As Time Goes By

Der besondere Kaffee

Ich schiebe die Tür auf, ein kleines Glöckchen klingelt darüber. Niemand dreht sich um. Das Café ist halbvoll, aber still, als hätten alle einen geheimen Pakt geschlossen, nur zu flüstern. Die Luft riecht nach frisch gemahlenem Kaffee und etwas Süßlichem, das ich nicht gleich einordnen kann. Vielleicht Zimt? Oder Kardamom?

Ein leichter Regenschauer hat meine Jacke durchnässt. Ich schüttle mich kurz und streife mit den Fingern durch mein feuchtes Haar. Tropfen fallen auf den abgenutzten Holzboden. Als ich zum Tresen gehe, knarrt das Holz unter meinen Schritten.

„Was darf’s sein?“, fragt die Frau hinter dem Tresen. Sie hat graue Strähnen in ihrem dunklen Haar und trägt eine fleckige Schürze, die aussieht, als hätte sie schon tausend Geschichten erlebt. Ihre Hände sind klein und zart, mit feinen Linien durchzogen, als würde jemand mit einem dünnen Stift Landkarten darauf zeichnen.

„Einen Kaffee, bitte.“

„Nur Kaffee?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue hoch. Ihre Stimme klingt rau, als hätte sie in ihrem Leben zu viel geraucht oder zu viel geschrien oder beides.

„Ja, einfach nur Kaffee.“

Sie lacht kurz auf. „Hier gibt’s keinen ‚einfachen‘ Kaffee, Junge. Du kannst den Haupt-Blend nehmen, den Morgen-Wecker, den Abend-Träumer oder…“ – sie senkt ihre Stimme – „den Besonderen.“

Etwas in ihrer Art macht mich neugierig. „Was ist denn der Besondere?“

Sie lächelt geheimnisvoll. „Der verändert alles. Zumindest für eine Weile.“

Normalerweise würde ich sowas als Marketing-Gerede abtun, aber etwas an diesem Ort, an dieser Frau, lässt mich zögern. „Dann nehme ich den Besonderen.“

Sie nickt, als hätte sie nichts anderes erwartet, und dreht sich zu einer altertümlichen Kaffeemaschine um. Sie sieht aus wie aus einem Antiquitätenladen, mit Kupferelementen und verschnörkelten Hebeln. Die Frau nimmt eine kleine Schachtel aus einem Regal, öffnet sie behutsam und schüttet etwas in einen Filter. Es ist kein gewöhnliches Kaffeepulver. Es glitzert fast, als würde Sonnenlicht auf feuchten Sand fallen.

Während sie hantiert, schaue ich mich um. Das Café hat etwas Zeitloses. Schwer zu sagen, ob es seit den Fünfzigern unverändert existiert oder erst letzte Woche als perfekte Nachahmung eröffnet wurde. An den Wänden hängen vergilbte Fotografien von Orten, die ich nicht erkenne. Menschen blicken von dort in die Kamera, lächelnd, ernst, abwesend. Keiner von ihnen trägt moderne Kleidung, aber es ist schwer zu sagen, aus welchem Jahrzehnt die Bilder stammen.

Die anderen Gäste wirken seltsam gedämpft, als würde jeder in seiner eigenen Blase sitzen. Ein Mann mit zerfurchtem Gesicht starrt in seine Tasse, als läse er darin wie in Teeblättern. Eine junge Frau schreibt etwas in ein abgegriffenes Notizbuch, ihre Lippen bewegen sich lautlos dabei. Ein älteres Paar sitzt am Fenster, ihre Hände auf dem Tisch verschränkt, regungslos, als wären sie Teil eines Gemäldes.

„Hier.“ Die Frau stellt eine Tasse vor mich hin. Sie ist aus schwerem Porzellan, leicht angeschlagen an einer Stelle, mit einem feinen Haarriss, der sich wie eine Straße über die Oberfläche zieht. Der Kaffee darin ist so dunkel, dass er fast schwarz wirkt. Er dampft nicht, obwohl er offensichtlich heiß ist – ich spüre die Wärme, die von der Tasse aufsteigt.

„Neun Euro fünfzig“, sagt sie.

Ich zucke zusammen. „Für eine Tasse Kaffee?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Du zahlst nicht für den Kaffee. Du zahlst für das, was danach kommt.“

Ich zahle, etwas widerwillig, und nehme die Tasse zu einem kleinen Tisch in der Ecke mit. Von hier aus kann ich die Straße sehen. Es regnet immer noch, die Tropfen zeichnen verschlungene Muster auf die Fensterscheibe. Menschen eilen vorbei, unter Regenschirmen versteckt, die aussehen wie bunte Pilze in einem grauen Wald.

Der erste Schluck brennt auf meiner Zunge, aber nicht wie zu heißer Kaffee. Es ist ein seltsames Kribbeln, als würde etwas in mir erwachen. Der Geschmack ist… anders. Nicht bitter, nicht süß. Fast als würde ich etwas trinken, das gar nicht existiert.

Beim zweiten Schluck passiert es. Die Farben um mich herum werden intensiver. Das gedämpfte Braun der Holzvertäfelung leuchtet jetzt wie frisch poliertes Mahagoni. Das Blau der Tasse der Frau am Nebentisch strahlt wie ein Sommerhimmel. Jedes Detail wird scharf, präzise, als hätte jemand einen Schleier vor meinen Augen weggezogen, von dem ich nicht einmal wusste, dass er da war.

Und dann die Geräusche. Ich höre plötzlich das sanfte Ticken einer Uhr, die irgendwo an der Wand hängen muss, obwohl ich keine sehen kann. Das leise Rascheln, als die junge Frau eine Seite in ihrem Notizbuch umblättert. Das fast unhörbare Summen einer Fliege, die an der Fensterscheibe entlangkrabbelt.

Ich trinke weiter. Mit jedem Schluck wird die Welt um mich herum klarer, intensiver, wirklicher. Und doch gleichzeitig unwirklicher. Denn jetzt nehme ich nicht nur das wahr, was ist, sondern auch das, was sein könnte.

Die junge Frau mit dem Notizbuch – ich sehe plötzlich, wie sie älter wird, wie sich feine Linien um ihre Augen bilden, wie ihr Haar mit grauen Strähnen durchzogen wird. Ich sehe sie aufstehen, das Café verlassen, in ein Leben eintreten, das sich vor ihr entfaltet wie eine unendliche Straße. Ich sehe ihre Erfolge, ihre Niederlagen, ihre Lieben, ihre Verluste.

Und dann ist sie wieder nur eine junge Frau mit einem Notizbuch.

Der alte Mann mit dem zerfurchten Gesicht – für einen Moment sehe ich ihn als Kind, seine Wangen glatt und rund, seine Augen voller Wunder über eine Welt, die er noch nicht verstehen kann. Ich sehe ihn als jungen Mann, stark und selbstbewusst, mit einem Lächeln, das Herzen bricht. Ich sehe ihn mittleren Alters, gebeugt unter dem Gewicht von Verantwortungen und Entscheidungen. Und dann wieder alt, hier, in diesem Moment, mit all diesen Leben in seinen Augen.

Mein Blick fällt auf die Straße. Durch das verregnete Fenster sehe ich die Passanten nicht mehr als anonyme Gestalten unter Regenschirmen. Ich sehe ihre Geschichten, ihre Träume, ihre Ängste. Eine Frau eilt vorbei, ihr Mantel flattert im Wind. Sie ist spät dran zu einem Vorstellungsgespräch. Sie wird es bekommen, aber in zwei Jahren wieder kündigen, um etwas zu tun, das sie wirklich liebt. Ein Mann steht an der Bushaltestelle, sein Gesicht ausdruckslos. In seiner Tasche trägt er einen Ring, den er heute Abend seiner Freundin geben will. Sie wird Ja sagen, aber die Ehe wird nicht halten. Trotzdem werden sie glücklich sein, für eine Weile.

Ich blinzle. Woher weiß ich das alles? Es fühlt sich nicht wie Fantasie an. Es fühlt sich wie Wissen an.

Die Cafébesitzerin kommt zu meinem Tisch. „Wie ist der Kaffee?“

„Er ist…“ Ich suche nach Worten. „Er ist, als würde ich die Welt zum ersten Mal sehen.“

Sie nickt zufrieden. „Jeder sieht etwas anderes. Manche sehen die Vergangenheit, manche die Zukunft. Manche sehen die Wahrheit, manche die Möglichkeiten.“

„Was sehen Sie?“, frage ich.

Sie lächelt melancholisch. „Ich sehe die Tage, die hätten sein können. Die Entscheidungen, die ich nicht getroffen habe. Die Wege, die ich nicht gegangen bin.“

Sie setzt sich mir gegenüber. Ihre Hände liegen flach auf dem Tisch. „Der Effekt hält nicht lange an. Vielleicht eine Stunde. Vielleicht weniger.“

„Was ist in diesem Kaffee?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nichts Illegales, falls du das meinst. Nichts Chemisches. Es ist nur… Bewusstsein. In flüssiger Form.“

Das sollte absurd klingen, aber in diesem Moment, mit der Welt in leuchtenden Farben um mich herum, mit den Lebensgeschichten von Fremden, die sich vor meinen Augen entfalten, erscheint es als die einzig logische Erklärung.

„Sie sollten jetzt gehen“, sagt sie. „Gehen Sie nach draußen. Sehen Sie die Welt, solange der Effekt anhält.“

Ich stehe auf, etwas unsicher auf den Beinen. Als ich zur Tür gehe, fühlt es sich an, als würde ich durch Wasser waten, dicht und widerständig und doch seltsam unterstützend.

Das Glöckchen klingelt wieder, als ich das Café verlasse. Der Regen hat aufgehört. Die Straße glänzt nass im Sonnenlicht, das durch die Wolken bricht. Jeder Wassertropfen auf dem Asphalt ist ein Prisma, das das Licht in tausend Farben bricht.

Ich gehe los, ohne zu wissen wohin. Mit jedem Schritt spüre ich den Boden unter meinen Füßen intensiver. Jeder Atemzug füllt meine Lungen mit einer Luft, die schwer ist von Gerüchen – nasser Asphalt, Autoabgase, das süße Parfüm einer Frau, die an mir vorbeieilt.

Und die Menschen. Überall Menschen, jeder ein Universum für sich. Ich sehe ihre Leben wie bunte Fäden, die sich kreuzen, verflechten, wieder trennen. Ein kleines Mädchen hält die Hand seiner Mutter. Ich sehe es aufwachsen, zur Schule gehen, verlieben, enttäuscht werden, wieder aufstehen. Ich sehe seinen ersten Kuss, seine Hochzeit, sein erstes Kind, seinen letzten Atemzug – alles in einem einzigen Moment, der wie eine Ewigkeit erscheint und doch nicht länger dauert als ein Wimpernschlag.

Ein alter Mann sitzt auf einer Parkbank, Tauben zu seinen Füßen. Ich sehe ihn als Soldaten in einem längst vergessenen Krieg, als Liebhaber in einer längst vergangenen Nacht, als Vater, der sein Kind zum ersten Mal hält. Ich sehe seine Freuden und seine Schmerzen, seine Siege und seine Niederlagen – ein ganzes Leben, zusammengefaltet in diesem einen Moment des Sitzens auf einer Bank, Brotkrumen an Tauben verfütternd.

Ich gehe weiter, überwältigt von dieser Flut von Eindrücken und Erkenntnissen. Die Straßen werden zu Flüssen von Möglichkeiten, die Gebäude zu Monumenten vergangener und zukünftiger Zeiten. Ein Geschäft, das gerade erst eröffnet hat – ich sehe es florieren, dann kämpfen, dann schließen. Ein altes Haus – ich sehe die Generationen, die darin gelebt haben, die Kinder, die in seinen Zimmern aufgewachsen sind, die Alten, die in seinen Betten gestorben sind.

Die Zeit dehnt sich und zieht sich zusammen wie ein lebendiges Ding. Minuten fühlen sich wie Stunden an, Stunden wie Minuten. Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs bin, als ich an einem kleinen Park ankomme. Ich setze mich auf eine freie Bank und schaue auf einen Teich, in dem sich der Himmel spiegelt.

Die Intensität der Wahrnehmungen beginnt nachzulassen. Die Farben verblassen langsam zu ihrer gewöhnlichen Leuchtkraft. Die Geschichten der Passanten ziehen sich zurück, werden wieder zu Vermutungen statt Gewissheiten. Die Welt kehrt zurück zu ihrer vertrauten Unschärfe.

Eine alte Frau setzt sich neben mich auf die Bank. Sie trägt einen verblichenen blauen Mantel und einen altmodischen Hut. Ihre Hände sind knochig und von Altersflecken übersät. Sie lächelt mich an.

„Schöner Tag, nicht wahr?“, sagt sie.

Ich nicke. „Ja, wunderschön.“

Sie mustert mich. „Sie sehen aus, als hätten Sie etwas Erstaunliches erlebt.“

Ich lache leise. „Könnte man so sagen.“

„Das Café am Ende der Gasse?“, fragt sie und ihre Augen funkeln wissend.

Ich starre sie an. „Woher…?“

„Ich erkenne den Blick“, sagt sie einfach. „Ich gehe einmal im Jahr hin, an meinem Geburtstag. Es ist mein Geschenk an mich selbst.“ Sie seufzt. „Jedesmal sehe ich etwas anderes. Manchmal die Vergangenheit, die war. Manchmal die Zukunft, die sein könnte. Manchmal die Gegenwart, wie sie wirklich ist, nicht wie wir sie zu sehen glauben.“

„Was haben Sie heute gesehen?“, frage ich, obwohl ich weiß, dass es eine persönliche Frage ist.

Sie lächelt wieder, dieses Mal traurig. „Meinen Mann. Er ist vor fünfzehn Jahren gestorben. Aber heute habe ich gesehen, wie unser Leben gewesen wäre, wenn er noch leben würde. Wir hätten diesen Sommer unseren fünfzigsten Hochzeitstag gefeiert.“

Sie schaut auf den Teich, ihre Augen feucht. „Es war schön, ihn wiederzusehen. Auch wenn es nur… was auch immer es war.“

Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander. Die Sonne kommt vollständig hinter den Wolken hervor und taucht den Park in goldenes Licht. Ein paar Kinder spielen am Rand des Teichs. Ihre Lachen klingt wie Musik.

„Werden Sie zurückgehen?“, fragt die alte Frau schließlich. „Zum Café, meine ich.“

Ich denke darüber nach. Werde ich? Will ich diese Intensität noch einmal erleben? Diese überwältigende Flut von Eindrücken und Erkenntnissen? Die Geschichten von Fremden, die sich vor meinen Augen entfalten? Die unendlichen Möglichkeiten, die in jedem Moment, in jeder Entscheidung liegen?

„Ja“, sage ich schließlich. „Ja, ich glaube schon.“

Sie nickt, als hätte sie keine andere Antwort erwartet. „Wir alle gehen zurück. Früher oder später.“ Sie steht auf, stützt sich auf einen Gehstock, den ich vorher nicht bemerkt hatte. „Die Welt, wie wir sie normalerweise sehen, ist so… begrenzt. So flach. Wie ein Schwarz-Weiß-Foto im Vergleich zu einem 3D-Film.“

Sie tippt mit ihrem Gehstock auf den Boden. „Aber denken Sie daran: Nicht alles, was Sie sehen, ist die Wahrheit. Manches sind nur Möglichkeiten. Manches sind nur Echos von dem, was hätte sein können. Die Zukunft ist nicht festgelegt. Die Vergangenheit ist nicht unveränderlich – zumindest nicht in unserer Erinnerung.“

Sie lächelt ein letztes Mal. „Genießen Sie den Rest des Tages, junger Mann.“

Dann geht sie, langsam, aber mit einer Würde, die mich an eine Königin aus einer vergangenen Zeit erinnert.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Die letzten Reste des Kaffee-Effekts verschwinden. Die Welt ist wieder normal – oder das, was ich als normal betrachte. Die Farben sind wieder gedämpft, die Geräusche wieder gefiltert, die Geschichten der Passanten wieder verborgen hinter ihren Gesichtern.

Und doch… etwas ist anders. Ich habe gesehen, was unter der Oberfläche liegt. Ich habe die Verbindungen gespürt, die unsichtbaren Fäden, die uns alle verbinden. Ich habe die unendlichen Möglichkeiten gesehen, die in jedem Moment, in jeder Entscheidung liegen.

Ich stehe auf und mache mich auf den Heimweg. Die Straßen sind wieder nur Straßen, die Menschen wieder nur Passanten. Aber ich weiß jetzt, dass mehr da ist. So viel mehr.

Und ich weiß, dass ich zurückgehen werde. Zum Café. Zum besonderen Kaffee. Zur Welt, wie sie wirklich ist, nicht wie wir sie zu sehen glauben.

Vielleicht morgen schon.

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