Nora – Das dritte Zeichen

Kapitel 1: Das Geräusch vor dem Tor
Das erste Mal hör ich es um 03:16.
Kein Tier, kein Wind, kein normaler Fehler.
Ein Schaben. Als würde jemand mit einem Schlüssel an der Außenwand kratzen. Nur dass es draußen keine Schlüssel gibt. Nur Nebel, Beton und das, was wir nicht benennen sollen.
Ich bleib noch einen Moment liegen. Starre an die Decke. Der Lüfter in der Ecke schnarrt wie immer. Irgendwo tropft was, wahrscheinlich die Kaffeestation. Ich versuch’s zu ignorieren.
Funktioniert nicht.
03:18. Ich steh auf. Der Boden ist kalt, obwohl wir Heizplatten haben.
Ich zieh mir die Uniformjacke über. Das Ding ist zu schwer, zu steif, und es riecht nach Altöl, egal wie oft man’s reinigt. Ich fahr mit dem Daumen über das Abzeichen an der Brust – eingeritztes Symbol, abgegriffen. Drei Linien, die sich kreuzen. Früher hieß es, das war mal wichtig. Heute sagt keiner mehr was dazu.
Der Kontrollraum ist leer. Natürlich.
Ich bin die Nachtwache. Die anderen schlafen. Oder tun so.
Ich ruf Kamera 3 auf. Außenansicht, Nordtor.
Nichts.
Dann hör ich es wieder.
Schhhrrrrk. Langsamer diesmal. Als würde jemand ganz bewusst kratzen.
Ich zoom in. Nichts. Grau. Nebel. Ein Flimmern, das nicht vom Monitor kommt. Ich lehn mich zurück. Schließe kurz die Augen. Vielleicht übermüdet.
03:22.
Das Licht flackert. Einmal. Zweimal. Dann stabil.
Ich steh auf. Geh zum Sichtfenster. Dahinter: der Korridor, dann das Tor.
Und da steht er.
Eine Gestalt. Menschlich, ja.
Hoodie, graugrün, durchnässt. Kapuze tief. Die Arme hängen einfach runter. Keine Bewegung. Keine Waffe.
Aber auf der Stirn – sichtbar, selbst aus der Entfernung:
Das Zeichen.
Nicht aufgemalt. Eingebrannt.
Drei Linien. Ineinander. Als hätte jemand einen Code direkt in die Haut geschrieben.
Mir wird kalt. Nicht erschreckt – eher getroffen.
Wie von einem Namen, den man vergessen hat, obwohl er mal alles bedeutet hat.
Ich weiß nicht, wie lange ich ihn anstarre.
Dann dreh ich mich um.
Systemzugang. Zugriff auf die Schleuse. Alles deaktiviert.
„Protokoll 5-9“ steht da.
Wird seit Jahren nicht mehr verwendet. Irgendwas mit Außensichtung, klassifiziert.
Ich geb meinen Code ein. Kein Zugriff. Mein Name wird rot aufgeleuchtet.
Ich beiß mir auf die Lippe.
Sperre ist aktiv. Heißt: jemand weiß schon, dass er da ist.
Und keiner kommt.
Ich könnte Lea wecken. Oder Voss anfunken.
Aber ich tu’s nicht.
Ich zieh die Jacke zu. Stecke das alte Pad in die Innentasche.
Dann geh ich los.
Der Flur hallt. Die Türen sind alle zu. Ich hör nur meine Schritte.
Und mein Herz, das sich verdächtig anfühlt.
Nicht schnell – aber schwer. Als wüsste es mehr als ich.
Ich bleib vorm Tor stehen.
Er steht immer noch da. Bewegt sich kein bisschen.
Ich heb die Hand.
Und er – hebt seine.
Gleichzeitig.
Und für einen Moment weiß ich genau, wer er ist.
Und dass ich ihn mal war.
Kapitel 2: Die Störung
Der Morgen fühlt sich falsch an.
Nicht anders – nur… versetzt.
Als wäre die Zeit um ein paar Millimeter verrutscht.
Ich steh wie immer um fünf auf. Scanner ans Handgelenk, Augen in die Linse, Fingerabdruck.
Der Bildschirm zögert.
„Identität fraglich“, flackert es auf.
Dann:
NORIA S. – Zugriff verweigert.
Ich blinzel. Noch mal.
Beim zweiten Versuch: alles normal.
Ich sag nichts. Auch nicht zu Lea, die mich in der Kantine mit einem dieser „Du-siehst-fertig-aus“-Blicke mustert.
„Hast du schlecht geschlafen?“
„Nein.“
„Dann träumst du zu viel.“
Sie grinst. Ich nicht.
Der Brei schmeckt heute salzig.
Zumindest bilde ich mir das ein.
Ich frag sie.
„Nee“, sagt sie. „Wie immer. Tot und warm.“
Ich nicke. Und löffle weiter.
Aber der Geschmack bleibt.
Wie Metall.
08:14 Uhr.
Kontrollstation. Ich schalte Monitor 3 ein. Nordtor.
Kein Bild.
Kein Rauschen.
Nur Stille.
Dann, für zwei Sekunden –
ein Flackern.
Eine Gestalt. Still.
Ich spring zurück. Pausiere. Nichts mehr da.
Log-Daten zeigen keine Auffälligkeit.
Ich schreib’s ins Protokoll.
„Mögliches Glitch-Moment. Subjektiv.“
Das Wort „subjektiv“ ist wichtig.
Lässt alles offen. Macht mich unverdächtig.
Archivgang, untere Ebene.
Ich geh allein. Niemand sonst will da runter.
Zu kühl. Zu still. Zu viele Geschichten.
Ich zieh ein altes Band aus dem Regal:
Chronologie V7 / Vorstrukturphase
Die Datei ist beschädigt. Angeblich.
Aber als ich es abspiele, höre ich es:
meinen Namen.
Nicht laut.
Nicht deutlich.
Aber vertraut.
„…Nora… zurück… Zeichen…“
Ich friere.
Halte das Pad näher ans Ohr.
Noch mal abspielen.
Nichts. Nur Rauschen.
Kalte Stille.
Wie unter Wasser.
Ich speichere den Clip.
Oder versuche es.
Das System stürzt ab.
Zurück im Schlaftrakt. Ich dusche.
Das Wasser ist warm – aber der Geruch…
nicht normal.
Eisen. Erde.
Etwas dumpf Verfaultes.
Ich atme tief durch, widerlich langsam, und versuche mich zu beruhigen.
Die Hand fährt an der Wand entlang.
Ein feiner Kratzer.
Ein Symbol.
Drei Linien.
Wie eingeritzt.
Wie ein Spiel aus der Kindheit, das ich nie gespielt habe.
Ich trete zurück.
Reib mit dem Handrücken drüber.
Verschmiert sich. Aber verschwindet nicht.
Am Abend sagt Lea:
„Du bist irgendwie… still.“
Ich sage nichts.
Sie schaut mich an. Länger als nötig.
„Du warst früher anders, oder?“
Ich drehe den Kopf.
„Wann früher?“
Sie zuckt die Schultern.
„Keine Ahnung. Irgendwie… vor diesem ganzen Nebel.“
Was meint sie damit?
Ich frage nicht. Ich will es nicht wissen.
Noch nicht.
Kapitel 3: Protokoll 47-B
Ich bin um 03:41 wach.
Von allein. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Nur ein Gefühl – wie Strom auf der Zunge.
Ich bleibe noch eine Minute liegen. Starre an die Decke.
Zähle nicht. Atme nicht bewusst. Ich warte nur, ob es zurückkommt.
Das Gefühl.
Die Ahnung.
Kommt es.
07:15
Schichtbeginn.
Lea steht schon am Monitor. Scrollt durch Zugangslisten.
Sie ist schneller als sonst. Und stiller.
„Ich hab gestern was Komisches gesehen“, sag ich beiläufig.
„Ach ja?“
Sie tippt weiter. Kein Blick zu mir.
„In der Duschwand. Jemand hat was eingeritzt. Drei Linien.“
Pause.
„Vielleicht warst du das selbst.“
Ich schnaube leise.
„Nee. War sauber eingeritzt. Fast technisch.“
Lea stoppt. Hebt den Kopf.
„Wie meinst du: drei Linien?“
Ich zucke die Schultern.
Da. Der Hauch in ihrer Stimme.
Ein kurzer Riss.
„Schon mal gehört?“ frage ich.
„Nö. Ist halt ne Form, oder? Gibt tausend davon.“
Aber sie lächelt nicht dabei.
Archiv, Terminal 2
Ich logge mich ein.
Suche nach dem Zeichen. Keine Treffer.
Also gebe ich was anderes ein:
„Symbole – unklarer Herkunft – visuell“
Ein Eintrag erscheint:
Protokoll 47-B / dekodiert / Archivstatus: eingeschränkt
Ich versuche zuzugreifen.
„Zugriffsrecht nicht vorhanden.“
Ich beuge mich vor.
Kenne den Trick: aufrufen über den Umweg – Maschinenlog, nicht über Inhaltskategorie.
Ich täusche einen Diagnosebericht vor.
Das System zuckt.
Zeigt einen Ausschnitt.
Ein Symbol – eingebrannt in Haut.
Ein Gesicht, halb gelöscht.
Und eine Zeile:
„Das Dritte Zeichen ist nicht zu speichern. Es erinnert sich selbst.“
Ich weiche zurück.
Blinzle.
Die Datei ist weg. Sofort.
Hinter mir:
Schritte.
Ich drehe mich um.
Voss.
Dr. Caelan Voss trägt wie immer seinen Archivmantel. Sauber, zu glatt, mit einem leichten Geruch nach Frostschutzmittel.
„Interessanter Zugriff, Nora.“
Seine Stimme ist tief, sachlich, leer.
„Nur Routineprüfung.“
„Natürlich.“
Er tippt etwas in sein Pad.
„Wenn du Fragen hast – frag. Es gibt genug, das offen ist.“
Er geht.
Nicht schnell. Nicht eilig.
Aber mit Absicht.
22:00
Zurück im Zimmer. Ich schreibe.
Nicht digital.
Echte Tinte. Papier, das ich in der Abfallkammer gefunden hab.
Ich schreibe das Zeichen.
Einmal. Zweimal.
Es geht wie von selbst.
Und dann schreib ich einen Namen:
Noria.
Ich starre drauf.
Will den Stift ablegen.
Tu’s aber nicht.
Ich schreibe:
„Das Dritte Zeichen erinnert mich.“
Dann lösche ich das Licht.
Und warte.
Kapitel 4: Die erste Rückkehr
Ich hab nie geglaubt, dass es einen Ausgang gibt.
Sie sagen zwar: Die Türen sind da.
Aber sie meinen: für andere. Für irgendwann. Für niemand.
Heute ist der Gang zu Tür C4 nicht blockiert.
Keine Warnung. Kein Ton. Nur ein grünes Licht.
Ein Detail, das falsch ist.
Grün heißt: Zutritt gestattet
Aber C4 wurde seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet. So steht’s im System. Und ich hab es oft überprüft.
Ich stehe davor.
Atme flach.
Dann tippe ich meinen Code ein.
Die Tür zischt. Öffnet sich.
Kalter Luftzug.
Metallgeschmack.
Der Gang dahinter ist breiter als erwartet.
Nackt. Keine Kabel, keine Markierungen. Nur Beton, feucht und mit Mooslinien in den Fugen.
Nach zwanzig Metern wird es dunkler.
Meine Lampe reicht kaum.
Ich halte sie nach vorn – und sehe es:
Ein Kontrollraum.
Verlassen.
Nicht alt. Nicht neu.
Wie aus einer anderen Version von Kronn. Gleiche Aufteilung, gleiche Tasten, aber: andere Farben.
Blau statt Grau.
Ecken, wo bei uns Rundungen sind.
An der Wand: ein Monitor, flackernd.
Ohne Stromzufuhr.
Und darauf –
mein Gesicht.
Ich trete näher.
Nicht genau mein Gesicht.
Aber nah genug.
Haare kürzer. Ausdruck entschlossener.
Die Augen ruhiger.
Ich will den Bildschirm berühren –
und dann sehe ich:
auf der Wand daneben, in dunkler Kreide:
„Dritte Linie vollendet sich im Rückblick.“
Ich stolpere zurück. Atme zu schnell.
Der Bildschirm rauscht.
Dann Stille.
Ich drehe mich um –
da steht ein Spiegel.
Zersplittert, halbblind.
Und in den Bruchlinien: wieder mein Gesicht.
Aber auch: ein anderes.
Eine Version von mir, die… lacht?
Ich reiße den Blick weg.
Zurück zum Gang.
Ich will raus. Jetzt.
Zurück im Haupttrakt. Ich dusche lange.
Warte, ob das Gefühl vergeht.
Tut es nicht.
Ich falte das alte Papier, auf dem das Zeichen steht, in die Innentasche meiner Jacke.
Lea schaut mich an, als ich die Kantine betrete.
„Du warst weg.“
„War ich nicht.“
„Doch. Du bist nicht mehr dieselbe.“
Sie lächelt.
Aber da ist nichts Freundliches dran.
Kapitel 5: Der Blick der Anderen
Ich wache auf, bevor das Licht anspringt.
Kein Geräusch. Kein Traum.
Nur ein Gefühl, dass ich nicht allein bin.
Ich drehe mich zur Wand.
Sie ist leer.
Aber da ist ein Geruch.
Vertraut.
Wie Metall, heiß geworden. Wie Haut nach Angst.
Ich setze mich auf.
Der Raum ist exakt wie immer.
Und doch spür ich: Etwas fehlt.
Oder ist zu viel.
07:20 – Kantine
Lea redet kaum.
Schiebt ihr Tablett ein paar Zentimeter zu mir rüber.
„Willst du heute meine Portion?“
„Warum?“
„Du wirkst dünner.“
„Bin ich nicht.“
„Doch. Irgendwas frisst dich auf.“
Ich sage nichts.
Und esse ihre Portion.
Archivgang
Ich nehme den alten Weg.
Den hinter dem Kontrollpanel, der offiziell „versiegelt“ ist.
Tür war nie wirklich dicht.
Es riecht nach altem Kunststoff.
Nach Kabelbrand.
Nach… Parfum?
Ich höre Schritte.
Nicht hinter mir.
Nicht vor mir.
Im Raum selbst.
Dann sehe ich sie.
Steht da.
Zwischen zwei Regalen.
Bewegt sich nicht.
Gleich groß. Gleich Haltung.
Die Haare kürzer.
Das Gesicht – meins. Und nicht meins.
Sie hebt den Kopf.
Unsere Blicke treffen sich.
Mein Herz setzt aus.
Sie sagt nichts.
Aber ihr Blick sagt alles.
Ich kenne dich besser, als du dich selbst erträgst.
Ich will was sagen.
Aber meine Kehle ist trocken.
Ich mache einen Schritt auf sie zu –
sie dreht sich um.
Verschwindet.
Hinterlässt einen Geruch, der mich fast umwirft.
Wie brennender Nebel.
Wie Kindheit, verbrannt.
Ich renne hinterher.
Die Gänge leer.
Die Türen offen.
Aber niemand da.
Später – Kontrollraum
Ich sehe in den Spiegel an der Wand.
Der hat einen feinen Riss.
War gestern nicht da.
Ich beuge mich vor.
Und für einen Sekundenbruchteil blinzelt mein Spiegelbild nicht mit mir.
Nicht gleichzeitig.
Ich trete zurück.
Atme langsam aus.
Dann speichere einen Satz in meinem Pad, lokal, versteckt:
„Sie ist ich. Und sie war hier.“
22:00 – Schlafkammer
Ich liege im Dunkeln.
Warte.
Kein Geräusch.
Keine Bewegung.
Aber ich weiß: Sie ist nicht weg.
Nur auf der anderen Seite des Lichts.
Kapitel 6: Voss
Voss ruft mich nicht.
Er steht einfach vor meinem Raum.
„Kontrollgang Delta“, sagt er.
Keine Erklärung. Kein Blick.
Dreht sich um und geht. Ich folge.
Nicht aus Pflicht.
Sondern weil ich wissen will, ob er weiß, was ich gesehen habe.
Der Gang nach Delta riecht nach Altöl und Staub.
Die Luft ist wärmer hier unten. Lebendiger.
Man hört das Atmen der alten Systeme – kein gleichmäßiges Summen, eher ein organisches Pulsieren.
Voss spricht nicht.
Er öffnet eine Tür mit einem Schlüssel, den ich noch nie gesehen habe.
Ein physischer Schlüssel. Metall. Verkratzt.
Drinnen: Licht in Streifen.
Regale, aber keine Akten. Nur Objekte.
Zerlegte Platinen, konservierte Hautproben, Zeichnungen auf Papier, versiegelt.
„Was ist das?“ frage ich.
Er zieht ein Päckchen aus einem Fach.
Reicht es mir.
Ich öffne es.
Ein Bild.
Alt.
Farblich verblichen.
Aber deutlich: Ich.
Jünger.
Und nicht in Uniform.
Ich halte den Atem an.
Die andere Nora.
Die, die ich gesehen habe.
Aber auf Papier.
Reell.
„Was ist das hier, Voss?“
Er sieht mich an.
Kalt.
Aber irgendwas in seinem Blick pulsiert.
„Vorstrukturphase. Du warst Teil davon. Du wurdest umgeschrieben.“
„Was?“
„Deine Erinnerungen. Dein Auftrag. Dein Name. Du warst Noria. Dann wurdest du Nora. Wegen des Dritten Zeichens.“
Ich starre ihn an.
Er fährt fort.
„Das Zeichen ist keine Waffe. Kein Code. Es ist ein Brennpunkt. Wenn es sich erinnert, beginnt der Raum zu verzerren. Zeit wird unlinear. Menschen – redundant.“
„Ich verstehe kein Wort.“
„Doch“, sagt er. „Du erinnerst dich. Nur nicht gleichzeitig.“
Später.
Ich sitze in meinem Raum.
Betrachte das Foto.
Drehe es um.
Drei Linien eingeritzt in die Rückseite.
Und ein Wort:
„Rückkehr.“
Ich verstecke das Bild in der Wandverkleidung.
Lege mich ins Bett.
Und stelle mir vor, wie die andere Nora jetzt irgendwo geht.
Durch Kronn.
Durch mich.
Rückblende
Ich schließe die Augen.
Und da ist es wieder.
Nicht wie Erinnerung.
Eher wie… ein Ort, der mich erinnert.
Ein Raum.
Weiß, aber ohne Lichtquelle.
Der Boden weich, wie Sand, aber warm.
Ich sitze.
In einer anderen Haltung als jetzt.
Lockerer.
Verletzlicher.
Eine Stimme spricht.
Nicht bedrohlich.
Nicht vertraut.
Aber nah.
„Sag deinen Namen.“
Ich zögere.
„Sag ihn.“
Und ich höre mich sagen:
„Noria.“
Nicht sicher.
Aber richtig.
Die Stimme nickt. Ich spüre es.
„Du bist bereit, dich zu verlieren.“
Ich flüstere:
„Wenn ich mich verliere, finde ich sie?“
„Vielleicht. Aber du wirst dich nicht mehr erkennen.“
Ich blicke an mir runter.
Trage keine Uniform.
Nur Stoff. Weich. Grau.
Auf der Haut: Linien.
Drei Stück.
Frisch, rot, brennend.
Sie leuchten ganz leicht.
Nicht bedrohlich.
Aber endgültig.
Ich reiße die Augen auf.
Der Raum in Kronn.
Mein Bett.
Mein Atem.
Meine Hände.
Leer.
Aber für einen Moment… war ich jemand anderes.
Oder ich bin es wieder geworden.
Kapitel 7: Die Wahrheit im Rauschen
Der Morgen beginnt mit einem Knacken.
Nicht laut. Aber tief.
Wie der erste Riss in einer Wand, die lange still war.
Ich sitze im Kontrollraum.
Lea ist heute nicht da.
„Kopfschmerzen“, hat sie gesagt.
Das erste Mal, dass sie sich abgemeldet hat.
Oder das erste Mal, dass ich es bemerke.
Ich starte das System.
Routinechecks.
Energiefluss, Schleusendruck, Archivverknüpfung.
Dann bricht das Rauschen los.
Nicht wie Störung.
Eher wie Sprache.
Gedämpft. Verzerrt.
Als würde jemand zu tief unter Wasser sprechen.
Ich drehe den Ton runter.
Es wird lauter.
Ich lehne mich zurück.
Warte.
Dann – drei Worte.
„Noria… kehre… zurück.“
Ich friere.
Nicht wegen der Worte.
Sondern weil ich sie kenne.
Weil sie in mir vibrieren.
Wie ein Gedanke, den man nie selbst gedacht hat.
Ich speichere das Audio.
Will es später nochmal hören.
Beim zweiten Abspielen: nur Stille.
Keine Datei vorhanden.
Ich greife zum Stift.
Schreibe auf meinen Arm, unauffällig, unter der Jacke:
„Sie sprechen mit mir.“
13:00 – Archivgang
Ich will die Störung einordnen.
Suche nach „akustischen Fehlmustern“.
Finde nur eine einzige Datei:
RAU_SCH.7Z
Nicht zu öffnen.
Aber sie läuft. Von selbst.
Ohne Ton diesmal.
Nur ein Balken, der sich bewegt.
Und bei jeder Bewegung:
Ein Bild.
Von mir.
Oder ihr.
Oder jemandem dazwischen.
Gesichter, fragmentiert.
Augen, die zu früh blinzeln.
Münder, die Wörter formen, die nicht geschrieben sind.
„Das Zeichen spricht. Nicht durch Schrift. Nicht durch Befehl. Nur durch Wiederholung.“
Ich tippe das Zitat ein.
Will es sichern.
Aber mein Pad löscht sich selbst.
Später – Maschinenraum
Ich überprüfe das Kommunikationsmodul.
Es flackert.
Und zeigt eine Zeile:
„ORIGINALSPUR ERKANNT. ENTZERRUNG BEGINNT.“
Ich tippe nicht.
Ich spreche nicht.
Ich denke:
Bin ich das?
Und der Monitor antwortet:
„Du warst nie ganz weg.“
23:10 – Dunkelphase
Ich liege im Bett.
Der Monitor ist schwarz.
Aber ich höre ihn noch.
Nicht draußen.
Nicht im Raum.
Sondern in mir.
Das Rauschen.
Und es trägt meinen Namen.
In einem Ton, den ich fast vermisse.
Kapitel 8: Das Dritte Zeichen
Ich sehe es zuerst im Spiegel.
Nicht groß.
Nicht deutlich.
Aber da.
Ein feiner Schatten auf der Haut.
Drei Linien, ineinander verschlungen.
Wie eingeritzt.
Wie geatmet.
Ich reibe drüber.
Nichts.
Kein Schmerz. Kein Abdruck.
Aber das Zeichen bleibt.
Nicht auf der Haut.
Unter ihr.
07:30 – Kantine
Ich sitze allein.
Lea ist noch nicht zurück.
Niemand fragt.
Vielleicht war sie nie wirklich da.
Ich spüre das Zeichen pochen.
Nicht wie ein Herz.
Eher wie ein Code, der auf Ausführung wartet.
Ich will nicht auffallen.
Doch mein Blick wandert zu den anderen.
Ihre Hälse, ihre Handgelenke.
Makellos.
Ich bin die Einzige.
Oder die Erste.
10:00 – Protokollzeit
Ich schreibe das Zeichen aufs Papier.
Mehrmals.
Mit der linken Hand, dann mit der rechten.
Es kommt immer gleich heraus.
Ich versuche, es falsch zu zeichnen.
Schaffe es nicht.
Etwas in mir weigert sich.
Ich zerreiße das Blatt.
Werfe es in den Verbrennungsschacht.
Die Flammen zögern.
Dann färben sie sich bläulich.
Nur kurz.
13:00 – Kontrollstation
Voss erscheint.
Ohne Ankündigung.
Ohne Geräusch.
„Du trägst es“, sagt er.
Ich sage nichts.
Er tritt näher.
Sieht mir auf die Stirn.
Dann nickt er.
„Du bist aktiviert worden.“
„Was heißt das?“
„Das Zeichen hat dich gewählt.“
„Ich habe nichts gewählt.“
„Doch. Damals. Als Noria.“
Ich blicke zur Kamera.
Sie zeigt Schwarz.
Aber ich sehe uns.
Klar.
Aus einer anderen Perspektive.
„Was bin ich jetzt?“
„Ein Übergang.“
„Zu was?“
„Zur Wahrheit.“
Er geht.
Wieder lautlos.
22:00 – Schlaftrakt
Ich wasche mein Gesicht.
Mehrmals.
Mit kaltem Wasser.
Das Zeichen bleibt.
Nicht sichtbar.
Aber da.
Ich träume nicht.
Ich wache nur… auf.
Mitten in der Nacht.
Und weiß:
Morgen wird nichts mehr so sein,
wie es nie war.
Kapitel 9: Fehler 313
Es beginnt um 04:42.
Ich bin wach.
Schon wieder.
Nicht weil etwas passiert ist.
Sondern weil etwas fehlt.
Das Licht springt nicht an.
Der Raum ist schwarz. Kein Summen. Kein Monitorrauschen.
Nur mein Atem. Und der Geruch von Ozon, schwach.
Ein Nachgeschmack im Raum.
Ich taste mich zum Türsensor.
Nichts.
Mechanisch entriegeln. Langsam. Kalt.
Der Flur ist dunkel. Und leer.
Kein Notlicht.
Kein Piepsen.
Nur Dunkelheit, die nicht endet.
Kein „Fehler“. Kein „Warncode“.
Nur:
Fehler 313
– blinkt auf einem einsamen Terminal.
Ein Code, den niemand kennt.
Nicht einmal Voss.
07:00 – Kontrollstation
Ich finde Lea dort.
Sie sitzt auf dem Boden.
Hände um die Knie.
Augen weit.
„Es ist weg“, sagt sie.
„Was?“
„Alles. Die Netzwerke. Die Stimmen. Das Zentrum.“
„War das alles da?“
Sie sieht mich an. Lächelt.
„Du klingst wie du.“
Ich sage nichts.
Sie steht auf.
Reicht mir ein Pad.
Darauf: nur ein Satz.
„Das Zeichen hat uns getrennt, damit wir wieder zusammenfallen.“
„Was heißt das?“ frage ich.
„Ich weiß es nicht. Ich hab’s gefunden. In meinem alten Logbuch. Geschrieben… von mir. Vor einem Jahr. Ich erinnere mich nicht daran.“
Ich sehe sie an.
Und glaube ihr.
Und glaube es nicht.
09:40 – Archiv Delta
Ich will nachsehen, was noch bleibt.
Kein Zugang. Türen blockiert.
Ich gehe den Umweg.
Hinten, durch den Lüftungsschacht.
Kalt. Metallisch. Wie immer.
Aber als ich reinkomme:
Die Regale sind leer.
Alles verschwunden.
Keine Akten.
Keine Bilder.
Nur ein Zettel.
An die Wand geheftet.
Von Hand geschrieben.
„Du bist jetzt da, wo du immer warst.“
Ich stehe still.
Spüre das Zeichen unter meiner Haut pulsieren.
Nicht panisch.
Sondern… ruhig.
Wie eine Stimme, die atmet.
17:00 – Schlaftrakt
Die Station ist noch dunkel.
Kein Licht. Kein Ton.
Aber ich höre Schritte.
Nicht meine.
Nicht Leas.
Ein gleichmäßiger Takt.
Als würde jemand kontrollieren, ob alles leer ist.
Ob niemand überlebt hat.
Ich öffne die Tür einen Spalt.
Nichts zu sehen.
Aber ich rieche ihn.
Salz.
Und Rauch.
Ich schließe die Tür.
Lehne mich dagegen.
Spüre den Puls in der Stirn.
Im Symbol.
Und da weiß ich:
Er ist wieder da.
Der Fremde.
Oder ich bin es.
Für ihn.
Kapitel 10: Archiv Delta
Wir finden den Zugang am Rand der Leere.
Lea folgt mir.
Keine Fragen. Nur Schritte.
Sie weiß, dass wir nicht mehr warten können.
Dass das, was kommt, schon begonnen hat.
Der Archivzugang liegt hinter einem Wartungsschacht.
Verplombt.
Oder besser: notdürftig verschlossen.
Kein Code. Nur ein Brett, quer genagelt, als ob man das Monströse mit Holz aufhalten könnte.
Ich trete es ein.
Dahinter: Stille.
Und dann Kälte.
Nicht technisch.
Alt.
Wie in einem Raum, der vergessen wurde, bevor er gebaut war.
Die Regale sind halb leer.
Staub.
Aber auch: Spuren.
Papiere, verschoben.
Fingerabdrücke.
Jemand war hier. Vor kurzem.
Wir finden eine Kiste.
Kein Siegel.
Nur ein Symbol:
Drei Linien – durchgestrichen.
Ich öffne sie.
Darin: ein Plan.
Auf dicker Folie.
Mit Markierungen.
KRONN A
KRONN B
Zwei identische Grundrisse.
Zwei Stationen.
Getrennt durch nichts als einen schwarzen Streifen, der nur ein Wort trägt:
NULLZONE
Ich zeige es Lea.
Sie flüstert:
„Wir sind in einer Kopie.“
Ich nicke.
„Oder in der zweiten Version.“
Sie starrt auf den Plan.
„Was ist in der Nullzone?“
„Was wir vergessen sollten.“
An der Rückseite der Folie: eine Notiz, handschriftlich.
Verwaschen.
Aber lesbar.
„Nur das Dritte Zeichen kann den Übergang öffnen. Doch wer es trägt, verliert, was war.“
Ich spüre den Puls in meiner Stirn.
Ein leises Brennen.
Nicht schmerzhaft.
Nur eindringlich.
Wie eine Erinnerung, die sich vordrängelt.
Später – Kontrolltrakt
Wir hängen den Plan an die Wand.
Kein Alarm.
Keine Reaktion vom System.
Es ist, als wüsste es längst Bescheid.
„Wir müssen rüber“, sage ich.
Lea sagt nichts.
Aber sie steht neben mir.
Nicht hinter mir.
Ich sehe mein Spiegelbild im dunklen Glas des Monitors.
Und für einen Moment:
Es lächelt.
Vor mir.
Kapitel 11: Die andere Seite
Der Zugang zur Nullzone liegt unter der alten Energiezelle.
Vergraben unter Kabeln, Platten, Metallteilen, die sich nicht bewegen lassen wollen.
Aber es gibt einen Riss.
Einen Luftzug.
Und ein Geräusch – wie ein Echo, das auf niemanden antwortet.
Wir schieben die Platten zur Seite.
Darunter: eine Schleuse.
Nicht versiegelt.
Nicht gesichert.
Einfach nur… vergessen.
Ich tippe den Code ein.
Nicht den offiziellen.
Sondern das Zeichen.
Drei Linien.
Mit dem Finger, direkt auf das Terminal.
Die Tür öffnet sich.
Die andere Seite riecht nicht wie Kronn.
Kein Reinigungsmittel, kein Öl.
Nur: Staub.
Alter, trockener Staub.
Und… Wärme.
Nicht warm im Sinn von Technik.
Sondern wie Körper.
Wie Erinnerung.
Die Gänge sind gleich.
Und nicht gleich.
Vertraut, aber mit Abweichungen.
Lichter, die schief hängen.
Fenster, die es in unserer Station nie gab.
Und überall: Zeichen.
In Wänden.
Auf Bodenplatten.
An Türen.
Varianten des Symbols.
Wie Studien.
Wie ein Alphabet aus Stille.
Wir treten in den zentralen Trakt.
Leer.
Und doch: belebt.
Nicht mit Menschen.
Mit… Geschichte.
Mit Abdrücken.
Lea findet ein Terminal.
Es springt an, sofort.
Keine Anmeldung.
Nur ein flimmernder Bildschirm.
Und ein Video.
Datiert: 3 Jahre vor dem Protokoll.
Darauf:
Eine Frau.
Sitzend. Schreibend.
Dann blickt sie in die Kamera.
Es ist Nora.
Oder besser:
Noria.
Sie spricht:
„Wenn du das hier siehst – bist du wieder ganz. Aber du musst dich neu verlieren. Nur durch den Übergang wirst du erkennen, was wir waren.“
Das Bild flackert.
Dann: Schwarz.
Lea sieht mich an.
„Was ist das hier?“
Ich antworte nicht.
Ich weiß es.
Aber ich kann es noch nicht sagen.
Wir gehen weiter.
Tiefer in die Spiegelstation.
Die Luft wird schwerer.
Die Stille dichter.
Dann hören wir es.
Schritte.
Nicht unsere.
Und eine Stimme.
Kein Wort.
Nur ein Ton.
Der gleiche, den ich im Rauschen gehört habe.
Jetzt in der Luft.
Jetzt… direkt hinter uns.
Ich drehe mich um.
Er steht da.
Der Fremde.
Kapuze tief.
Blick wie damals.
Aber diesmal hebt er die Hand.
Öffnet die Finger.
Darin: ein Fragment.
Ein Spiegelstück.
Und in seinem Reflex: mein Gesicht.
Zerbrochen.
Aber lächelnd.
Kapitel 12: Selbstgespräch
Der Raum ist rund.
Oder scheint es nur.
Kein Licht, keine Schatten – nur grau.
Die Art Grau, die klingt.
Wie Atem.
Wie Erinnerung, die atmet.
Ich bin allein.
Aber ich weiß, sie ist hier.
Die andere.
Ich.
Sie tritt aus dem Schatten, als hätte sie gewartet.
Nicht nervös. Nicht überrascht.
Eher: müde.
Wie jemand, der zu lang geschwiegen hat.
Gleiche Statur.
Gleicher Gang.
Andere Augen.
Klarer. Härter.
Wissender.
Sie sagt nichts.
Aber ich höre ihre Stimme.
Innen.
„Du hast dich gut gehalten.“
Ich lache.
Kurz. Trocken.
„Besser als ich dachte.“
Sie tritt näher.
Kein Echo.
Nur das Geräusch von Bewegung, wie durch Wasser.
„Was bist du?“ frage ich.
Sie neigt den Kopf.
„Was du warst. Was du sein könntest. Was du vielleicht nie wieder wirst.“
„Warum jetzt?“
„Weil du dich erinnern wolltest.“
Ich spüre das Zeichen auf meiner Haut brennen.
Nicht schmerzhaft.
Wie eine Sprache, die endlich ausgesprochen wird.
„Was war ich?“
„Die Erste. Die Trägerin. Die, die aufgelöst wurde, um Platz zu machen.“
„Für was?“
„Für Kontrolle.“
Ich will schreien.
Kann nicht.
Der Raum schluckt alles.
„Sie haben dich nicht gelöscht. Nur leiser gemacht.“
Ich sehe sie an.
Sie sieht mich an.
Und dann sagt sie laut – zum ersten Mal wirklich mit Stimme:
„Bist du bereit, wieder laut zu sein?“
Ich trete näher.
Wir stehen uns gegenüber.
Sie hebt die Hand.
Ich auch.
Unsere Finger berühren sich.
Der Raum flackert.
Das Licht zittert.
Ich spüre mich selbst – doppelt.
Wie Haut, die sich erinnert, wie sie einmal war.
Dann:
Ein Impuls.
Heiß. Weiß.
Ein Bild brennt sich in mein Hirn:
Ich, mit offenen Augen.
In einer Welt, die nicht Kronn ist.
Zwischen Stimmen, die meine sind.
Und einer Entscheidung, die alles verändert.
Ich erwache.
Schweiß.
Kälte.
Stille.
Der Spiegel über meinem Bett ist gesprungen.
Drei Linien.
Und mein Blick.
Noch immer in zwei Richtungen.
Kapitel 13: Rückkopplung
Ich bin wach.
Bin es schon seit Stunden.
Oder Tagen.
Die Uhren zeigen nichts mehr an.
Nur das Zeichen.
Blinkend.
Dreifach.
Die Station pulsiert.
Licht geht an, obwohl es keine Quelle gibt.
Flure flüstern Namen.
Nicht laut.
Aber verständlich.
Noria… Nora… Noria…
Wie eine Schleife.
Wie ein Lied, das nie ganz loslässt.
Kontrollraum
Lea steht da.
Bleich. Stumm.
Sie sieht mich an, als hätte sie etwas verloren.
Oder gefunden.
„Du bist’s nicht mehr“, sagt sie.
„Ich war’s nie“, antworte ich.
Sie reicht mir ein Pad.
Darauf: ein Standbild.
Von mir.
Von oben.
Wie ein Sicherheitsfeed.
Nur: Es ist nicht von heute.
Es ist alt.
Datiert auf einen Tag, an den ich mich nicht erinnere.
Ich stehe dort.
Trage das Zeichen.
Und lache.
„Das ist nicht möglich“, sage ich.
Lea antwortet nicht.
Nur:
„Du hast das damals gelöscht. Selbst.“
Ich lasse das Pad sinken.
Der Raum kippt.
Später – Maschinenebene
Die Systeme fahren hoch.
Ohne Strom.
Ohne Befehl.
Ein Display blinkt.
Darauf: nur ein einziger Satz.
„Zeitpunkt überschritten. Rückkopplung eingeleitet.“
Dann flackern die Kameras.
Zeigen Bilder aus Räumen, die es nicht gibt.
Zeigen mich.
Mehrfach.
In unterschiedlichen Zuständen.
Verletzt. Lachend. Schlafend.
Einmal: weinend.
Ich erkenne keine Reihenfolge.
Nur Wiederholung.
Lea flüstert:
„Vielleicht war das der Plan. Dass du dich selbst wiederholen musst. Bis du’s verstehst.“
„Und wenn ich’s nie verstehe?“
„Dann tun’s die Nächsten.“
Ich sehe sie an.
Sie sieht mich an.
Und dann, ganz leise, fragt sie:
„Bist du überhaupt zurückgekommen?
Oder warst du nie weg?“
23:44 – Spiegelstation
Ich gehe zurück.
Allein.
Die Gänge sind offen.
Lichter reagieren auf meine Schritte.
Die Station kennt mich jetzt.
Oder erinnert sich.
Und dann sehe ich ihn.
Den Fremden.
Zum dritten Mal.
Kapuze tief.
In der Hand: kein Spiegel.
Sondern eine Karte.
Auf die Rückseite geschrieben:
„Tor geöffnet. Entscheidung ausstehend.“
Ich nehme sie ihm ab.
Unsere Hände berühren sich.
Und für einen Moment bin ich nicht Nora.
Nicht Noria.
Sondern:
beides gleichzeitig.
Kapitel 14: Der Nullraum
Die Tür erkennt mich, bevor ich sie erreiche.
Kein Code. Kein Kontakt.
Sie geht einfach auf.
Langsam.
Mit einem Geräusch, das klingt wie Erinnerung: zerrissen, tief, vertraut.
Lea bleibt zurück.
Sie sagt nichts.
Aber in ihrem Blick: das, was man nur sagt, wenn man’s nicht zerstören will.
„Du kommst zurück. Oder du warst nie fort.“
Ich nicke.
Und trete ein.
Der Nullraum ist kein Raum.
Er hat keine Wände.
Nur Dunkel.
Aber kein Schwarz.
Ein Licht, das nicht von irgendwo kommt, aber alles zeigt.
Boden – glasähnlich.
Darunter: Bewegung.
Nicht Wasser.
Nicht Luft.
Etwas Drittes.
Etwas, das… denkt.
Ich gehe langsam.
Jeder Schritt löst ein Geräusch aus.
Ein Ton.
Ein Fragment.
„Du warst…“
„…die Erste…“
„…und der letzte Versuch.“
Die Stimme ist meine.
Und nicht.
Ich trete weiter.
Dann sehe ich sie.
Mich.
Stehend, wie eingefroren.
In einem anderen Outfit.
Offene Haare. Barfuß.
Die Stirn leuchtet – das Zeichen, klar, glühend.
Sie blinzelt nicht.
Aber sie sieht mich.
„Wenn du hier bleibst, wirst du nie mehr du sein.“
Ich frage nicht: Wer bist du.
Ich weiß es.
Ich frage:
„Was war ich?“
„Die Brücke. Die Wiederholung. Die Störung.“
Ich frage:
„Was werde ich sein?“
„Nur was du wählst.“
Ein Kreis leuchtet unter meinen Füßen auf.
Drei Linien.
Pulsierend.
Wartend.
Ich trete in die Mitte.
Atme ein.
Schließe die Augen.
Und sage:
„Ich bin beide.“
Die Welt knickt.
Aber nicht in sich.
Sondern auf.
Wie eine Haut, die gesprengt wird.
Ich falle nicht.
Ich verschiebe mich.
Und dann: Licht.
Klar.
Still.
Eindeutig.
Ich öffne die Augen.
Stehe in einem Raum.
Leer.
Weiß.
Aber da ist ein Tisch.
Ein Gerät.
Ein Notizbuch.
Und eine Stimme, die sagt:
„Willkommen zurück, Noria. Schreib jetzt auf, was du weißt.“
Kapitel 15: Durchbruch
Ich schreibe.
Nicht weil man es mir sagt.
Sondern weil ich’s muss.
Weil die Wörter sonst in mir brennen.
Die Seiten füllen sich, obwohl ich keine Erinnerung abrufe.
Die Hand weiß mehr als der Kopf.
Ich lese mit, während ich schreibe.
„Das Zeichen war nie Warnung. Es war Einladung.
Nicht zum Glauben, sondern zum Erinnern.
Wir waren viele.
Wir sind noch.“
Der Raum bleibt gleich.
Weiß. Still.
Keine Türen.
Keine Fenster.
Aber ich habe keine Angst.
Ich bin da.
Nicht verloren.
Nicht festgelegt.
Nur: bewusst.
Draußen, in Kronn
(oder dem, was man für Kronn hält)
Lea wartet.
Die Uhren funktionieren wieder.
Aber die Zeit stimmt nicht.
Alles scheint synchron, aber verkehrt.
So, als würde etwas anderes auf sie zugehen.
Leise.
Behutsam.
Unerbittlich.
Sie hört Schritte.
Hinter Wänden.
Im Funkgerät rauscht eine Stimme.
Nicht Nora.
Und doch…
„Es ist fast soweit.“
Ich schreibe weiter.
Sehe meine Worte erscheinen, bevor ich sie formuliere.
Als wären sie schon geschrieben.
Als würden sie mich nur noch benutzen, um zu atmen.
Dann plötzlich:
Nichts mehr.
Der Stift fällt.
Das Licht flackert.
Ein zweites Ich sitzt mir gegenüber.
Nicht bedrohlich.
Nur wach.
„Bist du fertig?“
Ich nicke.
Oder ich denke es nur.
„Dann kannst du zurück.“
Rückkehr:
Ich trete aus dem Raum.
Kein Übergang.
Kein Effekt.
Einfach: zurück.
Und Lea steht da.
Sie sieht mich an.
Und sagt:
„Du bist’s nicht mehr.“
Ich sage:
„Doch. Nur mehr als vorher.“
Die Systeme von Kronn starten neu.
Aber anders.
Sie reagieren auf Sprache.
Auf Gedanken.
Auf Nähe.
Ich berühre eine Wand.
Sie pulsiert.
Lebendig.
Die Welt ist dieselbe.
Und doch neu.
Durchbruch heißt nicht: weiter.
Sondern: tiefer.
Kapitel 16: Refrakt
Die Welt ist still.
Nicht tot.
Nicht stumm.
Still – wie ein Raum, der lauscht.
Ich gehe durch Kronn.
Die Station reagiert nicht mehr auf Befehle.
Nur auf Bewegung.
Auf Absicht.
Türen öffnen sich, bevor ich sie sehe.
Displays zeigen keine Daten mehr.
Nur Bilder.
Fragmente.
Ich – als Kind.
Ich – als Schatten.
Ich – mit offenen Augen, in einem Licht, das es hier nie gab.
Lea folgt mir.
Sie fragt nichts.
Aber sie trägt das Zeichen jetzt auch.
An der Hand.
Nicht gebrannt.
Gezeichnet.
Von mir.
Heute früh.
Ohne zu wissen, warum.
Sie hat nicht widersprochen.
Nur zugesehen.
Wir betreten den Kontrollraum.
Er ist leer.
Kein Summen.
Kein Protokoll.
Nur: ein leiser Ton.
Wie ein Tonband, das rückwärts läuft.
Ich tippe einen Satz ins Terminal.
Langsam.
Wie eine Prüfung.
„Wer bin ich?“
Der Bildschirm bleibt schwarz.
Dann, langsam:
„Du warst. Du bist. Du wirst.“
Ich sehe mich im Glas.
Nicht als Spiegelbild.
Als Echo.
Die Haare kürzer.
Der Blick tiefer.
Und hinter mir – keine Silhouette.
Nur Licht.
Ein schwacher Schein, der pulsiert wie ein Herz.
Vielleicht bin ich nie zurückgekehrt.
Vielleicht war ich nie fort.
Vielleicht ist das hier keine Rückkehr.
Sondern die erste wirkliche Ankunft.
Ich öffne die letzte Tür.
Sie führt nicht hinaus.
Nicht weiter.
Nur in einen Raum.
Leer.
Rund.
Wie damals.
In der Mitte: ein Zeichen.
Nicht gemalt.
Nicht gebaut.
Ein Schnitt im Boden.
Tief.
Lebendig.
Ich trete hinein.
Einmal.
Zweimal.
Still.
Dann schließe ich die Augen.
Und sehe alles.
Gleichzeitig.
Refrakt:
Ein Punkt, an dem Licht bricht.
Und zeigt, woraus es gemacht ist.
ENDE (vorerst)
Nachwort
Du bist noch hier.
Vielleicht, weil du wissen wolltest, wie es endet.
Vielleicht, weil du gehofft hast, es würde nicht wirklich enden.
Aber diese Geschichte – so wie sie jetzt dasteht – ist nicht gebaut wie andere.
Sie erinnert sich selbst.
Sie löscht sich nicht.
Sie will gehört werden, auch dort, wo nichts ausgesprochen wird.
Nora war nie einfach nur eine Wächterin.
Sie war Übergang.
Störung.
Und Echo.
Nicht besonders.
Aber notwendig.
Was sie gesehen hat, war nie nur für sie gedacht.
Sondern für jeden, der den Moment kennt, in dem die Welt ganz kurz flackert –
und man sich fragt:
War das gerade real?
Oder habe ich mich selbst erinnert?
Vielleicht hast du das Zeichen gespürt.
Beim Lesen.
Zwischen den Zeilen.
Vielleicht trägst du es schon länger, ohne es zu wissen.
Was du jetzt tust, ist deine Entscheidung.
Ob du vergisst.
Oder wiederkommst.
Denn manche Geschichten sind keine Schleifen.
Sondern Schleusen.
Und du hast gerade eine geöffnet.