As Time Goes By

Hannah. Bleibt

Kapitel 1 – Schichtende

Ich stehe vor dem Automaten, der mir seit drei Jahren konsequent den falschen Kaffee ausspuckt. Heute macht er keine Ausnahme. Lauwarm, zu süß, irgendwie nach Pappbecher schmeckend. Egal. Mein Rücken tut weh, meine Augen brennen, und ich bin seit 14 Stunden wach. Draußen dämmert es, dieses blaugraue Licht, das einen für eine Sekunde glauben lässt, man hätte geschlafen. Ich werf den Becher halbvoll in den Mülleimer. Treffer. Ohne zu zielen.

„Hannah, gehst du?“ fragt Martin, der Assistenzarzt, der immer so tut, als wäre alles ein bisschen schlimmer als es ist – oder besser, je nach Publikum. Ich nicke. „Nur noch kurz Luft holen.“ Er grinst. „Oder eine rauchen?“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht.“
Ich rauche nicht mehr. Seit 2 Jahren. Aber manchmal stelle ich mich noch vors Haus und tu so.

Der Hof vor der Notaufnahme ist nass vom Regen. Der Asphalt glänzt wie eine Bühne, die keiner betreten will. Ein Rettungswagen fährt an, Blaulicht ohne Sirene. Der Fahrer wirkt müde. Ich auch. Ich ziehe die Jacke enger, obwohl es gar nicht kalt ist.

Ein Bus fährt vorbei. Liniennummer 247. Ich frage mich, wohin der fährt, immer um diese Uhrzeit. Wer sitzt da drin? Wer fährt freiwillig um 6:17 Uhr durch Berlin?

Mein Handy vibriert. Nachricht von Merle.
„Frühstück bei mir? Bin eh wach.“
Ich starre auf den Bildschirm. Tippe „Bin tot. Morgen vielleicht.“ und schicke es nicht ab. Stattdessen schalte ich das Handy aus. Einfach aus. Ein Akt der Rebellion gegen alles, was zu laut ist.

Ich gehe los, ohne Ziel. Die U-Bahnstation liegt fünf Minuten entfernt. Ich nehme den längeren Weg. Vor mir: ein leerer Kaugummi-Automat, ein Streifenlicht, das flackert. Ich überquere die Straße bei Rot. Keine Autos.

Und für einen kurzen Moment denke ich, vielleicht einfach weiterlaufen. Nicht zur Bahn. Nicht zu Merle. Nicht nach Hause. Einfach gehen.
Aber ich bleibe stehen. Die Stadt atmet kalt gegen meine Haut. Und ich atme mit. Noch.

Kapitel 2 – Blaugrau

In meiner Küche tropft der Wasserhahn. Regelmäßig, fast beruhigend. Ich sitze auf dem kleinen Hocker neben dem Fenster, Füße auf der Heizung, Blick in den Hof. Eine Katze springt über einen umgekippten Kinderwagen. Im dritten Stock schreit ein Baby. Im Erdgeschoss brüllt jemand nach jemandem, der längst nicht mehr zuhört.

Der Tee ist kalt geworden. Kamille. Ich weiß nicht, warum ich immer Kamille kaufe. Vielleicht wegen der Farbe. Vielleicht weil es nach Apothekenkindheit schmeckt, nach dem Versuch, etwas zu beruhigen, das nicht beruhigt werden will.

Merle schreibt nochmal.
„Du bist seltsam.“
Ich schreibe zurück:
„War ich schon immer.“

Vor drei Tagen hat sie gesagt, ich sei „nicht mehr ganz da“. Als würde ich langsam durchlässig werden. Ich hab gelacht. Nicht, weil es lustig war. Sondern weil ich nicht wusste, was ich sonst tun soll.

Ich gehe duschen, zu lange. Das Wasser ist heiß, brennt mir fast die Haut weg. Ich denke an nichts. Also, nicht aktiv. Irgendwas rauscht durch den Kopf, wie ein Zug in einem Tunnel. Geräusch ohne Form.

Später im Bad sehe ich mein Gesicht im Spiegel. Ich sehe aus wie ich, nur müder. Keine Katastrophe, keine Verzweiflung. Nur dieses Blaugrau unter den Augen. Fast schön, wenn man will.

Ich ziehe Jeans an, einen Pullover mit einem Loch am Ärmel. Die Jacke vom Vortag, grün und zerknittert. Draußen nieselt es wieder. Alles ist gedämpft. Die Geräusche, das Licht, sogar mein Gang über das Pflaster.

Unten an der Ecke steht Herr Leonhardt mit seinem Dackel. Der Hund sieht mich an, als hätte er mich erkannt. Ich nicke ihm zu. Er niest.

An der Kreuzung bremst ein Bus zu hart, quietscht über die nassen Schienen. Eine Frau im Inneren schlägt die Stirn gegen die Scheibe, bleibt einfach sitzen. Ich frage mich, ob sie auch gerade denkt, sie müsste irgendwo ganz anders sein. Irgendwo, wo nichts quietscht, wo niemand schreit, wo man nicht antworten muss.

Ich laufe weiter. Einfach so. Keine Schicht heute. Kein Ziel. Nur das Gehen.
Und das Blaugrau.
Es bleibt. Wie ein Schatten, den man nicht abschütteln kann.

Kapitel 3 – Rückspiegel

Die E-Mail ist kurz.
Betreff: „Papa’s Haus“
Text: nichts. Kein „Hallo“, kein „Wie geht’s dir“, nicht mal ein Punkt. Nur das Betreffwort, irgendwo zwischen Drohung und Einladung.

Mein Bruder heißt Leo. Früher mal: Leonie. Er war der Stillere von uns beiden. Ich hab geredet, er hat geschwiegen. Ich hab getobt, er hat gesammelt – Steine, Scherben, Wörter. Später dann Schweigen. Das war seine Spezialität. Nach dem Umzug nach Mainz war erstmal Funkstille. Zwei Jahre lang.

Ich starre auf die Mail und weiß sofort, was sie bedeutet.
Das Haus.
Das alte Haus am Rand von Wittendorf, schief und zu groß, muffig, mit der schrecklich bunten Tapete im Flur und dieser Lampe, die aussah wie eine umgedrehte Blume.

Papa ist seit neun Monaten tot. Begraben mit allem, was wir nie geklärt haben. Ich war nicht bei der Beerdigung. Ich hatte Dienst. Wirklich. Also: Vielleicht.

Ich klappe das MacBook zu. Merle würde jetzt was sagen wie: „Der will nur Frieden.“
Aber was weiß Merle schon von diesem Haus. Von diesen Sonntagen mit kaltem Braten und der Stille, die in den Wänden saß wie ein zweiter Vater.
Ich will die Mail löschen.
Ich klicke auf „Papierkorb“.
Dann doch nicht.

Ich rufe Leo nicht an. Ich tue so, als wäre nichts gewesen. Ich gehe raus, setze mich in ein Café, bestelle einen Milchkaffee, der zu stark ist, und beobachte Leute. Ich mag das. Menschen beobachten. Ihre Körperhaltung, ihre Zögerlichkeit, wie sie ihr Handy halten, wie oft sie auf den Bildschirm tippen, obwohl nichts Neues da ist.

Neben mir sitzen zwei Studentinnen, Biologie, wenn ich es richtig aufschnappe. Sie lachen über irgendwas mit Zellteilung. Ihre Leichtigkeit macht mir fast körperlich weh. Als hätte ich sie mal besessen. Oder geträumt.

Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster.
Dann wieder das Handy. Ich tippe:
„Was willst du mit dem Haus?“
Schicke es nicht ab.

Stattdessen bezahle ich, zu großzügig. Gehe raus. Die Luft riecht nach Diesel und Teig. Ich denke an Papa, wie er immer abends im Garten stand, eine Zigarette rauchend, das Hemd offen, die Hände voller Erde. Er war nie warm. Aber echt. Hart wie eine Schaufel, schwer wie Schweigen.

Ich laufe zum Ufer, setze mich auf eine Bank. Die Spree ist grau. Es regnet jetzt leicht, fast zärtlich.
Ich denke: Vielleicht fahr ich hin. Nur schauen. Nur einmal.

Aber ich weiß, wie das endet.
Ich fahr hin. Ich schau. Ich bleib.

Kapitel 4 – Kalter Kaffee

Der Zug ist leer. Ein Dienstagmorgen im Februar, zu spät für Pendler, zu früh für irgendwas anderes. Ich sitze am Fenster, der Kaffeebecher von Kamps in der Hand. Lauwarm. Süßlich. Wie immer. Der Deckel sitzt schief. Ich trinke trotzdem.

Wittendorf liegt irgendwo zwischen „früher mal hübsch“ und „bald vergessen“. Zwei Stunden raus aus Berlin, dann noch ein Bus, der nur viermal am Tag fährt. Ich hab nicht gepackt. Nur die Jacke, eine Zahnbürste, Unterwäsche. So ein „Ich bleib nicht lang“-Notfallpaket. Lüge in Stoffform.

Das Abteil riecht nach alten Jacken und Heizung. Eine ältere Frau strickt. Neben ihr liegt ein Hunderucksack, aus dem ein zahnloses Gesicht guckt. Der Hund starrt mich an. Ich starre zurück.
Unentschiedenes Unbehagen.

Ich frage mich, ob Leo da sein wird. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hat er einfach den Schlüssel unter dem Blumentopf gelassen, wie früher. Oder er will, dass ich zuerst reingehe. Damit ich wieder gehe.

Die Landschaft zieht vorbei: Felder, Brachland, Häuser mit Rollos unten. Deutschland in Winterfarben. Alles wirkt ausgedacht. Als hätte jemand die Sättigung rausgedreht. Nur das Kaugummi an meinem Sitz ist knallblau. Natürlich.

Ich versuche, nicht zu denken. Es klappt halb. Mein Kopf sortiert automatisch Bilder: Papa mit dem Rasenmäher. Mama mit Sonnenhut, als sie noch lachte. Leo, wie er mir mit elf das Fahrrad aufpumpte, obwohl ich’s ihm nicht zugetraut hab.

Einmal, als ich zwölf war, hab ich den Gartenschlauch durchs Schlafzimmerfenster gelegt und den Wasserhahn aufgedreht. Keine Ahnung warum. Wahrscheinlich einfach, weil ich’s konnte. Papa hat nichts gesagt. Nur gewischt. In Stille. Diese Stille hat mich mehr erschreckt als jedes Schreien.

Der Zug hält in Wittendorf. Endstation. Ich bin die Einzige, die aussteigt.

Am Bahnsteig riecht es nach kaltem Rauch und nassem Holz. Irgendwer hat „WIR WOLLEN LEBEN“ auf ein Schild gesprüht, das auf den Ortseingang zeigt. Ironisch, denkt irgendwas in mir. Zynisch, flüstert das andere.

Ich laufe los. Den Weg kenn ich. Immer geradeaus, vorbei an der alten Tankstelle, an der Bushaltestelle mit den zerkratzten Plexiglasscheiben. Nichts hat sich verändert.
Oder vielleicht ich.

Vor dem Haus bleibe ich stehen.
Das Dach ist noch schiefer als in meiner Erinnerung. Die Fenster dunkel. Die Veranda von Moos überwuchert. Irgendwas klappert im Wind.
Ich greife unter den Topf. Der Schlüssel ist da.

Ich schließe auf.
Die Tür klemmt.
Drinnen riecht es nach Staub und altem Holz.
Und nach Kaffee.

Ich bleibe stehen. Lausche.

Da ist wirklich Kaffee.
Frisch.
Jemand ist hier.

Kapitel 5 – Zug um Zug

Ich stehe im Flur, der Fußboden knarzt unter jedem Schritt, als würde er protestieren. Links die Garderobe mit der zerkratzten Spiegelfläche, die schon in meiner Kindheit Dinge gezeigt hat, die nicht da waren – oder nicht mehr. Papas alte Mütze hängt noch am Haken, ausgefranst, wie vergessen. Alles hier wirkt, als hätte jemand es nur kurz verlassen und nie den Weg zurückgefunden.

Der Kaffeeduft ist real. Nicht eingebildet. Warm. Frisch. Ich gehe langsam Richtung Küche, der Türrahmen schief, wie immer. Im Regal steht noch der Becher mit dem Esel drauf – „Morgenmuffel“ in krakeliger Schrift. Ein Geschenk von Leo, vor Ewigkeiten. Ich habe ihn gehasst, weil ich ihn mochte. Beides gleichzeitig.

In der Küche sitzt niemand.

Die Maschine ist aus, der Kaffee halbvoll in der Kanne. Kein Dampf mehr. Zwei Tassen stehen auf dem Tisch. Eine leer. Eine noch fast voll. Kein Zucker. Keine Milch. Nur Kaffee, schwarz wie das Klavier im Wohnzimmer, das niemand mehr spielt.

Ich rufe:
„Leo?“
Keine Antwort.
Noch mal, lauter:
„Leo!“
Stille. Und dann – ein Knarren von oben. Schrittgeräusche? Vielleicht nur das Haus. Vielleicht mehr.

Ich nehme die Tasse, die noch voll ist, trinke einen Schluck. Lauwarm. Bitter.
Leo war immer der Bittertrinker.

Ich gehe zurück in den Flur, starre die Treppe an, die nach oben führt. Die erste Stufe hat eine Delle, die zweite knackt. Ich weiß das noch, wie man sich früher nach oben geschlichen hat, als das noch verboten war. Als alles verboten war.

Oben ist es dunkler. Die Luft dichter. Staub liegt in den Ecken wie vergessene Zeit. Ich schiebe die Tür zu Leos altem Zimmer auf. Leer. Nur ein Karton auf dem Bett, mit einer Decke drüber.

Im Flur liegt ein Zettel auf dem Boden. Gefaltet. Ich hebe ihn auf. Die Handschrift ist seine.
„Bin bald zurück. Schau dir das Album an.“
Kein Name. Kein Gruß. Nur das.

Das Album liegt auf dem Küchentisch. Ich hab’s gar nicht gesehen.
Brauner Einband, Ecken abgestoßen. Ich klappe es auf.

Die erste Seite: ein Foto von Mama, lachend, ganz jung, mit Leo als Baby auf dem Arm.
Zweite Seite: ich, am Rand eines Planschbeckens, Sonnenhut, Schnute.
Dann Papa, halb hinter einem Apfelbaum. Immer halb.

Ich blättere weiter. Bilder, die ich vergessen hatte. Szenen, die sich nicht wie meine anfühlen. Und dann eine Seite, leer – aber eingerahmt. Wie eine Lücke, die jemand absichtlich gelassen hat. Für was?

Draußen fällt Regen. Laut auf die Scheiben. Und ich spüre: ich bin wieder drin. Im Haus, in der Geschichte, im Dazwischen.

Ich schlage das Album zu.
„Na gut“, murmele ich.
„Dann warten wir eben.“

Kapitel 6 – Unkraut

Der Garten hat zugemacht. Komplett.
Was früher Rasen war, ist jetzt eine wuchernde Masse aus allem, was keiner haben will: Brennnesseln, wilder Wein, klebrige Disteln, die sich an meine Jeans heften, als wollten sie bleiben. Der alte Apfelbaum steht noch, schief und voller Moos, als hätte ihn jemand vergessen aufzurichten. Ich erinnere mich an das Geräusch der Falläpfel. Dumpf. Und immer ein bisschen traurig.

Ich hab mir Papas alte Gartenschere geschnappt. Sie quietscht bei jedem Schnitt. Ich schneide, ohne Plan. Nicht wegen der Ordnung, sondern weil ich das Gefühl loswerden will, dass alles über mich drüberwächst. Auch innen.

Die Gartenschere verklemmt sich in einem dicken Ast. Ich fluche leise, ziehe, reiße, bis sie nachgibt. Meine Hand ist voll Matsch. Irgendwas blutet. Wahrscheinlich ich.

Ich setz mich auf den alten Liegestuhl, der noch da ist. Die Stoffbahn eingerissen, das Holz moosgrün, aber stabil. Mein Puls geht runter. Ich hör das Knacken der Äste über mir, der Wind fährt durch den Efeu, der inzwischen bis ans Dach reicht.

Ich erinnere mich an den Sommer, in dem Leo einfach verschwunden war. Vier Tage lang. Mama ist fast ausgerastet. Papa hat kein Wort gesagt. Am fünften Tag kam Leo wieder, einfach so. Mit einem Igel im Rucksack. Hat behauptet, er hätte sich verlaufen. Niemand hat’s ihm geglaubt.
Ich schon. Weil ich wusste, wie leicht man verloren geht. Auch, wenn man eigentlich nie weg war.

Irgendwo in der Hecke liegt noch das rostige Fahrrad, mit dem ich einmal von der Straße abgekommen bin. Ich bin in den Graben gerutscht, das Knie aufgeschlagen, das T-Shirt zerrissen. Papa hat mich wortlos rausgezogen. Kein „Alles gut“, kein Pflaster. Nur ein Blick. Und der war irgendwie schlimmer als jedes Donnerwetter.

Ich hab nie gefragt, warum sie so wurden, wie sie waren. Mama mit ihren stummen Tagen und den Listen, die sie überall aufhängte: „Butter. Müll. Tabletten. Ruhe.“
Und Papa mit seiner Art, in allem nur die Hälfte zu zeigen.

Der Himmel zieht sich zu. Es riecht nach nasser Erde und alten Dingen. Ich geh wieder rein, Hände dreckig, Herz irgendwie auch.
In der Küche ist alles noch wie vorher. Das Album liegt offen. Auf der leeren Seite hat jemand mit Bleistift geschrieben:

„Weißt du noch, was hier war?“

Ich nicht.
Oder noch nicht.

Kapitel 7 – Nachbarn

Ich sitze auf der Veranda und trinke Wasser aus einem Bierglas. Das alte, mit dem Hirsch drauf. Der Boden ist schief unter meinen Füßen, so wie alles hier. Schieflage als Standard.

Irgendwo schneidet jemand Holz. Das monotone Geräusch einer Säge, das in die Luft säbelt, rhythmisch und geduldig. Ich erkenne das Muster. Drei Schnitte, dann Pause. Dann wieder drei. Jemand, der nicht in Eile ist. Jemand, der weiß, was er da tut.

Ich geh rüber, eher aus Trotz als aus Neugier. Nicht mal hundert Meter weiter, hinter dem alten Hühnerstall, steht er. Tim.
Holz vor sich, eine Kappsäge in der Hand, Ohrenschützer um den Hals.
Bart. Blaue Jacke. Die Haare kürzer als früher, aber die Haltung ist dieselbe: leicht schief, als würde er sich auf nichts ganz einlassen wollen.

Er sieht mich. Keine Überraschung im Blick. Kein Lächeln. Nur ein leichtes Nicken.
„Na“, sagt er.
„Mhm“, sag ich.

Wir stehen einen Moment so da, als würde jemand Regie führen, und beide hätten den Einsatz verpasst.

„Leo da?“
„Kommt später. Angeblich.“
„Und du?“
„Auch angeblich.“

Er nimmt ein weiteres Brett, legt es auf den Sägebock, schaltet die Maschine an. Sie kreischt los, splitternd und staubig. Ich trete einen Schritt zurück, obwohl ich genau weiß, dass das unnötig ist.

„Was willst du mit dem Haus?“ ruft er über den Lärm.
Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht. Steht halt noch.“
Er nickt wieder. „Mehr als man von manchen Leuten sagen kann.“

Ich weiß nicht, ob er mich meint. Oder sich. Oder gar niemanden. Das ist das Problem mit diesen Sätzen – sie tragen zu viel und sagen zu wenig.

Als er fertig ist, greift er nach einer Thermoskanne, reicht mir eine Tasse. Schwarzer Kaffee. Noch warm.
„Keine Milch, kein Zucker“, sagt er.
„Passt schon.“

Wir trinken schweigend. Der Wind fährt durch die Bäume. Irgendwo schreit ein Greifvogel oder ein alter Gartenschuppen, ich kann’s nicht auseinanderhalten.

„Hast dich verändert“, sagt Tim irgendwann.
Ich überlege kurz, was ich antworten will. Sag dann nur:
„Hab ich öfter gehört.“

Er schaut mich an, nicht zu direkt, aber lang genug, dass es irgendwo unter die Haut geht.
„Bleibst du?“
Ich spüre den Boden unter mir, weich vom Regen.
„Weiß noch nicht“, sag ich.
Aber wir beide wissen: das ist schon eine Art von Ja.

Kapitel 8 – Stille Räume

Ich stehe oben vor der Tür zu Papas Schlafzimmer. Die, die immer zu war. Auch als wir noch klein waren und Alpträume hatten. Auch als Mama gegangen ist. Damals hat er einfach den Schlüssel rumgedreht. Zack. Tür zu. Thema auch.

Die Türklinke ist kühl. Ich drücke sie langsam runter, wie jemand, der etwas Lebendiges stört.
Es riecht nach Schlaf und alten Kleidern. Nach Mann, der nie ganz angekommen ist.
Die Gardinen hängen schief, der Vorhang auf einer Seite lose. Auf dem Nachttisch liegt ein Taschenmesser, offen.
Daneben ein zusammengefalteter Zettel.

Ich nehme ihn.
Nur ein Wort steht drauf:
„Verzeih.“
Kein Punkt. Keine Handschrift, die ich klar zuordnen kann. Vielleicht Leo. Vielleicht Papa. Vielleicht gar keiner von beiden.

Der Raum ist aufgeräumt. Viel zu sehr. Das Bett gemacht. Der Stuhl neben dem Fenster leer. Keine Bücher. Keine Fotos. Nur ein Schrank, halb offen, in dem fünf Hemden hängen, alle in der exakt gleichen Farbe: müdes Blau.
Das ist das Traurigste, was ich seit langem gesehen habe.

Ich setze mich aufs Bett. Es quietscht nicht. Wie er.

Dann, unter dem Kopfkissen, finde ich es.
Ein kleiner Kassettenrekorder.
Alt. Mit Batterie. Und ein Tape drin, beschriftet mit Bleistift:
„Nicht hören, wenn du bleiben willst.“

Ich starre auf das Ding. Ich drücke nicht sofort Play. Ich leg’s nur neben mich, als wäre es ein Tier, das beißt, wenn man zu schnell ist.

Stattdessen gehe ich rüber in mein altes Zimmer.
Tür klemmt. Teppich aufgerollt. Das Fenster ist offen – obwohl es draußen regnet.
Innen noch alles, wie ich’s verlassen hab: ein Poster von The Notwist, eingerissen an der Ecke. Ein Regal mit alten Taschenbüchern: „Die Wolke“, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, „Anne auf Green Gables“. Ich war schon immer schlecht im Loslassen.

Auf dem Boden liegt ein Notizbuch. Schwarz, Gummiband, vollgekritzelt.
Seite für Seite mit Zitaten. Nicht meine. Ich blättere. Alles durcheinander: Kafka, Rilke, Tocotronic.
Dann mittendrin ein Satz, mit Filzstift:
„Die Wahrheit ist ein Zimmer ohne Tür.“

Ich schlucke trocken.
Ich erinnere mich daran, wie Leo das mal gesagt hat. Im Streit.
Ich hatte das Fenster zugeschlagen, er hatte geschrien. Und Papa stand nur da – Türrahmen, stumm, wie immer.

Ich gehe zurück ins Schlafzimmer.
Setz mich wieder aufs Bett.
Nehme den Recorder.
Drücke Play.

Ein Kratzen. Dann eine Stimme.
Nicht Leo. Nicht Papa.
Meine eigene.

Jung. Zerbrechlich.
„Wenn du das hörst, hab ich’s vielleicht geschafft. Vielleicht bin ich endlich weg. Vielleicht auch nicht.“

Pause.
Atmen.

„Ich hab versucht, euch alle zu verstehen. Aber ich glaub, ich hab nur gelernt, mich selbst zu verlieren.“

Dann klickt das Band. Ende.

Ich starre die Wand an.
Und frage mich:
Wann hab ich das aufgenommen?

Kapitel 9 – Nicht helfen

Das Handy klingelt. Ich zucke zusammen, als wär’s ein Alarm. Es liegt auf der Kommode, zwischen einem zerfledderten Taschenbuch und einem abgebrochenen Kerzenständer.
Merle. Natürlich.

Ich nehme ab, schweigend.

„Hannah?“ Ihre Stimme ist zu laut. Oder ich bin zu leise geworden.
„Ja“, sag ich.
„Gut. Du… hör zu, ich weiß, du bist da irgendwo im Nirgendwo und machst deine Vergangenheitsbewältigungsnummer…“
Ich atme ein. Merle hat einen Ton drauf, der direkt unter die Haut geht.
„…aber ich brauch dich. Jetzt. Es ist Lea.“

Lea. Ihre Tochter. Acht. Großäugig. Klug. Zu klug manchmal.
„Was ist?“
Stille. Nur ihr Atem.
„Sie hat gestern was gesagt. Über die Brücke. Dass sie springt, wenn ich weiter schreie.“

Mir bleibt was im Hals stecken.
„Hat sie’s versucht?“
„Nein! Also… ich glaub nicht. Sie war einfach… seltsam. Ganz ruhig. So eisklar. Weißt du, wie meine Mutter, bevor sie das Weinglas geworfen hat.“
Ich weiß. Merles Mutter. Ein Kapitel aus Glas und Scherben.

„Was soll ich tun?“ fragt sie. Und das ist der Moment, in dem ich merke, dass ich gerade nicht kann.

Ich sitze in einem Zimmer, das nicht mehr mir gehört, mit einer Kassette in der Hand, auf der meine eigene Stimme mich warnt, und ich soll helfen? Jetzt?

„Hannah?“
Ich sage nichts.
„Bist du noch da?“
„Ja.“
„Dann sag was.“
„Ich… ich weiß nicht, Merle. Ich kann grad nicht.“
Pause.

Man hört ihre Enttäuschung, wie einen Topf, der zu Boden fällt.

„Weißt du was? Vergiss es.“
„Merle, das war nicht—“
„Nein. Ist okay. Mach dein Ding. Ich regel das. Wie immer.“

Klick. Verbindung tot.

Ich lege das Handy weg. Ich höre auf meine Atmung. Zu schnell. Zu flach. Ich drücke die Augen zu, als würde das irgendwas bringen.
Im Flur knackt das Holz. Oder das Haus seufzt.

Ich hab immer geholfen. Immer irgendwie funktioniert.
In der Klinik. Für Leo. Für Merle. Für Leute, die mir ins Gesicht geblutet haben, ohne zu wissen, wie sie heißen.
Aber heute nicht. Heute nicht.

Ich lehne den Kopf an die Wand.
Es riecht nach Staub und Wut. Und irgendwas Unausgesprochenem.

Draußen wird es dunkler.
Ich bleib sitzen.

Kapitel 10 – Fehler im Licht

Es ist Nacht. Und es ist nicht diese sanfte, milde Nacht wie in der Stadt, wo alles irgendwie glimmt – es ist eine Landnacht. Dunkel wie Tinte, dick wie altes Öl.
Ich liege auf dem Sofa im Wohnzimmer, eine Wolldecke über den Beinen, die nach Kamfer riecht und nach früher. Der Fernseher geht nicht. Kein WLAN. Nur das Ticken der Wanduhr, das lauter wird, je länger man hinhört.

Ich habe versucht, nicht an Merle zu denken. Hat nicht funktioniert.
Ich habe versucht, nicht an die Kassette zu denken. Noch schlechter.
Und jetzt liege ich hier, hellwach, und kann nicht raus, weil ich Angst hab, dass das Haus sich bewegt, wenn ich nicht hinschaue.

Irgendwo draußen schreit eine Eule.
Oder ein Kind. Ich kann’s nicht auseinanderhalten.

Ich gehe in die Küche, hole mir ein Glas Wasser. Der Hahn quietscht. Das Wasser ist kalt wie Metall.
Ich trinke. Und sehe dann im Flur das Licht flackern.

Nicht normal. Kein Stromaussetzer. Sondern so, als würde jemand mit einem Dimmer spielen. Ein bisschen heller. Ein bisschen dunkler. Unentschlossenes Leuchten.
Ich bleibe stehen.
Höre das Haus atmen.
Höre das Knacken von Dielen, obwohl ich genau weiß, dass ich allein bin.
Glaube ich.

Ich schalte das Licht aus. Komplett.
Warte.
Und sehe dann… nichts. Schwarz. Schwarz auf Schwarz.

Aber da ist ein Gefühl.
Dass etwas da ist.
Nicht bedrohlich. Eher traurig.
Wie jemand, der vergessen wurde und es erst jetzt selbst merkt.

Ich gehe ins alte Arbeitszimmer von Papa. Die Tür ist nur angelehnt.
Drinnen riecht es nach Papier, Bleistift und kaltem Kaffee, obwohl da kein Kaffee steht.

Auf dem Schreibtisch liegt ein Foto. Ich weiß nicht, woher es kommt.
Darauf: Ich und Leo.
Ich bin vielleicht neun, er zehn.
Wir stehen vorm Haus, lachen. Und hinter uns: Mama. Nicht im Fokus, aber da.
Die Hand auf Papas Schulter.
Das ist das Seltene. Das Berührende.
Sie lacht.
Und ich erinnere mich an diesen Tag nicht.

Unter dem Foto steht, mit schwarzem Filzstift:
„Der Tag, an dem alles noch möglich war.“

Ich drehe mich um, will etwas sagen – zu niemandem, vermutlich mir selbst.
Und da steht Tim in der Tür.

„Licht war an“, sagt er.
Ich starre ihn an.
„Du bist… einfach reingekommen?“
„Tür war nicht abgeschlossen.“

Ich nicke.
Weil ich weiß, dass ich das absichtlich gemacht hab.
Vielleicht wollte ich, dass jemand kommt.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, sagt er leise.
Ich schüttle den Kopf.
„Nur mich.“

Er kommt näher. Nicht aufdringlich. Nur… da.

Wir stehen im Halbdunkel, und es gibt nichts zu tun.
Keine Diagnose. Keine Schicht. Kein Gespräch, das geführt werden muss.
Nur diese Stille.
Diese Nacht.

Und ich denke: Vielleicht ist das der Fehler im Licht.
Dass man manchmal jemanden braucht, der bleibt, auch wenn alles flackert.

Kapitel 11 – Bleiben oder gehen

Tim steht noch da, als wäre nichts, aber auch nicht alles gesagt worden. Hände in den Taschen, Blick auf das Foto, das noch auf dem Tisch liegt.
„Du lachst da“, sagt er.
Ich zucke mit den Schultern. „War wohl ein Irrtum.“

Er lacht nicht. Er nickt nur. Und ich mag ihn dafür.

Wir setzen uns in die Küche. Ohne große Worte. Ich mach Tee, er stellt zwei Tassen hin. Es ist zwei Uhr morgens. Oder drei. Wer weiß das schon in Häusern, in denen Zeit nicht mehr richtig funktioniert.

„Was war das mit der Kassette?“ fragt er, beiläufig.
Ich will abwehren. Sag’s dann aber doch:
„Ich hab drauf gesprochen. Vor Jahren. Keine Ahnung wann. Und ich weiß nicht mehr, warum.“
„Vielleicht wolltest du dich erinnern.“
„Oder vergessen.“
„Klappt ja beides mäßig.“

Ich muss lachen. Nicht laut. Aber so, dass es mir kurz warm wird im Brustkorb.
Er nippt an seinem Tee. Dann sieht er mich an. Direkt.
„Weißt du, was mich am meisten wundert?“
Ich schüttle den Kopf.
„Dass du überhaupt wiedergekommen bist.“
„Ich auch.“
„Und?“
Ich lege die Stirn in die Hand. Die Fliesen unter meinen Füßen sind kalt.
„Es war leichter, nicht zu bleiben, als zu wissen, wohin ich sonst soll.“

Tim nickt. Langsam.
Dann steht er auf, geht zum Fenster, zieht den Vorhang beiseite.
„Früher hast du gesagt, du willst nie wie deine Eltern werden.“
Ich zucke.
„Ja. Hab ich auch versucht.“
„Und?“
„Bin gescheitert.“
„Herzlichen Glückwunsch. Willkommen im Club.“

Es ist dieser Moment, in dem man aufsteht, obwohl man gern noch bleiben würde.
Ich begleite ihn zur Tür. Er dreht sich um.
„Ich bau unten bei mir was um. Alte Werkstatt, wird vielleicht ein Atelier. Falls du mal… was machen willst. Irgendwas.“
„Wie malen?“
„Oder schweigen. Geht beides.“

Ich nicke.
Er nickt.
Dann geht er raus. Ohne ein Wort zu viel.

Ich schließe nicht ab. Wieder nicht.
Und setz mich aufs Sofa.
Draußen beginnt es zu dämmern.
So ein Dämmern, das mehr verspricht, als es halten kann.

Ich frage mich: Bleiben oder gehen?
Und zum ersten Mal fühlt sich keine der Optionen wie Flucht an.

Kapitel 12 – Heimweg

Der Bus nach Berlin fährt um 6:42 Uhr. Ich sitze ganz hinten, mit einer Brottüte auf dem Schoß, die Leo irgendwann heimlich neben der Kaffeemaschine deponiert haben muss.
Zwei belegte Stullen, ordentlich in Butterbrotpapier gewickelt, wie früher. Einer mit Käse, einer mit dem Aufstrich, den ich immer mochte.
Das ist seine Art zu sagen: „Ich hab’s gesehen, dass du da warst.“

Ich esse nichts. Ich starre aus dem Fenster. Die Felder ziehen vorbei, matt und braun, unterbrochen von Nebelschwaden, als hätte jemand vergessen, den Morgen aufzuräumen.

Wittendorf liegt hinter mir wie ein zu groß geratenes Kapitel. Ich weiß nicht, ob es zu ist. Nur, dass ich umgeblättert habe.

In Berlin ist es lauter, greller, hektischer. Die Leute rempeln, ohne es zu merken. Die Ampeln sind schneller, die Straßen dreckiger. Ich nehme die U-Bahn. Setze mich neben einen Mann, der nach Bier riecht und nach gestern aussieht.

Mein Handy vibriert.
Merle.
Ich starre auf den Namen. Drei Sekunden. Fünf. Dann nehme ich ab.

„Hey.“
„Hey“, sagt sie. Ihre Stimme ist brüchig.
„Wie geht’s Lea?“
„Besser. Ich hab mit ihr gesprochen. Richtig. Nicht pädagogisch. Nicht mit erhobenen Zeigefinger. Einfach… so wie wir reden. Wenn wir reden.“
Ich nicke, obwohl sie’s nicht sieht.
„Danke, dass du angerufen hast.“
„Ich war sauer“, sagt sie.
„Zu Recht.“
„Aber du hast trotzdem gefehlt.“

Ich sage nichts. Weil es stimmt. Weil ich gleichzeitig da war und nicht. Wie immer.

„Kommst du vorbei?“
Ich denke kurz nach. „Heute nicht.“
„Morgen?“
„Vielleicht. Ich meld mich.“
„Mach das.“

Klick. Gespräch vorbei. Aber nicht abgeschlossen. Auch wie immer.

Zuhause ist alles wie vorher. Der Stapel ungelesener Post. Die Pflanze, die nur überlebt, weil sie mich nicht braucht. Die Jacke über dem Stuhl, seit Tagen.

Ich gehe duschen. Lange. Stehe einfach unter dem Wasser, bis die Haut rot wird.
Dann ziehe ich mir frische Sachen an. Jeans. Pulli. Die Uhr, die nicht geht, aber gut aussieht.

Ich setze mich an den Küchentisch. Mache mir einen Kaffee. Ohne Maschine. Nur Wasser, Pulver, Löffel.

Ich schaue auf die Brottüte von Leo, die ich mitgenommen hab. Öffne sie endlich.
Ich esse. Langsam.
Und mit jedem Bissen denke ich: Vielleicht ist das auch eine Art Heimweg. Nicht zurück – sondern dahin, wo’s wieder atmen lässt.

Kapitel 13 – Herzfrequenz

Der Geruch ist sofort wieder da.
Desinfektionsmittel, altes Plastik, ein Hauch von Schweiß, den keiner wegsprüht. Die Notaufnahme um 7:30 Uhr morgens – das ist kein Ort, das ist ein Zustand.

Ich ziehe meinen Kittel über, der Haken klemmt immer noch. Ein Pfleger nickt mir zu. Neue Azubis. Martin nicht da. Keine Zeit zum Reinkommen, kein „Na, wie war dein Urlaub?“, obwohl ich offiziell gar keinen hatte. Einfach: Los.

Der erste Patient liegt schon auf der Trage. 58, Atemnot, zu viel geraucht, zu lange ignoriert. Ich lese das EKG wie ein fremdes Gedicht, das ich aber auswendig kann.
„Nitro?“, fragt die Assistenzärztin.
Ich nicke.
„Oberarzt?“
„Noch nicht.“
Ich lege meine Hand auf seine Schulter. Kurz. Menschlich. Dann wieder professionell.

Eine Stunde später ist alles wie immer.
Chaos, Piepen, Blutdruckwerte, flackernde Monitore.
Ein Mann mit gebrochener Nase, eine Frau mit Wehen in der 34. Woche, ein Kind, das die Welt nicht versteht, weil sein Bauch weh tut.

Und ich? Ich funktioniere.
Besser als je zuvor, fast beängstigend.
Irgendwo zwischen Adrenalin und Automatismus.
Nur innen drin klopft was.
Langsam. Beständig.
Wie eine Herzfrequenz, die sich gerade erst wieder einpendelt.

In der Mittagspause sitze ich im Personalraum. Jemand hat Kuchen mitgebracht. Ich esse nichts. Trinke nur Wasser. Schaue auf meine Hände.
Die rechte zittert leicht.

Martin kommt rein.
„Hey. Du warst weg.“
Ich nicke.
„Familie?“
„So was Ähnliches.“
Er setzt sich. Zögert.
„Du wirkst… anders.“
„Bin ich vielleicht.“

Er sagt nichts mehr. Und das ist gut so.

Ich gehe nochmal durch die Akten, bevor ich Feierabend mache. Eine letzte Unterschrift. Ein letzter Blick auf das EKG vom Morgen.

Herzfrequenz: 78.
Ruhig.
Stabil.

Ich verlasse die Klinik.
Draußen dämmert es. Die Stadt riecht nach Frühling, obwohl es noch Februar ist. Irgendwo spielt jemand Saxophon.
Nicht gut. Aber laut.

Ich gehe langsam.
Ohne Ziel.
Nur mit einem Rhythmus im Kopf.
Mein eigener.

Kapitel 14 – Hannah. Bleibt.

Ich sitze am Küchentisch.
Kein Licht. Nur das milchige Blau vom frühen Morgen, das sich durch die Fenster drückt wie eine Erinnerung, die nicht fragt, ob sie bleiben darf.
Der Kaffee dampft leise. Ohne Theater. Einfach da.

Ich hab Leo geschrieben. Kurz.
„Ich war da. Danke für den Tee.“
Mehr nicht. Er wird’s verstehen. Vielleicht sogar besser als ich.

Dann Merle.
Lange überlegt. Wieder gelöscht. Dann doch:
„Ich komm heut Abend vorbei. Wenn du willst. Ich bring Pizza mit.“
Zehn Sekunden später:
„Ja. Komm.“

Ich lebe noch.
Nicht im Instagram-Sinn.
Nicht „Ich mach Yoga und esse Quinoa“-mäßig.
Sondern: Ich bin da.
Mit allem, was dazugehört.
Mit dem Gewicht und der Leere.
Mit den Stimmen aus Kassettenrekordern und den Sätzen, die nicht gesagt wurden.

Ich hab den Schlüssel vom Haus in ein Marmeladenglas gelegt. Mit Erde vom Garten.
Ein kleiner Altar für Dinge, die vielleicht heilen wollen.
Nicht müssen. Nur dürfen.

Ich geh raus. Keine Jacke. Nur Pulli, Jeans, feste Schuhe.
Berlin brummt. Der Bus quietscht an der Ecke, ein Hund bellt wie besessen, zwei Teenager lachen zu laut.
Alles wie immer.
Und doch nicht.

Ich nehme die Bahn. Steig um. Hol Pizza.
Steh vor Merles Tür.
Sie macht auf.
Haare zerzaust, müde Augen.
„Du siehst beschissen aus“, sagt sie.
„Du auch“, sag ich.

Wir lachen. So ein Lachen, das von unten kommt.
Lea sitzt im Wohnzimmer, malt mit Filzstiften. Sie schaut kurz hoch.
„Hi Hannah.“
„Hi Lea.“

Sie malt weiter. Als wäre ich nie weg gewesen.
Ich setz mich aufs Sofa, klapp den Pizzakarton auf.
Merle gießt Wein ein. Rot. Schwer.
„Also?“, fragt sie.
Ich nehme einen Schluck.
„Ich bleib.“

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