden nicht viel. Und trotzdem ist da etwas wie Nähe. So, wie man sie nur spürt, wenn keiner versucht, sie zu erzwingen.
Beim Gehen drückt sie mir das Papierhaus in die Hand.
„Für später“, sagt sie.
Ich sage nicht danke. Ich nicke nur. Dann gehe ich.
Zuhause stelle ich es auf mein Regal, neben die Kiste Unwahrscheinlichkeiten. Daneben lege ich den Löffel.
20:38 Uhr. Heute ein Haus geschenkt bekommen, das aus nichts besteht als Falten und Farbe. Vielleicht reicht das. Vielleicht ist zuhause nicht, wo man wohnt – sondern wo jemand sagt: Setz dich ruhig.
Ich lösche das Licht. Und für einen Moment – einen kurzen, flimmernden Moment – fühlt sich alles leichter an.
Dinge, die niemand sieht
Ich laufe durch den Hinterhof, barfuß in alten Turnschuhen, die schon lange keinen Halt mehr geben. Der Boden ist noch feucht vom nächtlichen Regen. Zwischen den Pflasterfugen wachsen kleine Gräser, Moos, Müll. Ich mag diesen Ort. Niemand schaut hin. Niemand hebt hier etwas auf. Genau deshalb komme ich.
Ein zerbrochener Bilderrahmen liegt am Rand der Mülltonnen. Ohne Bild. Nur das Glas ist noch da, gesprungen. Ich nehme ihn vorsichtig, lege ihn in meinen Beutel. Daneben: ein Knopf – durchscheinend, mit goldenem Rand. Wahrscheinlich von einem Mantel, der mal wichtig war.
Ich finde:
– Einen zerquetschten Lippenpflegestift
– Eine Spielkarte – Kreuz Sieben, leicht angebrannt
– Eine Zeitung von gestern, eingerollt, in rotem Gummi
– Eine Brosche in Form eines kleinen Apfels, Emaille, angeschlagen
– Und ein eingerissenes Foto von einem Kind mit Schirmmütze. Nur die Hälfte des Gesichts ist noch da.
Ich nehme alles mit. Wie immer.
Zuhause breite ich die Dinge auf dem Küchentisch aus. Ich sortiere nicht. Ich lasse sie atmen. Ich stelle mir vor, was sie mal waren – nicht was sie sind. Ich gebe ihnen Raum.
In der Küche tropft der Wasserhahn. Unregelmäßig. Wie ein Code. Vielleicht sagen mir die Tropfen etwas. Vielleicht bin ich die Einzige, die sie hört.
Ich nehme die Spielkarte und stecke sie zu den anderen in die Kiste Spuren. Dann halte ich das eingerissene Foto in der Hand. Das Kind sieht traurig aus. Oder einfach abwesend. Ich kann es nicht genau sagen.
Ich denke an Elias. Ob er mich sucht. Oder schon aufgegeben hat. Oder gar nicht angefangen. Vielleicht bin ich auch nur eine von seinen halben Karten. Ein Spiel, das er nicht zu Ende spielt.
Ich nehme mein Notizbuch, schreibe:
13:11 Uhr. Die meisten Dinge, die ich finde, wurden nicht verloren. Sie wurden vergessen. Und das ist schlimmer. Vergessen heißt: keiner sucht mehr.
Ich klebe das Kindergesicht an die Wand neben mein Bett. Nur zur Hälfte. Den Rest denke ich mir dazu.
Und während ich die Zeitung ausrolle, fällt ein Zettel heraus. Handschriftlich. Nur ein Satz:
„Ich hab versucht, leise zu gehen.“
Ich bleibe lange sitzen. Schaue die Dinge an. Höre dem Wasser zu.
Und denke: vielleicht war das der lauteste Abschied von allen.
Wenn du nichts sagst
Elias steht vor meiner Tür, als hätte er gewusst, dass ich heute nicht reden will. Seine Hände sind in den Taschen vergraben, sein Blick streift an mir vorbei, als wäre ich nur Zwischenstation auf dem Weg zu etwas anderem. Oder zu sich selbst.
Ich lasse ihn rein. Kein Hallo. Kein „Wie geht’s dir?“ Einfach der leere Flur, der uns beide schluckt.
Er setzt sich auf den Küchenstuhl, den mit dem lockeren Bein. Ich lehne mich an die Wand, den Rücken gegen das Regal, in dem die Dinge flüstern, wenn es still genug ist.
„Ich hab gestern versucht, jemanden anzurufen“, sagt er.
Ich sage nichts.
„Aber ich hab die Nummer nicht mehr gehabt. Vielleicht auch nie gehabt.“
Ich nicke. Weiß nicht, ob er mich meint. Vielleicht ja. Vielleicht nicht.
Er schaut auf den Tisch. Auf das eingerissene Kindergesicht. Auf die Brosche in Apfelform. Auf den Knopf.
„Du gibst allem Platz“, sagt er leise.
Ich hebe die Schultern.
„Ich kann das nicht. Bei mir ist alles zu eng. Im Kopf, im Zimmer, im Herz.“
Ich setze mich ihm gegenüber. Nehme die Spielkarte, halte sie zwischen uns.
„Du hast gesagt, du sammelst Fehler“, sage ich.
Er nickt.
„Und? Ich auch.“
Dann passiert lange nichts. Nur das leise Knacken der Heizung. Und draußen ein Hund, der irgendwo gegen die Einsamkeit bellt.
„Weißt du noch, der Tag im Waschsalon?“ frage ich.
„Ja.“
„Das war kein Fehler.“
Er schaut mich an. Sein Blick ist müde. Aber wach genug, um zu verletzen.
„Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll, Naura.“
Ich lache, obwohl es zieht im Hals.
„Ich bin kein Projekt. Kein Möbelstück. Ich brauch keinen Platz in deinem Leben. Ich will nur, dass du bleibst, wenn du da bist.“
Er steht auf. Geht ein paar Schritte. Bleibt stehen.
„Ich hab Angst, dass ich dich verliere, bevor ich weiß, wer du bist.“
Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Ich will nicht.
Ich sehe ihn an. Länger als nötig. Kürzer als ich sollte.
Dann sagt er:
„Manchmal ist Schweigen auch ein Ja.“
Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist grau. Kein Licht. Nur gleichmäßiges Nichts.
15:47 Uhr. Er war da. Und ich auch. Wir haben uns nicht verstanden. Und trotzdem verstanden. Vielleicht ist das Nähe: Zwei Menschen, die sich nebeneinander nicht verlieren.
Er geht. Ohne Türknallen. Ohne Versprechen.
Ich bleibe sitzen.
Und atme weiter.
Fremde Zimmer
Ich wache auf in einem Bett, das nicht meines ist. Der Geruch ist anders – nach Pfefferminze, alten Vorhängen und einem fremden Waschmittel. Ich liege auf der Seite, angezogen, halb unter einer kratzigen Decke. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigt 06:23. Neben dem Wecker: ein Glas Wasser, halb leer. Ein Ohrstöpsel, einsam. Und eine Brosche in Form eines Schmetterlings.
Ich setze mich auf. Mein Kopf ist schwer, aber nicht betrunken. Nur überladen. Ich taste nach meinen Sachen. Alles da. Auch mein Beutel mit den Fundstücken. Ich atme durch.
Nebenan läuft leise Musik. Ich erkenne sie nicht. Vielleicht ein französischer Radiosender, vielleicht eine Playlist mit dem Titel Lonely Mornings Vol. 3. Ich gehe barfuß zur Tür, schaue in den Flur. Niemand.
Er war da. Jetzt nicht mehr.
Elias.
Seine Wohnung ist aufgeräumt, fast steril. Zu viel Leere zwischen den Dingen. Kein Chaos, keine Kisten, keine Erinnerungen. An der Wand hängen drei Schwarzweißfotos. Kein Mensch drauf. Nur Nebel. Wald. Wasser. So sieht es wahrscheinlich in seinem Kopf aus.
Ich finde Zettel auf dem Küchentisch. Handschriftlich. Kein Brief. Nur Gedanken.
„Ich weiß nicht, wie man bleibt, ohne zu verschwinden.“
„Sie sammelt Dinge. Ich verliere sie.“
Ich nehme einen Schluck kaltes Wasser aus dem Glas neben dem Bett. Der Schmetterlingsbrosche gilt mein Blick. Ich streiche mit dem Daumen darüber. Sie ist schwerer, als ich dachte. Alt vielleicht. Oder nur traurig.
Ich gehe, ohne etwas zu hinterlassen. Kein Zettel. Kein Zeichen. Nur mein Atem in seinem Zimmer, für ein paar Stunden, vielleicht.
Zuhause fühlt sich alles dumpfer an. Selbst der Vogel auf dem Tisch wirkt weniger lebendig. Ich stelle die Schmetterlingsbrosche neben den Keramikvogel. Zwei Wesen mit Flügeln, die nicht mehr fliegen.
Dann schreibe ich:
06:58 Uhr. Ich war in seinem Zimmer. Und hab mich fremd gefühlt. Manchmal reicht das: ein Morgenlicht, ein Satz auf einem Tisch, ein Stück Metall, das wie Flucht aussieht.
Ich lege mich wieder hin. In mein eigenes Bett. Ziehe die Decke bis über die Schultern. Und warte auf den Moment, in dem alles wieder nach mir riecht.
Der Tag, an dem der Regen nicht aufhörte
Es regnet, als hätte jemand beschlossen, alles zu übertreiben. Kein Sommerregen, kein kurzer Guss – sondern dieser durchdringende, monotone, tropfende Regen, der die Stadt in Watte und Blei wickelt. Ich sitze im Bus. Linie 140. Der Scheibenwischer schmiert mehr, als er wischt.
Ich bin auf dem Weg zu einer Beerdigung. Nicht für jemanden, den ich wirklich kannte. Eine Nachbarin aus dem Haus gegenüber. Wir haben uns oft gesehen, nie gesprochen. Sie hat immer rote Schuhe getragen. Und einen Dackel gehabt, der mehr gehustet als gebellt hat. Jetzt ist sie tot, und ich weiß nicht, warum ich hingehe. Vielleicht weil jemand hingehen muss.
Auf dem Friedhof stehen sieben Menschen im Niesel. Der Pfarrer ist jung, die Stimme unsicher. Zwei der Anwesenden nicken bei jeder Zeile. Ich nicht. Ich starre auf den Sarg. Er wirkt zu klein für jemanden, der so oft das Fenster offen hatte.
Nach der Zeremonie gibt es Kaffee in einem Gemeindehaus mit hässlichen Plastikstühlen. Ich nehme eine Tasse, setze mich an den Rand. Niemand redet mit mir. Ich beobachte, wie eine ältere Frau ein Stück Käsekuchen mit zitternden Fingern isst, als wäre das ihr einziger Trost.
Ich gehe früher. Draußen hat der Regen nicht aufgehört. Im Gegenteil. Er ist jetzt nicht nur nass, sondern auch wütend. Ich ziehe die Kapuze tief ins Gesicht und laufe einfach drauflos. Keine Richtung, kein Plan.
In einer Pfütze schwimmt ein Stück Papier. Ich ziehe es raus, vorsichtig, lege es in meine Tasche. Zuhause trockne ich es auf der Heizung. Es ist ein Einkaufszettel. Schon wieder.
„Zucker, Hefe, Hoffnung.“ steht da. Die Schrift klein, gedrängt, fast panisch.
Ich nehme mein Notizbuch, schreibe:
15:22 Uhr. Heute jemand verabschiedet, den ich nie begrüßt habe. Regen, der alles bedeckt. Menschen, die schweigen, weil sie nichts mehr sagen wollen. Ich war da. Vielleicht reicht das.
Ich klebe den Zettel auf die Rückseite einer alten Rechnung. Dann lege ich beides in die Kiste Verpasste Momente.
Ich höre den Regen. Ich höre lange nichts anderes.
Und das ist gut so.
Riss im Licht
Der Brief liegt zwischen alten Postkarten und Werbeflyern, fast übersehen. Nur die Handschrift auf dem Umschlag hält mich auf – eckig, zittrig, vertraut. „An Naura“, steht da. Keine Adresse, kein Absender. Nur mein Name.
Ich sitze lange davor, als hätte ich Angst, etwas aufzubrechen, das längst geschlossen gehört. Dann reiße ich ihn auf. Vorsichtig, aber ohne Zögern.
Das Papier ist dünn, fast durchsichtig. Der Text kurz.
„Ich weiß nicht, ob ich dich je erreicht habe. Aber falls ja – ich wollte, dass du weißt: Ich bin nie gegangen, weil du falsch warst. Ich bin gegangen, weil ich es war. Deine Mutter.“
Kein Datum. Kein weiteres Wort.
Ich lese ihn viermal. Fünfmal. Dann halte ich ihn ans Fenster. Das Licht bricht sich im Papier wie in einem Riss. Ich sehe meine Hände durch den Brief hindurch. Als wäre da nichts – und alles.
Ich setze mich an den Boden, ziehe die Beine an, halte das Papier fest wie ein Stück Haut, das sich ablösen könnte. In meinem Kopf taucht das Ei auf. Der gedeckte Tisch. Die Tür, die nie wieder aufging. Ich war sieben. Oder acht. Vielleicht auch älter, als ich dachte.
Ich stehe irgendwann auf, schiebe das Fenster auf. Die Luft draußen ist kühl, klar, riecht nach Metall und erster Blüte. Frühling, der sich reinschleicht, obwohl noch alles grau ist.
Ich nehme den Keramikvogel vom Tisch, halte ihn an die Brust. Dann den Brief dazu.
18:09 Uhr. Heute kam ein Riss ins Licht. Und ich hab ihn nicht weggeschoben. Vielleicht ist Liebe genau das: etwas festhalten, obwohl es durchlässig ist.
Ich klebe den Brief nicht ein. Ich rahme ihn auch nicht. Ich lege ihn einfach auf den Stuhl am Fenster.
Und schaue zu, wie das Licht langsam wandert.
Und wenn wir fallen
Ich stehe auf dem Dach. Nicht dramatisch. Keine Absicht. Nur da. Meine Füße auf rauem Beton, der Wind zieht am Saum meines Pullovers. Die Stadt liegt unter mir, schläfrig, gedämpft. Kein Sonnenuntergang, keine Bühne. Nur Häuser, Wäscheleinen, Antennen. Und irgendwo ein Hund, der bellt, ohne Grund.
Ich atme. Tief. Langsam. Es riecht nach Ruß und feuchter Erde. Irgendwo wird gekocht – Zwiebeln, vielleicht Knoblauch. Alltag. Leben.
Neben mir liegt der Brief meiner Mutter. Ich habe ihn nicht zerrissen. Nicht eingerahmt. Ich habe ihn mitgenommen. So wie er ist. Zerbrechlich und echt.
Ich denke an Elias. An den Stuhl im Waschsalon. An das Croissant, das nie ganz warm war. An den Satz: „Ich weiß nicht, wie man bleibt, ohne zu verschwinden.“
Ich glaube, ich weiß es jetzt.
Man bleibt nicht durch Worte. Nicht durch Nähe. Man bleibt, indem man da ist, wenn niemand schaut.
Unter meinen Schuhen bröckelt der Putz. Ein kleiner Brocken fällt und landet auf einem Vordach. Leise. Fast elegant. Ich stelle mir vor, wie es wäre, zu springen. Nicht, um zu sterben. Sondern um zu fliegen. Nur einen Moment. Nur um zu spüren, dass es geht.
Aber ich bleibe stehen.
Ich schaue hoch. Der Himmel ist nicht blau. Auch nicht grau. Er ist einfach da – weit, indifferent, offen. Wie ich.
Ich setze mich. Die Beine baumeln über der Kante. Neben mir: der Keramikvogel. Ich habe ihn mitgebracht. Er passt hierher.
Ich nehme mein Notizbuch, schreibe die letzte Seite voll:
20:23 Uhr. Vielleicht ist Fallen nicht das Gegenteil von Halten. Vielleicht ist es nur die andere Seite. Die, auf der man endlich loslässt. Und merkt, dass man fliegt. Nur ein Stück. Nur einmal. Aber genug.
Ich lasse das Notizbuch neben mir liegen. Es wird nicht wegfliegen. Es gehört hierher.
Ich bleibe noch, bis es dunkel wird.
Dann stehe ich auf.
Und gehe wieder runter.