Der verschobene Termin

Ich stehe vor dem Café und starre auf mein Handy. Die Nachricht ist vor zehn Minuten reingekommen. Termin abgesagt. Einfach so. Der Typ, mit dem ich mich treffen wollte, hat was Besseres gefunden. Oder was Schlimmeres ist ihm passiert. Keine Ahnung. Er schreibt nur: „Muss leider absagen. Melde mich.“ Kein neuer Termin, keine Entschuldigung.
Die Sonne knallt mir ins Gesicht. Es ist einer dieser Frühlingstage, die sich anfühlen wie Sommer. Zu warm für April. Mein T-Shirt klebt schon am Rücken. Ich überlege, was ich jetzt machen soll. Drei Stunden Zeit, die plötzlich niemandem gehören.
Ich schiebe das Handy in die Hosentasche und schaue die Straße runter. Das Café hatte ich sorgfältig ausgesucht. Nicht zu hip, nicht zu altmodisch. Guter Kaffee, aber keine absurden Preise. Jetzt stehe ich hier und der, für den ich den Ort ausgesucht habe, kommt nicht.
Egal. Ich gehe trotzdem rein. Der Raum ist kühl, fast kalt nach der Hitze draußen. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von einer Stadt, die ich nicht erkenne. Vielleicht Berlin in den Neunzigern. Die Barista hinter der Theke schaut auf, als ich eintrete. Sie hat kurze Haare, dunkel, mit einer einzelnen silbernen Strähne vorne. Sie lächelt nicht, nickt nur kurz.
„Cappuccino, bitte“, sage ich und lege mein Geld auf die Theke.
„Zum Mitnehmen?“
„Nein. Ich bleibe.“
Sie nimmt das Geld und dreht sich zur Maschine. Ich suche mir einen Platz am Fenster. Der Tisch ist etwas wackelig, aber das Licht ist gut. Ich kann die Straße beobachten und gleichzeitig nicht so leicht von draußen gesehen werden.
Die Barista bringt mir den Cappuccino. Er sieht perfekt aus, mit einem Blattmuster im Milchschaum. Ich danke ihr, aber sie ist schon auf dem Weg zurück zur Theke.
Draußen geht das Leben weiter. Menschen eilen vorbei, manche langsamer als andere. Ein Mann in einem zu großen Anzug. Eine Frau mit einem kleinen Hund, der ständig stehen bleibt, um an irgendetwas zu schnüffeln. Zwei Teenager, die so tun, als wären sie Erwachsene.
Ich nehme einen Schluck vom Kaffee. Er schmeckt besser, als er aussieht, und er sieht schon verdammt gut aus. Bitter, aber nicht zu bitter. Milchig, aber nicht zu milchig. Ich lehne mich zurück und spüre, wie meine Anspannung nachlässt. Die Enttäuschung über den abgesagten Termin ist noch da, aber sie wird schon schwächer.
Die Tür öffnet sich, und eine Frau kommt herein. Sie trägt ein blaues Kleid, das im Licht schimmert wie Wasser. Ihre Haare sind zu einem nachlässigen Knoten hochgesteckt, einzelne Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie bestellt etwas bei der Barista, dann sieht sie sich um. Das Café ist fast leer, nur ich und zwei ältere Herren in der Ecke, die Schach spielen und dabei nicht sprechen.
Sie kommt auf meinen Tisch zu. „Ist hier frei?“, fragt sie und deutet auf den Stuhl mir gegenüber.
„Ja“, sage ich, obwohl es überall freie Tische gibt. Sie hätte sich überall hinsetzen können. Aber sie hat meinen Tisch gewählt. Den wackeligen Tisch am Fenster.
Sie setzt sich und stellt ihre Tasse ab. Es ist ein einfacher schwarzer Kaffee. „Danke“, sagt sie und lächelt kurz. Dann nimmt sie ein Buch aus ihrer Tasche. Es ist abgegriffen, die Ecken sind umgeknickt. Ich kann den Titel nicht erkennen.
Ich trinke weiter meinen Cappuccino und beobachte die Straße. Ab und zu wandert mein Blick zu ihr. Sie liest konzentriert, die Stirn leicht gerunzelt. Manchmal bewegen sich ihre Lippen, als würde sie die Worte leise mitsprechen.
Die Zeit vergeht langsam. Ich bestelle noch einen Cappuccino. Sie ist immer noch in ihr Buch vertieft. Die Schachspieler in der Ecke haben ihre Partie beendet und eine neue begonnen.
Plötzlich schlägt sie das Buch zu und seufzt tief. Sie schaut auf und unsere Blicke treffen sich.
„Entschuldigung“, sagt sie. „Ich bin normalerweise nicht so unhöflich. Erst frage ich, ob ich mich zu Ihnen setzen darf, und dann ignoriere ich Sie vollkommen.“
„Kein Problem“, erwidere ich. „Es ist ein öffentliches Café. Sie müssen nicht mit mir reden.“
„Nein, aber es wäre höflicher gewesen.“ Sie streckt mir die Hand entgegen. „Ich bin übrigens gerade einem Termin entwischt.“
Ich nehme ihre Hand. Sie ist warm und trocken. „Ich auch. Oder besser gesagt, mein Termin ist mir entwischt.“
Sie lacht leise. „Was für ein Zufall. Meiner war mit einem Verleger. Er wollte über mein Manuskript sprechen, aber ich habe kalte Füße bekommen.“
„Sie sind Schriftstellerin?“
„Möchtegern-Schriftstellerin. Und Sie? Wer hat Sie versetzt?“
Ich zögere. „Ein potenzieller Geschäftspartner. Nichts Besonderes.“
Sie nickt und mustert mich. Ihre Augen sind grün mit kleinen goldenen Punkten darin. „Und jetzt haben Sie Zeit totgeschlagen, indem Sie Leute beobachten.“
„Erwischt“, sage ich und muss lächeln.
„Und? Haben Sie etwas Interessantes gesehen?“
Ich erzähle ihr von dem Mann im zu großen Anzug, von der Frau mit dem kleinen Hund, von den Teenagern, die so tun, als wären sie Erwachsene. Sie hört aufmerksam zu, den Kopf leicht geneigt.
„Sie haben ein gutes Auge für Details“, sagt sie, als ich fertig bin. „Vielleicht sollten Sie der Schriftsteller sein.“
„Nein, danke. Ich bleibe lieber Beobachter.“
Sie nippt an ihrem Kaffee, der inzwischen kalt sein muss. „Wissen Sie, ich glaube, ich werde nicht zu diesem Verleger gehen. Nicht heute, nicht morgen, nie.“
„Warum nicht?“
„Weil er mir sagen wird, dass mein Buch nicht gut genug ist. Und ich bin nicht bereit, das zu hören.“
„Woher wollen Sie wissen, was er sagen wird?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es einfach. Es ist ein Gefühl.“
„Manchmal liegen Gefühle falsch“, sage ich und denke an meinen eigenen abgesagten Termin. Ich hatte auch ein Gefühl gehabt, dass es nicht klappen würde. Und ich hatte recht.
„Darf ich fragen, worum es in Ihrem Buch geht?“
Sie zögert, dann legt sie das Buch auf den Tisch. „Es geht um Träume. Über eine Person, die in ihren Träumen Probleme löst. Nicht nur ihre eigenen, sondern auch die von anderen.“
Ich schaue auf das Buch. Der Titel lautet „Traumwanderer“. Kein Autorenname.
„Darf ich?“, frage ich und deute auf das Buch.
Sie schiebt es zu mir rüber. „Nur die erste Seite. Mehr vertrage ich nicht.“
Ich schlage das Buch auf und beginne zu lesen.
Ich träume immer in Farben. Manche Leute behaupten, sie träumen in Schwarz-Weiß, aber ich glaube ihnen nicht. Wie kann man in einer Welt ohne Farben träumen? In meinen Träumen sind die Farben sogar intensiver als in der Wirklichkeit. Das Blau des Himmels ist tiefer, das Grün der Bäume satter, das Rot der Lippen lebendiger.
In dieser Nacht träume ich von einer Stadt, die ich noch nie gesehen habe. Die Straßen sind eng und gewunden, die Häuser schief und alt. Es riecht nach frischem Brot und altem Stein. Ich weiß, dass ich hier bin, um jemandem zu helfen. Ich weiß nur noch nicht, wem.
Ich schaue auf und sehe, dass sie mich beobachtet. Ihre Augen sind unruhig, ihre Hände umklammern die Kaffeetasse.
„Das ist gut“, sage ich. „Wirklich gut.“
„Sie müssen das nicht sagen.“
„Ich sage es, weil es stimmt. Ich würde weiterlesen wollen.“
Sie nimmt das Buch zurück und steckt es in ihre Tasche. „Vielleicht ein andermal.“
Wir schweigen eine Weile. Draußen zieht eine Wolke vor die Sonne, und das Licht im Café wird gedämpfter.
„Ich sollte gehen“, sagt sie plötzlich und steht auf. „Danke für Ihre Gesellschaft.“
„Warten Sie“, sage ich, bevor ich darüber nachdenken kann. „Ich kenne einen Verleger. Einen guten. Er sucht immer nach neuen Talenten.“
Sie setzt sich langsam wieder hin. „Ist das ein Witz?“
„Nein. Er ist ein Freund von mir. Ich könnte ihm Ihr Manuskript zeigen. Wenn Sie möchten.“
Sie schaut mich skeptisch an. „Warum sollten Sie das tun? Sie kennen mich nicht einmal.“
Ich zucke mit den Schultern. „Nennen Sie es Intuition. Oder Schicksal. Oder einfach die Tatsache, dass wir beide heute einen Termin verpasst haben und dadurch hier gelandet sind.“
Sie schweigt, überlegt. Dann öffnet sie ihre Tasche und holt ein dickes Bündel Papier heraus. „Das ist es. Das ganze Manuskript. Ich hatte es dabei, um es dem anderen Verleger zu geben.“
Sie schiebt es über den Tisch. Es fühlt sich schwer an in meinen Händen. Verantwortungsvoll.
„Ich verspreche nichts“, sage ich. „Aber ich werde es lesen und an meinen Freund weitergeben, wenn ich denke, dass es gut ist. Und ich denke, es wird gut sein.“
Sie lächelt, zum ersten Mal richtig. Es verändert ihr ganzes Gesicht, macht es weicher, offener. „Danke. Das ist mehr, als ich erwarten konnte, als ich heute Morgen aufgewacht bin.“
„Für mich auch“, sage ich und meine es so.
Sie gibt mir ihre Kontaktdaten, und ich gebe ihr meine. Dann verabschieden wir uns. Sie geht zuerst, und ich bleibe noch einen Moment sitzen, mit dem Manuskript vor mir auf dem Tisch.
Die Barista kommt vorbei und nimmt unsere leeren Tassen. „Noch etwas?“, fragt sie.
Ich schüttele den Kopf. „Nein, danke. Ich gehe auch gleich.“
Sie nickt und geht zurück zur Theke. Ich packe das Manuskript in meine Tasche und stehe auf. Als ich die Tür öffne, steht die Sonne wieder am Himmel. Die Luft ist noch immer warm, aber jetzt fühlt es sich gut an.
Ich gehe die Straße entlang, in die entgegengesetzte Richtung als die Frau mit dem Manuskript. Aber ich weiß, dass wir uns wiedersehen werden. Ich habe es im Gefühl.
Heute Nacht werde ich von Träumen in leuchtenden Farben träumen. Von Städten, die ich nie gesehen habe, und von Menschen, denen ich helfen kann. Und wenn ich aufwache, werde ich das Manuskript lesen, von der ersten bis zur letzten Seite.
Der abgesagte Termin war kein Zufall. Es war eine Umleitung zu etwas Besserem. Manchmal muss man erst verlieren, um zu gewinnen. Manchmal muss man erst warten, um zu finden.
Ich lächle und gehe weiter, das Manuskript sicher in meiner Tasche, wie ein Versprechen, das darauf wartet, eingelöst zu werden.