CLOE – Kein Licht ohne Schatten

Kapitel 1 – Das Glühen der Straßen
Der Asphalt glänzt noch vom Regen. Nicht viel, nur ein Film, wie Schweiß auf Stirnhaut. Cloe läuft barfuß über den warmen Beton, High Heels in der Hand, und irgendwo dröhnt Musik aus einer Bar, die keinen Namen trägt. Eine dieser Gassen, wo das Licht nicht gerade fällt, sondern schräg, wie durch einen schmutzigen Spiegel.
Sie trägt ihr Hemd offen. Nicht weit. Aber genug, dass man hinschaut. Genug, dass keiner fragt, wie spät es ist. In den Schatten sieht niemand genau hin. Das ist ihr Vorteil.
Zwei Straßen weiter: rote Neonzeichen flackern. Ein Sushi-Laden, der nie Sushi hat. Sie kennt den Besitzer. Früher hat er Karten gelegt, jetzt legt er sich mit Lieferando an.
Ihr Handy vibriert.
Keine Nachricht. Nur ein verpasster Anruf. Unbekannt. Keine Nummer. Kein Rückruf möglich.
Sie hält inne. Die Geräusche der Stadt verlangsamen sich, wie durch dicken Nebel. Metall auf Metall. Ein Motorrad in der Ferne. Ein dumpfer Bassschlag aus dem Hinterhof.
„Cloe.“
Sie dreht sich um.
Niemand da.
Wieder dieses Flimmern, das sie kennt. Wenn etwas nicht stimmt. Wenn die Luft zu warm ist für April. Wenn ein Schatten sich zu lange nicht bewegt.
Sie geht weiter. Fast beiläufig. Als wäre alles normal. Als hätte sie sich das eingebildet.
Zwei Minuten später steht sie vor ihrer Tür. Dritte Etage, Fenster zum Hof, das Summen der Neonröhren wie ein Insekt im Ohr. Schlüssel rein. Drehen.
Es riecht nach Metall. Und ganz schwach nach Parfüm. Nicht ihres.
Der Spiegel im Flur zeigt sie mit wachem Blick. Kein Schweiß, keine Verwundbarkeit. Nur dieses leichte Zittern am linken Ringfinger. Unmerklich. Außer man weiß, worauf man achten muss.
Cloe lehnt sich gegen die Wand, schließt die Augen.
Dann klingelt das Telefon. Das Festnetz.
Sie hebt nicht ab.
Sie weiß, dass sie gemeint ist.
Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, dumpf, wie ein Atemzug, den niemand hört. Kein Einrasten. Der Riegel klemmt. Sie muss ihn von innen nachschieben.
Die Wohnung ist klein. Zwei Räume, Küche mit schiefer Tür, Bad mit einem Licht, das seit Wochen flackert. Cloe hat es nie repariert. Man gewöhnt sich an die Unruhe, wenn sie regelmäßig ist.
Der Flur ist eng. Links ein schiefer Spiegel mit Sprung, als hätte jemand versucht, sich selbst herauszuschneiden. Darunter eine Kommode, abgeblättert, auf der ein leerer Aschenbecher steht – obwohl sie nicht mehr raucht. Daneben ein Zettel mit einer Telefonnummer, durchgestrichen.
Sie tritt aus den Schuhen, geht barfuß weiter, die Holzdielen unter ihren Füßen geben leicht nach, und irgendwo knarzt etwas – als würde ein anderer Schritt folgen, halben Takt hinter ihr.
Das Wohnzimmer ist halb im Dunkeln. Nur die Lichtstreifen der Reklame von draußen zucken durch die schmalen Fenster. Rote, blaue, grüne Schatten auf der Wand. Als würde das Licht Geschichten erzählen, die sie nicht hören will.
Ein alter Plattenspieler steht auf der Fensterbank. Staub auf dem Deckel. Die letzte Platte: Nina Simone, „Don’t Let Me Be Misunderstood“. Steckt noch drin.
Auf dem kleinen Tisch: ein leerer Kaffeebecher, ein Notizbuch, Seiten herausgerissen.
Die Couch: durchgesessen. Grauer Stoff, Flecken, die man nicht mehr rauskriegt. In der Ecke liegt ein zerknülltes T-Shirt, das nicht ihres ist.
Sie bleibt stehen. Lauscht. Der Kühlschrank brummt, als hätte er Atem. Das Fenster klappert leise. Und irgendwo, ganz undeutlich, ein Summen.
Die Luft ist elektrisch. Eine Spannung, die sich nicht entlädt. Als wäre etwas da, was sich nicht zeigen will.
Sie geht ins Schlafzimmer. Öffnet den Schrank. Nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Instinkt.
Nichts fehlt.
Aber etwas ist anders.
Ihr rotes Kleid hängt jetzt ganz rechts. Und sie ist sich sicher – gestern war es in der Mitte.
Sie schließt den Schrank. Langsam. Dann geht sie zurück in den Flur.
Das Telefon klingelt wieder.
Langsam.
Unaufdringlich.
Beharrlich.
Cloe sieht den Hörer an, als könnte der Apparat etwas verraten. Dann nimmt sie ihn ab.
Nichts. Nur ein Atemzug.
Kein Rauschen, kein Knacken. Nur ein menschlicher Hauch, der bleibt.
Dann: Klick.
Aufgelegt.
Sie bleibt noch lange stehen. Und fragt sich nicht, wer das war. Sondern warum jetzt.
Kapitel 2 – Stimmen durch Beton
Ich lag nicht wach. Ich war nur nicht eingeschlafen.
Die Nacht hing schwer über der Stadt, wie eine zu enge Decke, in der man sich verheddert. Die Geräusche draußen – irgendwo entferntes Lachen, ein klirrendes Glas, ein Motor, der aufheult und dann versickert. Dazwischen: diese Stille, die nicht leer ist, sondern vollgestopft mit allem, was man nicht denkt.
Mein Kopf lag auf dem kühlen Bezug. Fenster offen, ein leiser Luftzug strich über meine Schulter. Ich hätte schlafen sollen. Aber in meinem Körper war kein Schlaf mehr. Nur dieses Warten. Ohne Richtung.
Gegen drei hörte ich es zum ersten Mal.
Ein leises Schleifen. Kein Kratzen, nichts Grelles. Nur so, als würde jemand über Beton gehen. Langsam. Unsicher. Und dann wieder nichts.
Ich stand auf, vorsichtig, als könnte ich etwas verscheuchen. Ging in den Flur, barfuß, die Dielen unter mir wie Membran. Nichts. Die Tür war verschlossen. Fenster zu. Aber der Geruch war da – etwas Metallisches, fremd, kaum merklich.
In der Küche: eine Tasse auf dem Tisch. Ich hatte sie nicht rausgestellt. Ich war mir sicher. Es war nicht mal meine Tasse.
Ich nahm sie in die Hand. Noch warm.
Mein Herz schlug jetzt schneller. Nicht aus Angst – Angst ist konkret. Das hier war anders. Wie der Moment kurz vor einem Stromausfall. Wenn alles noch da ist, aber schon zuckt.
Ich holte das Messer aus der Besteckschublade. Nicht aus Paranoia. Nur… Vorsicht.
Dann ging ich durch die Räume. Langsam. Tür für Tür. Kein Fenster offen. Kein Schloss geknackt. Und doch – da war jemand gewesen. Ich fühlte es in meinem Nacken, als würde mich eine Erinnerung berühren, die nicht meine war.
Im Badezimmer flackerte das Licht wieder auf. Ich sah mich im Spiegel.
Nur mein Gesicht. Müde, aber klar.
Dann ein Flüstern.
Keine Stimme. Kein Satz.
Nur ein Wort, fast zu leise, um es zu verstehen:
„Warum?“
Ich drehte mich um.
Niemand da.
Doch als ich wieder in den Spiegel sah –
war mein rotes Kleid verschwunden.
Kapitel 3 – Der Mann im weißen Mantel
Der Morgen kam wie ein Fremder, der klopft, aber nicht wartet.
Ich zog mir den Mantel über, den dunklen – den ohne Aufnäher, ohne Geschichte. Haare in den Kragen, Sonnenbrille tief. Ich hatte nichts geplant. Aber ich ging raus. Manchmal ist Gehen die einzige Bewegung, die nicht auffällt.
Die Stadt war zu wach. Zu laut. Und ich zu dünnhäutig.
Unten, an der Ampel vor dem Bäcker, stand er. Weißer Mantel, glatt, fast klinisch. Glänzte, obwohl die Sonne kaum durchkam. Keine Tasche. Kein Handy. Nur dieser Blick. Geradeaus. In die Menge, nicht auf mich. Aber zu lange. Zu ruhig.
Ich wechselte die Straßenseite.
Zwei Minuten später drehte ich mich um.
Er ging. Nicht direkt hinter mir. Aber nah genug.
Ich testete es. Erst langsam. Dann schneller. Zwei Gassen, einmal über den Platz beim Kino, dann runter zum Kanal. Kein Touristenwinkel, kein Spazierweg. Nur rostiger Zaun, Algen, nasser Beton.
Ich blieb stehen. Drehte mich um.
Niemand.
Ich lehnte mich gegen das Gitter, atmete flach. Hielt die Augen geschlossen, als könnte ich die Richtung der Gedanken fühlen, die hinter mir lauerten.
Dann hörte ich Schritte.
Nicht schnell. Nicht eilig.
Einfach… da.
Ich machte den Fehler, nicht sofort zu sehen. Ich wartete. Lauschte.
Und dann: dieser Schatten. Eine Bewegung, genau am Rand meines Blickfelds. Nicht laut. Nicht versteckt. Nur gerade da.
Ich ging zurück, stieg in die Bahn. Linie 4 Richtung Osten, Endstation. Ich hatte keinen Grund. Nur das Bedürfnis, Bewegung zu behalten. Wenn du still stehst, finden sie dich.
Im Fenster spiegelte sich mein Gesicht – und hinter mir ein weißer Punkt. Ganz klein. Ganz ruhig.
Er war eingestiegen.
Ich stand auf, wechselte den Waggon.
Er nicht.
Aber als ich eine Station später ausstieg, war er wieder hinter mir. Nicht nah. Aber da.
Ich ging in einen Spätkauf. Kaufte Zigaretten, obwohl ich nicht rauchte. Nur, um Zeit zu schinden. Als ich raus kam –
stand er gegenüber, unter der Reklametafel. Schaute nicht zu mir.
Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gesehen.
Zog den Kragen höher. Ging weiter. Nur zwei Blocks.
Dann bog ich ab, verschwand in einem Hof mit drei Ausgängen, alt, verwinkelt, voller Graffiti.
Ich wartete.
Drei Minuten. Fünf.
Er kam nicht.
Nur ein Windstoß. Und auf dem Boden: ein weißes Blatt Papier, das sich unter meinen Schuh schob.
Ich hob es auf.
Nur ein Satz, in Schreibmaschinenschrift:
„Du warst nicht allein in dieser Wohnung.“
Kapitel 4 – Tiefer als Neonlicht
Ich saß später in der Küche, Licht aus, nur die Straßenlaterne warf ein zittriges Quadrat auf den Boden. Das Papier lag vor mir auf dem Tisch. Ich hatte es nicht zerknüllt, nicht verbrannt. Ich ließ es da. Wie ein Tier, das man nicht verscheucht, weil man wissen will, ob es zurückkommt.
Der Kaffee war kalt. Das Herz unruhig. Ich hörte wieder das Schleifen in den Wänden – oder in mir.
Ich schloss die Augen. Und sofort war ich wieder da.
Nicht real, nicht träumend. Irgendwo dazwischen.
Die Musik war dumpf, als käme sie durch Wasser. Ich stand hinter dem Tresen, die Hände auf dem Glas, Lippen rot, das Kleid zu kurz für Sicherheit. Der Club hieß Anaïs. Niemand sprach den Namen laut aus.
Sasha stand an der Wand. Zigarette in der Hand, Blick unter dem Pony hervor. Schwarz auf Schwarz, nur ein silbernes Armband. Immer dasselbe.
Sie war mein Rückgrat. Mein Echo. Sie sagte nie zu viel, aber wenn, dann stimmte es. Wir arbeiteten für jemanden, den wir nie ganz gesehen haben. Nur gehört. Eine Stimme über Lautsprecher. Anweisungen. Treffpunkte. Fragen. Und dann: Menschen.
Wir gaben ihnen Geschichten. Falsche. Wahre. Meist irgendwas dazwischen.
Ich erinnere mich an einen Abend, da lag ihre Hand auf meinem Rücken, flach, ruhig. Wir waren eng. Aber nie gleich. Sie war schneller, schärfer, kühler.
Dann war sie weg.
Kein Zettel. Kein Abschied. Nur das Armband – auf meinem Kopfkissen.
Ein Klirren riss mich zurück. Draußen auf der Straße fuhr ein Müllwagen vorbei. Ich schob den Stuhl zurück. Stand auf.
Der weiße Mantel. Der Satz. Das Gefühl, dass sich etwas nähert. Nicht wie ein Mensch. Eher wie ein System, das warm läuft.
Ich zog mir Jeans und Pullover an, steckte das Papier ein, nahm meinen Schlüssel und ging raus.
Keine Verabredung. Kein Ziel. Nur dieses Ziehen im Bauch.
Draußen roch es nach Regen, der nicht kam.
Ich bog in die Straße beim alten Fotoladen, wo früher die illegalen Pässe gemacht wurden. Da war eine Tür mit einem zerkratzten Klingelschild. Drei Namen durchgestrichen, der vierte verwischt.
Ich klingelte nicht.
Ich klopfte. Zwei Mal. Pause. Dann drei.
Wie früher.
Drinnen regte sich nichts. Aber ein paar Sekunden später hörte ich das Summen. Tür auf.
Ich trat ein.
Und wusste: wenn ich durch diese Tür gehe, gibt es kein Zurück mehr.
Nicht in diese Wohnung.
Nicht in das, was davor war.
Kapitel 5 – Auf Null zurück
Der Flur roch nach Lack und abgestandener Luft. Alte Kacheln, gelblich, als hätte jemand versucht, etwas abzuwaschen, was nicht weggeht. Es war still. Keine Musik, kein Fernseher. Nur mein Atem und das leise Summen der Neonröhre an der Decke – unruhig, wie ein Insekt vor dem Tod.
Ich ging die Stufen hoch, dritter Stock, Tür mit abgebrochener Türklinke. Ich klopfte nicht. Ich legte die Hand auf das Holz, spürte die Kälte, das Gewicht dahinter. Dann schob ich sie auf.
Der Raum war fast leer. Nur ein Stuhl, ein Tisch, ein Bildschirm. Kein Fenster. Nur eine alte Lampe mit nackter Glühbirne. Und hinter dem Tisch: Rami.
Er hatte sich kaum verändert. Grau um die Schläfen, Bart kürzer. Aber derselbe Blick – wie jemand, der immer zwei Sekunden voraus ist.
„Du solltest nicht hier sein,“ sagte er, ohne aufzusehen.
„Dann haben wir was gemeinsam.“
Ich schob mich an die Wand, setzte mich auf den Boden. Der Stuhl war sein. Immer gewesen. So lief das bei uns. Jeder an seinem Platz.
Er schaltete den Monitor aus. Schwarz. Kein Standbild, kein Passwortfeld. Nur Schwarz.
„Sasha?“, fragte ich.
„Verschwunden.“
„Du weißt mehr.“
Er rieb sich die Stirn. „Sie war… tiefer drin, als wir dachten. Du auch.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin raus. Schon lange.“
„Niemand ist raus. Nicht wirklich.“
Dann schob er mir einen Umschlag zu. Dünn, vergilbt. Ich öffnete ihn. Darin: ein Foto. Verschwommen, pixelig. Sasha, auf einer Überwachungskamera. Blick zur Seite, Haare kürzer. Kleidung zu sauber, zu korrekt. Und hinter ihr – ein Gebäude. Beton, keine Fenster. Nummer an der Wand: 42A.
„Was ist das?“
„Ein Ort, den du meiden solltest.“
Ich stand auf. „Dann sag mir, was ich dort finde.“
„Vielleicht dich.“
Er sagte es ruhig. Ohne Blickspiel. Ohne Bedeutung aufzublasen.
„Und du?“
„Ich bin tot, wenn du gehst.“
Ich nickte.
„Ich auch.“
Dann ging ich. Kein Handschlag. Kein Abschied. Nur dieses Gefühl im Rücken, dass ich beobachtet werde. Wieder.
Draußen brannte das Licht schräg durchs Blätterwerk, grau und warm zugleich. Ich steckte das Foto ein, roch an meiner Jacke – fremder Geruch. Ich wusste, dass ich verfolgt wurde. Aber ich wusste nicht, von wem.
Ich nahm die Linie 7 Richtung Nordrand. Der Bezirk, den keiner mehr nennt. Dort, wo Gebäude keine Namen mehr haben. Nur Nummern.
42A.
Ich wusste, dass ich Sasha nicht allein suchen konnte. Aber ich wusste auch: Niemand anders wird es tun.
Und wenn ich wirklich Teil von etwas war – dann wollte ich es jetzt wissen.
Oder untergehen.
Kapitel 6 – Verschwundene Gesichter
Der Bus fuhr nicht bis zur Endstation. Der Fahrer drehte sich um, bevor wir den letzten Kreisverkehr erreichten. „Letzte Haltestelle“, sagte er. Keine Erklärung. Keine Ausrede. Ich war die Letzte.
Ich stieg aus, stand auf dem Schotter eines verlassenen Gewerbegebiets. Wind zerrte an den alten Bannern, die an einem Zaun hingen – Werbung für Firmen, die es nicht mehr gab. Alles war flach hier, als hätte jemand die Stadt mit einer Handkante geglättet. Keine Farbe, kein Leben.
Ich ging zu Fuß weiter. Drei Blocks. Keine Menschen. Nur ein Hund, der mich aus sicherer Entfernung beobachtete. Und irgendwann: das Gebäude.
42A.
Beton. Glatt, als wär’s mit Absicht vergessen worden. Einziger Eingang: eine Tür aus Metall ohne Klingel. Davor ein kleiner Kontrollkasten, alt, mechanisch. Ich legte die Hand darauf – kein Signal, kein Summen. Nur ein flüchtiger Widerstand, wie Haut auf Haut. Dann: ein leises Klicken.
Die Tür öffnete sich nicht. Aber der Spalt daneben – da war Luft. Bewegung. Ich drückte dagegen.
Drinnen: kühle Flure, bläulich. Keine Fenster. Nur Lichtbänder an der Decke, schwach flackernd. Es roch nach altem Papier, nach Gummi und einem Hauch von Desinfektion.
Ich folgte dem Gang, bog zwei Mal ab, immer dem Licht nach. Kein Schild. Keine Karte. Aber das Gefühl, dass ich erwartet werde.
Ein Raum war offen. Ich trat ein.
An der Wand: Fotos. Keine Rahmen. Nur mit Reißzwecken befestigt. Reihenweise Gesichter. Schwarzweiß. Blass. Manche verschwommen, andere gestochen scharf. Alle mit dem gleichen Blick – starr, ein bisschen erschrocken.
Und mittendrin: Sasha. Vier Mal. Verschiedene Perspektiven. Verschiedene Haarlängen. Aber immer sie.
Ich trat näher.
Dann sah ich mich.
Zweimal.
Ein Bild kann lügen. Oder es sagt, was du verdrängt hast.
Ich trat zurück. Atmete flach. Die Luft war schwerer geworden.
Hinter mir knarrte eine Tür.
Ich fuhr herum.
Da stand ein Mädchen. Vielleicht zwanzig. Blasses Gesicht, dunkle Locken, zu große Augen. Sie sagte nichts. Nur dieser Blick – als hätte sie mich schon lange gekannt.
„Bist du Cloe?“, fragte sie dann.
Ich nickte.
„Dann bist du zu spät.“
„Zu was?“
„Zum Erinnern.“
Sie trat zur Seite und zeigte auf den Flur.
„Sie haben sie schon mitgenommen.“
„Wohin?“
„Dorthin, wo man vergessen wird.“
Ich wollte mehr sagen, aber sie war schon gegangen.
Nur ihr Geruch blieb – nach Shampoo, Eisen, und irgendetwas Verlorenem.
Kapitel 7 – Atem im Nacken
Ich rannte nicht. Ich ging schnell. Schritt um Schritt, als könnte ich den Weg aufrollen, den Sasha genommen hatte. Doch der Flur war nicht mehr derselbe. Türen, die eben noch da waren, hatten keine Klinken mehr. Der Grundriss war verschoben, als hätte jemand das Gebäude nachgebaut – aus Erinnerung, nicht aus Bauplänen.
Ich kam an eine Kreuzung. Keine Schilder. Nur ein Summen, leise, wie von alten Servern. Rechts lag Dunkelheit. Links: Licht, das flackerte, wie ein Herz, das nicht mehr weiß, ob es schlagen will.
Ich nahm den linken Gang.
Er führte in eine Art Lagerraum. Regale mit Kartons. Namen auf Etiketten, durchgestrichen. Ordner, durchnummeriert. Manche offen, lose Seiten, teils handschriftlich. Ich blätterte durch einen.
Fall 014-C.
Testreihe abgeschlossen.
Subjekt: C.L.
Status: instabil.
Gedächtnisinterferenzen fortgeschritten.
Interne Bindung zu 014-S dokumentiert. Trennung empfohlen.
Ich ließ die Seite sinken.
C.L.
Sasha war 014-S.
Ich war 014-C.
Ich war nicht Beobachterin. Ich war Teil. Eine Figur, nicht nur im Bild, sondern im Plan.
Plötzlich hörte ich etwas. Kein Schritt. Kein Geräusch. Nur eine Veränderung im Druck der Luft. Ein minimaler Temperaturabfall.
Atem.
Ich drehte mich um. Langsam. Die Haut an meinem Rücken zog sich zusammen. Da war niemand. Aber ich fühlte ihn. Direkt hinter mir. Wie ein Schatten, der keinen Körper braucht.
Ich ging rückwärts. Blick nach vorn, Haltung offen. Kein Paniksignal. Ich wusste, wie man sich bewegt, wenn man nicht auffallen will. Ich war trainiert. Ich hatte vergessen, dass ich trainiert war.
Dann: eine Stimme. Hinter mir. Leise, ruhig, beinahe müde.
„Du bist weit gekommen, Cloe.“
Ich fuhr herum.
Da war ein Mann. Vielleicht vierzig. Glatt rasiert, medizinischer Look. Weißer Mantel.
Er. Wieder.
Ich presste die Lippen zusammen.
„Wer bist du?“
Er hob leicht die Schultern. „Ein Korrektor.“
„Was wird hier korrigiert?“
„Verhältnisse.“
„Zwischen wem?“
„Zwischen dir. Und dir.“
Er trat einen Schritt näher.
Ich wich nicht zurück.
„Sasha?“, fragte ich.
Er nickte. Fast bedauernd.
„Sie war der Anker. Jetzt driftest du.“
Ich lachte. Kurz. Ohne Humor.
„Ich bin nicht verloren.“
„Nein. Noch nicht.“
Dann zog er ein kleines Gerät aus der Tasche. Eine Art Scanner. Hielt ihn hoch. Licht blinkte. Grün.
„Du hast noch 48 Stunden, bevor die Muster kippen.“
Ich starrte ihn an. „Und wenn ich sie finde?“
„Dann wirst du dich nicht mehr erkennen.“
„Und wenn ich’s riskiere?“
Er steckte das Gerät weg. „Dann wirst du sie beide verlieren.“
Ich wusste nicht, ob er log.
Aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte.
Ich musste Sasha finden.
Egal, wie viele Versionen von mir ich dabei verlieren würde.
Kapitel 8 – Schwarze Schirme
Ich ließ den weißen Mantel hinter mir. Kein Wort mehr. Kein Blick zurück. Ich ging durch einen der Seitenausgänge – einen, den ich vorher nicht gesehen hatte. Vielleicht war er immer da gewesen. Vielleicht nicht. Es spielte keine Rolle.
Draußen war es inzwischen Abend. Der Himmel hing tief, wie angehalten. Kein Wind. Kein Laut. Nur ein dünner Nieselregen, der auf der Haut nicht nass, sondern schwer war.
Ich nahm ein Taxi. Sagte dem Fahrer nichts, nur eine Adresse: Waldstraße 17. Alte Kontaktbasis. Früher. Bevor alles kippte.
Er sah mich im Rückspiegel an. „Da wohnt niemand mehr.“
„Ich weiß.“
Er zuckte mit den Schultern. Fuhr los.
Der Regen wurde dichter, dann wieder feiner, wie Staub. Die Stadt verwandelte sich draußen in ein bleiches Echo. Keine Menschen. Nur Schemen hinter beschlagenem Glas, Regenschirme – alle schwarz, alle gesenkt. Niemand sah sich an.
Ich stieg zwei Straßen vorher aus. Ging zu Fuß weiter. Hielt die Kapuze tief ins Gesicht. Jeder Schatten war ein möglicher Blick. Jeder Blick eine Erinnerung.
Das Haus war da. Drei Stockwerke. Fassadenfarbe abgeblättert. Die Klingeln ohne Namen. Ich schob die Tür auf – kein Widerstand. Innen roch es nach altem Teppich, nach Rost, nach vergangenen Stimmen.
Ich ging in den dritten Stock. Letzte Tür links. Klopfte dreimal, wie früher. Pause. Dann einmal kurz.
Nichts.
Ich trat ein.
Im Wohnzimmer: eine Gestalt. Rücken zu mir. Schmal. Bewegte sich nicht.
„Elio?“
Langsam drehte er sich um. Die Augen müde, aber wach. Der Körper zu dünn für das Gesicht. Er sah mich an, als hätte ich ihn aus einem langen, schlechten Traum geholt.
„Du bist spät.“
„Ich war nie pünktlich.“
Er lächelte nicht. Ging in die Küche. Ich folgte.
Er stellte zwei Gläser auf den Tisch. Keinen Alkohol. Nur Wasser. Altstadtregel: Wer Wasser anbietet, will Klarheit.
„Ich brauche Informationen.“
„Ich hab keine.“
„Du hast immer welche.“
Er zuckte mit den Schultern. „Nicht mehr wie früher.“
Ich legte das Foto auf den Tisch. Sasha. 42A. Grauer Hintergrund.
Sein Blick veränderte sich.
„Du warst dort?“
Ich nickte.
„Dann fehlt dir bald was.“
„Was meinst du?“
Er beugte sich vor. „Sie machen’s so, dass du denkst, du erinnerst dich falsch. Dabei haben sie dir bloß was weggenommen.“
„Und wie holt man’s zurück?“
Er sah mich lange an.
„Du musst dorthin, wo sie dich getestet haben. Nicht wo sie dich gespeichert haben.“
Ich verstand. Oder glaubte zu verstehen.
„Du hast einen Ort?“
Er schrieb etwas auf einen Kassenzettel. Reichte ihn mir.
„Aber du hast mich nie gesehen.“
Ich nickte.
Dann ging ich, bevor ich noch eine Erinnerung mehr an ihn bekam.
Draußen standen die Menschen immer noch da – unter ihren Schirmen, unbewegt, als hätten sie vergessen, was Bewegung war.
Ich hatte nicht viel Zeit.
Und ich wusste: Der nächste Ort würde mich nicht erkennen lassen.
Aber vielleicht würde ich Sasha dort sehen.
Kapitel 9 – Ein Raum aus Glas
Die Adresse auf dem Zettel war nur eine Nummer: 8C. Kein Straßenname. Kein Hinweis. Elio hatte sie mir gegeben, als wäre sie ein Passwort, nicht ein Ort.
Ich fand sie nach zwei Stunden. Am Rand der Stadt. Zwischen Lagerhallen, leerstehenden Autohäusern und einem Gebüsch, das nach Benzin roch. Keine Kamera. Keine Klingel. Nur ein verbeulter Hintereingang, mit schwarzem Klebeband über dem Türschlitz. Ich klopfte nicht. Ich schob.
Innen war es still. Nicht leer, aber still. Gänge aus Glas, matt, durchscheinend. Wände, in denen man sich selbst nur als Silhouette erkannte – wie ein Fehler im System.
Ich hörte Stimmen. Leise. Kein Deutsch. Kein Englisch. Nur Fragmente. Schnipsel von etwas, das wie Sprache klang, aber nicht verstanden werden wollte.
Ich ging weiter. Barfuß jetzt. Schuhe ausgezogen, irgendwann. Ich erinnere mich nicht, wann. Der Boden war glatt, nicht kalt, nicht warm – einfach da.
Dann kam ich in den Raum.
Er war rund. Wände aus Glas, Decke aus Licht. Kein Fenster. Keine Tür, durch die ich gekommen war. In der Mitte: ein Tisch. Kein Stuhl. Darauf: ein Projektor. Altmodisch. Aus Metall. Mit Kabel. Und ein Knopf. Kein Display. Nur: AN oder AUS.
Ich drückte.
Das Licht ging aus.
Der Projektor summte.
An der Wand: ein Bild. Körnig. Unscharf. Aber ich erkannte sie.
Sasha.
Nicht allein. Zwei Männer. Einer hielt sie am Arm. Der andere redete. Ich verstand kein Wort, aber ich sah ihr Gesicht. Keine Angst. Kein Widerstand. Nur dieses merkwürdige Leuchten – als würde sie etwas wissen, was größer war als alles hier.
Dann ein Schnitt.
Mein Gesicht.
Ich, schlafend. Auf einem Stuhl. Kabel an den Schläfen. Augen zu. Lippen leicht geöffnet. Ich wirkte friedlich. Aber ich kannte diesen Frieden. Es war der Frieden der Betäubung. Der, bei dem du nicht wegrennen kannst, selbst wenn du wach wirst.
Die Bilder flackerten weiter. Ich konnte nicht wegsehen. Erinnerungen, die ich nicht kannte. Orte, an denen ich war – aber nicht wusste, dass ich da war. Leute, die meinen Namen sagten, als wäre er ihrer.
Dann: Schwarz.
Ich stand im Dunkeln. Der Projektor war still.
Ich hörte nichts – bis auf den eigenen Atem. Und dann: ein Geräusch. Ganz leicht. Wie Schritte auf Glas.
Ich drehte mich langsam.
Da stand jemand.
Nicht Sasha.
Aber jemand, der wusste, wer ich war.
Und wer ich nicht mehr bin.
Kapitel 10 – Unter dem Wasser
Ich stand still. Zu still. Wie jemand, der sich erinnert, wie man sich bewegt, aber nicht mehr warum.
Die Gestalt trat näher. Kein Mantel. Kein Schatten im Gesicht. Einfach ein Mann, mittleres Alter, schlanke Hände, ein zu ruhiger Blick. Nicht bedrohlich. Viel schlimmer: verständnisvoll.
„Du suchst sie“, sagte er.
Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, ob er eine Antwort wollte.
Er hob langsam die Hand und deutete auf den Boden.
Ich folgte dem Finger.
Glas.
Und darunter – Wasser.
Ich sah es nicht sofort. Aber dann, als sich meine Augen daran gewöhnten: Strömung. Dunkle Bewegungen. Schemen, die sich zogen, als schwämme Erinnerung unter meinen Füßen.
„Sie ist dort unten“, sagte er. „Nicht körperlich. Aber sie… hängt fest.“
Ich wollte fragen: Was meinst du mit hängen fest? Aber die Worte blieben irgendwo im Hals stecken. Wie Kiesel. Oder wie etwas, das man lieber nicht aussprechen will.
Er trat zur Seite. Ein schmaler Gang öffnete sich hinter ihm, in der Wand, die vorher keine war. Lichtlos. Aber nicht leer.
Ich ging.
Der Gang war enger, roch nach Metall und Chlor. Wie ein altes Schwimmbad. Die Luft wurde feuchter. Schwerer.
Am Ende des Gangs: eine Tür. Blau. Kein Griff. Nur ein Schlitz.
Sie öffnete sich, ohne dass ich etwas tat.
Innen: Wasser.
Ein Raum. Bis zur Hälfte geflutet. Kein Geräusch. Kein Tropfen. Nur dieses stille, reglose Wasser, das sich trotzdem bewegte, als würde es atmen.
Am Rand: ein Schlauchboot. Kein Ruder. Ich stieg ein.
Kaum war ich drin, setzte sich das Boot in Bewegung.
Ich trieb.
Wände zogen vorbei – kahl, weiß, mit Schatten von Dingen, die nicht da waren. Schemen wie Hände. Oder Profile. Einmal meinte ich, meinen eigenen Umriss zu sehen – aber älter. Leerer.
Dann: ein Licht.
Warm. Flackernd. Wie Kerzenschein. Oben, auf einer Plattform aus Metall, stand jemand.
Ich paddelte mit den Händen, kam näher.
Es war ein Mädchen. Kaum sechzehn. Zu dünn. Zu aufrecht. Sie trug Sashas Jacke.
„Wo ist sie?“, fragte ich.
Sie sah mich an, lange. Dann zeigte sie auf ihre Brust.
„Hier.“
Ich starrte sie an. „Bist du… ein Teil von ihr?“
Sie nickte. „Sie hat uns abgegeben. Stück für Stück. Um zu überleben.“
„Warum?“
„Weil ihr zu viele Fragen hattet.“
Ich verstand nicht alles. Aber ich wusste jetzt: Ich war nicht mehr auf der Suche nach einer ganzen Sasha.
Ich war auf der Suche nach Fragmenten. Und vielleicht auch nach den meinen.
Kapitel 11 – Die andere Seite von ihr
Ich stand auf der Plattform, das Boot hinter mir, das Wasser ruhig. Keine Strömung. Keine Wellen. Nur dieser seltsame, innere Sog, der einen zieht, obwohl man sich nicht bewegt.
Das Mädchen mit Sashas Jacke war verschwunden. Oder nie wirklich da.
Ich ging durch eine Tür, die sich einfach öffnete – so, wie sich Türen öffnen, wenn jemand will, dass du weitergehst.
Der nächste Raum war klein. Karg. Wände aus Beton, Schreibtisch, alter Stuhl, Neonröhre, die summte wie eine Fliege, die nicht stirbt.
An der Wand: ein Spiegel. Einer dieser alten, mit Metallrahmen. Ich trat näher. Schaute mich an.
Und dann: Nicht ich.
Nicht ganz.
Das Gesicht war meines – aber zu glatt, zu symmetrisch, zu fremd. Die Augen: heller. Der Mund: zu ruhig. Und vor allem: keine Narbe über der linken Augenbraue. Die, die ich seit der Geschichte mit dem Fenster hatte. Oder dachte, ich hatte.
Ich trat zurück.
Der Spiegel flackerte.
Dann: Sasha.
Nicht im Spiegel. Neben mir.
Sie sah aus wie früher. Vielleicht etwas blasser. Ihr Blick war ruhig. Keine Angst. Kein Erstaunen. Nur dieses wissende Nicken, als hätte sie mich schon tausendmal so gesehen.
„Du bist spät“, sagte sie.
„Du auch“, sagte ich.
Sie lächelte. Schwach. Echt.
„Ich wusste, dass du kommst.“
Ich schüttelte den Kopf. „Du hättest nicht gehen sollen.“
„Ich bin nicht gegangen“, sagte sie. „Ich wurde entfernt.“
„Warum?“
„Weil ich mich erinnert habe.“
„Woran?“
Sie sah mich lange an. Dann sagte sie:
„Dass du nicht nur du bist.“
Ich verstand nicht.
Oder vielleicht doch. Aber ich ließ es nicht zu.
Sie trat näher. Legte eine Hand auf meine Schulter. Warm. Fest.
„Sie haben dich aufgeteilt. Gespeichert. Geordnet. Du bist keine Einzeldatei mehr. Du bist ein System. Und sie haben den Zugriff.“
Ich zog den Kopf weg. „Dann war alles nur… Manipulation?“
„Nicht alles“, sagte sie. „Manches war Liebe.“
Das traf mich härter als jede Wahrheit. Denn es bedeutete: auch das war gespeichert. Auch das war zugänglich. Auch das konnte gelöscht werden.
Ich wollte sie umarmen. Aber sie trat zurück.
„Ich kann nicht mit dir gehen“, sagte sie.
„Warum?“
„Weil ich nicht mehr vollständig bin.“
Ich spürte, wie etwas in mir zu rutschen begann. Nicht sichtbar. Nur innerlich. Als hätte sich ein Bild verzogen, das man für ein Fenster hielt.
Ich fragte:
„Und ich?“
Sie sah mich an.
„Du musst dich entscheiden. Wieder ganz werden – oder weiter suchen.“
„Und du?“
„Ich bleibe. Als Fragment. Als Erinnerung. Aber nicht mehr als Körper.“
Dann verschwand sie.
Nicht langsam. Nicht dramatisch. Einfach: weg.
Und ich stand da. Mit meiner Entscheidung.
Kapitel 12 – Die Laborebene
Ich ging. Nicht aus Hoffnung. Aus Trotz. Ich wollte nicht zurück. Nicht mit halbem Wissen. Nicht mit dem Gefühl, dass jemand anderes meine Erinnerung in Schubladen gelegt hatte.
Der Gang war anders jetzt. Glatter. Wie aus Glas gegossen. Kein Staub. Keine Abzweigungen. Nur dieses kalte Licht, das ohne Quelle zu kommen schien.
Am Ende: ein Aufzug. Altmodisch. Knöpfe mit Nummern. Keiner beschriftet. Ich drückte Null. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, aber ich spürte keine Richtung. Kein Ruck. Kein Gewicht. Nur diese Bewegung, die keiner Zeit folgt.
Dann: Klick.
Die Tür öffnete sich.
Und ich trat in die Laborebene.
Kacheln. Hell. Steril. Geruch nach Lösungsmitteln und kaltem Kaffee. Türen aus Glas, durch die man nur Schatten sah. Und überall: Bildschirme. Überwachung. Scans. Namen. Codes.
Ich ging an einem Raum vorbei, in dem mein Gesicht mehrfach auftauchte. Alter unterschiedlich. Frisur verschieden. Mimik gleich. Fragend. Suchend. Und darunter:
CLOE. Instanz 3.
Ich betrat den Raum.
Kabel hingen von der Decke. An der Wand: ein Terminal. Ich tippte – instinktiv. Wie jemand, der nicht weiß, woher er die Eingabe kennt, aber sie ausführt.
Ein Fenster öffnete sich: Projekt C.L.O.E – Zugriff genehmigt
Dann: Aufnahmen. Nicht von mir. Nicht ganz. Aber aus mir.
Ich sah mich lachen. Weinen. Schlafen. Schreien. Ich hörte Stimmen, die ich nicht zuordnen konnte. Männer, Frauen. Auch Sasha. Immer wieder Sasha.
„Du warst Teil eines Modells“, sagte eine Stimme hinter mir. Ruhig. Trocken.
Ich drehte mich um.
Der weiße Mantel. Wieder. Aber diesmal: offen. Darunter ein graues Hemd, durchgeschwitzt. Keine Autorität mehr. Nur Müdigkeit.
„Du wusstest es“, sagte ich.
„Du auch. Du hast es nur vergessen.“
Ich trat näher. „Warum das alles?“
Er lächelte nicht. „Weil Erinnerungen instabil sind. Weil Menschen zu viele Schleifen fahren. Du warst Teil eines Versuchs. Eine Versuchsanordnung. Wir wollten wissen, was bleibt, wenn wir alles wegnehmen.“
„Und was bleibt?“, fragte ich.
Er sah mich an. Lange.
Dann sagte er:
„Die Suche.“
Ich hob die Hand. Zeigte ihm das Armband, das ich Sasha nie zurückgegeben hatte. Es war jetzt blass, fast farblos.
„Und wenn ich nicht mehr suche?“
Er trat zurück.
„Dann bricht das System zusammen.“
Ich verstand.
Ich war die Schleife. Die Frage. Der Versuch. Und Sasha – war die Antwort, die nie ganz gegeben wurde.
Ich sah zum Monitor.
Instanz 3: aktiv
Ich wusste, was ich tun musste.
Ich griff nach dem Kabel. Riss es raus.
Stille.
Dann: ein Zucken im Licht. Eine Verzerrung im Monitor.
Und ich wusste: irgendwo, in irgendeinem Loop, bin ich gerade verschwunden.
Oder freigelassen.
Kapitel 13 – Code 014
Ich lief.
Nicht rennend. Gleitend. Wie unter Wasser. Die Gänge pulsierten schwach, als hätte das System Atem. Wände glitzerten, flackerten. Die Realität – nur noch eine Option unter vielen.
Hinter mir: kein Alarm. Kein Ruf. Kein Widerstand. Nur diese Leere. Als hätte mein Schritt etwas ausgelöst, das nicht rückgängig zu machen war.
Ich wusste, wohin ich musste.
Das Archiv.
Jeder Komplex wie dieser hatte eins. Versteckt, verschlüsselt, vergessen – und doch der einzige Ort, an dem etwas wirklich war. Kein Interface. Kein Bild. Kein Loop.
Ich fand die Tür hinter einem Vorhang aus Plastikstreifen, wie in einer Fleischerei. Auf dem Schild: Zugang nur mit CODE 014
Die Zahl vibrierte in meinem Kopf. Sie war zu oft gefallen. Zu viele Male.
Ich legte meine Hand auf das Panel.
Zögerte.
Dann sprach ich es aus.
„Code Null Eins Vier.“
Ein Ruck.
Tür auf.
Drinnen: Kälte. Kein künstliches Licht mehr, sondern Röhren, die summten, als würden sie altern. Regale. Kartons. Keine Technik, kein Glas. Nur Papier, Magnetbänder, Dossiers.
Ich ging langsam. Wie durch ein Gedächtnis, das sich selbst nicht traut.
Dann fand ich den Ordner.
C.L.O.E – Originalinstanz / Speicherstatus: fragmentiert / Zugriff: eingeschränkt
Ich zog ihn heraus. Die Seiten: vergilbt, lückenhaft. Doch mittendrin ein Brief. Handschrift. Alte Tinte.
Sasha.
Cloe,
Falls du das hier liest, hast du dich erinnert. Oder jemand hat dich zurückgebracht.
Sie haben uns getrennt, weil wir zu dicht waren. Du warst der Code, ich war der Schlüssel. Zusammen sind wir durchgerutscht. Tiefer als erlaubt.
Du bist nicht kaputt. Nur geteilt.
Und ich? Ich bin in dir. Nicht als Stimme. Nicht als Bild. Sondern als Impuls. Als Richtungsänderung.
Geh weiter. Nicht zurück.
S
Ich saß da, den Brief in der Hand. Meine Finger zitterten. Nicht aus Angst. Sondern aus Erschöpfung.
Sie war nicht tot.
Sie war nicht verloren.
Sie war verschlüsselt.
Und ich war der einzige Zugriffspunkt, der noch funktionierte.
Ich hörte hinter mir Schritte. Wieder er. Der Mann mit dem weißen Mantel.
„Was jetzt?“, fragte ich.
Er sah mich an. Und zum ersten Mal – keine Überlegenheit, keine Fassade.
Nur Müdigkeit.
„Jetzt gibt es kein Protokoll mehr.“
Ich ging an ihm vorbei.
„Dann fang ich an zu schreiben.“
Kapitel 14 – Kein Licht ohne Schatten
Ich verließ das Gebäude im Morgengrauen. Kein Knall, kein Finale. Nur das leise Öffnen einer Tür, die niemand bewachte.
Die Straßen waren leer. Kein Wind. Kein Geräusch. Nur mein Atem, als wäre ich zum ersten Mal draußen. Die Luft schmeckte fremd. Metallisch. Nach einem Neuanfang, den keiner bestellt hatte.
Ich ging zurück. Zurück in die Wohnung, die vielleicht nie meine war.
Drinnen: alles still. Der Spiegel noch da. Der Sprung auch. Und ich. Noch dieselbe. Und doch: etwas hatte sich verschoben.
Ich schloss die Tür ab. Zog die Vorhänge zu. Ließ das Licht aus. Setzte mich an den Tisch.
Der Umschlag mit dem Foto lag noch da. Ich drehte es um.
Auf der Rückseite stand eine Zahl: 3.4.1
Ich schrieb sie auf einen Zettel. Steckte ihn in das Notizbuch. Riss eine Seite raus. Fing an zu schreiben.
Nicht linear. Nicht erklärend.
Nur das, was blieb.
Fragmente.
Sätze, die Sasha gesagt hatte. Orte, die ich gesehen habe. Namen, die ich nicht vergesse. Ich schrieb, als hinge davon etwas ab. Und vielleicht tat es das auch.
Der Strom fiel kurz aus. Alles dunkel. Dann wieder an. Die Lampe flackerte, fing sich. Draußen schrie eine Möwe. Keine Ahnung, seit wann es hier Möwen gibt.
Ich lachte leise.
Dann schloss ich das Buch.
Auf dem Einband: kein Titel.
Nur mein Name.
Oder das, was davon übrig ist.
Ende