As Time Goes By

Jenna in der Stadt

Kapitel 1 – Der Rand

Ich kam von Osten, wo die Felder längst aufgegeben hatten. Das Gras war da nur noch Erinnerung, verbrannt und gebleicht wie alte Zeitung. Die Straße, wenn man das noch so nennen konnte, war gerissen, vom Frost zerfetzt. Ich trat mit den Stiefeln auf Asphalt, der wie faules Brot unter mir brach. Kein Geräusch außer meinen eigenen Schritten. Und das Krächzen meines Rucksacks, wenn ich den Rücken durchstreckte.

Die Stadt lag vor mir wie ein Tier, das tot wirkte, aber vielleicht nur schlief. Kein Rauch, kein Licht. Nur Silhouetten. Häuser ohne Fenster, Dächer wie ausgefranste Mäuler. Ich dachte, sie atmen. Vielleicht war das nur der Wind. Vielleicht auch nicht.

Ich blieb an einem halb umgestürzten Schild stehen. Verbeult, die Buchstaben nur noch halbe Schatten: „W…lkom…n i… V…..“
Na dann. Willkommen.

Der Zettel in meiner Jackentasche war feucht vom Schweiß. Ich holte ihn raus, sah den Namen nochmal an. Elian. Eine krakelige Schrift. Rückseite leer. Keine Adresse, keine Nachricht. Nur das Wort. Elian. Wie ein Fluch. Oder ein letzter Versuch.

Hinter dem Ortsschild lag der erste Häuserblock. Beton in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Türen ohne Rahmen. Fenster wie leere Augenhöhlen. Als ob hier jemand ausgeräumt hätte – nicht nur Möbel, auch Stimmen, Gedanken, Geräusche. Alles weg. Abgezogen wie Haut.

Ich trat durch das erste Tor. Keine Schwelle, keine Glocke. Aber der Wind änderte sich. Und der Geruch.

Es roch nach kaltem Metall. Nach altem Wasser. Und ganz, ganz schwach: nach Lavendel. Ich blieb stehen. Zog die Luft nochmal durch die Nase. Das war unmöglich. Und trotzdem war er da. Wie ein Geist, der kurz durchs Zimmer weht.

Ich dachte nicht an Angst. Noch nicht. Es war mehr dieses Ziehen hinterm Brustbein. So ein Gefühl, das man kriegt, wenn man glaubt, dass irgendwas gleich passiert – aber nicht weiß, ob’s gut wird oder gar nichts mehr.

Ich ging weiter. Linke Straßenseite. Eine Katze huschte unter einen rostigen Lieferwagen. Weiß, mit einem schwarzen Streifen am Rücken. Ich blieb stehen, sah ihr nach. Sie drehte den Kopf, nur kurz – dann war sie weg. Das war das Erste, was mich hier wirklich ansah.

Die Stadt sagte nichts. Aber sie sah zu.

Und ich war da.
Jenna.
Mit nichts außer dem Namen in meiner Tasche. Und einer Frage, die ich nicht mal laut aussprechen konnte. Noch nicht.

Kapitel 2 – Zimmer 4B

Das Haus, das ich wählte, hatte keinen Namen. Nur eine rostige Tür, die sich nicht wehrte, als ich sie aufstieß. Der Eingangsbereich war schief. Risse im Boden, als hätte sich das Fundament irgendwann entschlossen, einfach aufzuhören. Rechts ein Briefkastenbrett – voller Schlitznarben, ohne Namen. Eine Spinne hatte ihr Netz über Wohnung 4B gespannt. Ich nahm das als Einladung.

Die Treppe war morsch, knarrte wie ein alter Rücken. Ich hielt mich am Geländer fest, das sich anfühlte wie kalter Knochen. Zweiter Stock – ein zersplitterter Spiegel an der Wand. Mein Spiegelbild war nur ein Umriss. Kein Gesicht. Ich lachte kurz, leise, vielleicht aus Versehen. Dann schob ich mich weiter hoch.

Vierter Stock. Tür 4B stand leicht offen. Kein Schloss. Kein Widerstand. Dahinter: ein Raum, der einmal gelebt hatte. Jetzt roch er nach feuchtem Stoff, abgestandenem Kaffee und etwas, das nach Heimweh schmeckte.

Der Boden war schief, als hätte sich das Haus heimlich in der Nacht zur Seite gelegt. Ein Bettgestell ohne Matratze, ein Fenster mit halb zugezogener Gardine, die sich bewegte, obwohl es keinen Wind gab. Ich ließ meinen Rucksack fallen. Die Stille darin klang dumpfer als draußen.

An der Wand hing ein Bild. Verblasst. Zwei Gesichter, lächelnd, aber schwer zu erkennen. Ich trat näher. Das Glas war gesprungen, direkt durch die Stirn der linken Figur. Ich weiß nicht, warum mir das so auffiel. Aber es tat’s.

Ich legte mich auf den nackten Boden. Kalt. Der Putz über mir blätterte ab. Irgendwo tropfte es. Regelmäßig. Wie eine Uhr, die nicht vergessen wollte, dass Zeit vergeht. Ich zählte die Tropfen, bis ich aufhörte. Irgendwann schlief ich ein.

Mitten in der Nacht schreckte ich hoch.
Ein Geräusch. Schritte. Über mir.
Langsam.
Kratzend.

Aber der fünfte Stock war eingestürzt. Ich hatte’s gesehen.
Trotzdem: Die Schritte blieben.
Rauf. Runter.
Jemand – oder etwas – ging dort oben herum, wo nichts mehr war.

Ich wagte nicht zu atmen.
Dann: eine Stimme. Ganz leise.
Flüstern. Zwei Worte vielleicht. Oder nur eins, wiederholt. Ich verstand sie nicht. Aber ich verstand die Absicht.

Sie wussten, dass ich da war.

Ich zog mir die Jacke über den Kopf. Wie ein Kind.
Nicht sehen. Nicht gehört werden.
Ich lag da. Die ganze Nacht.
Und irgendwann dämmerte es.
Und ich war immer noch da.

Kapitel 3 – Das Archiv

Am Morgen war alles grau. Nicht das helle, wässrige Grau von Hoffnung, sondern das matte, kriechende Grau, das sich in die Haut setzt. Ich trank Wasser aus einer Flasche, die noch halb voll war. Kalt war es nicht, aber ich fror. Wahrscheinlich innerlich.

Ich verließ das Haus durch den Hinterausgang, trat in eine Gasse, in der sich der Müll mit Erde vermischt hatte. Alte Plakate an der Wand: „Wir bleiben!“ – „Zukunft für Alle!“ – leere Parolen wie aus einem Fiebertraum. Alles vergilbt, übermalt, wieder zerrissen.

Jemand hatte „GEH“ an eine Tür geschrieben. In Rot. Sah aus wie Blut, war aber zu ordentlich dafür.

Ich wusste nicht, was ich suchte, also ging ich dahin, wo es nach Papier roch. Es war wie ein Instinkt. Oder so ein inneres Kratzen, das nur Ruhe gibt, wenn man es verfolgt.

Das Archiv lag eingeklemmt zwischen zwei Parkhäusern. Ein rechteckiger Klotz mit zerschlagenen Fenstern und einer Tür, die zu leicht nachgab. Innen: Staub, der in dicken Wellen in der Luft hing. Und Regale. Endlos. Holz, Metall, zerbrochen. Ein Geruch wie nasse Bücher und Mäusekot. Ich war zuhause.

Ich durchstreifte die Flure, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie Gänge oder Gräber waren. Es war still, nur meine Schritte und das gelegentliche Knacken von altem Holz.

Dann fand ich den Raum.
„PERSONENAKTEN – GESCHLOSSEN“
Die Tür war nicht abgeschlossen. Natürlich nicht.

Ich kramte. Stöße von Ordnern, Listen, Karteikarten. Namen, Zahlen, Diagnosen. Viele durchgestrichen, viele ohne Abschluss. Dann:
Elian D.
Drei Seiten. Nicht mehr.

Geburtsdatum: verblasst.
Aufnahmegrund: „reaktive Episode – nicht suizidal“
Vermerk: „Verweigerung der Medikation“
Entlassen: „auf eigenen Wunsch“
Letzter Eintrag:
„Nicht geheilt. Aufenthalt wurde abgebrochen. Letzter bekannter Aufenthaltsort: Westsektor, Nähe Turm.“

Turm. Wieder dieses Wort. Ich kannte keinen Turm. Nicht wirklich. Aber in meinem Nacken regte sich was. So ein Brennen. Als hätte ich vergessen, dass ich mich erinnern sollte.

Ich steckte die Seiten ein.
Dann hörte ich es.
Wieder Schritte.
Nicht laut, aber entschlossen. Jemand war im Gebäude. Vielleicht zwei. Kein Flüstern diesmal. Nur das rhythmische Klacken von Absätzen auf Linoleum. Ich duckte mich hinter ein Regal.

Sie gingen vorbei. Redeten nicht. Einer hatte eine Taschenlampe, die im Staub wirbelte. Ich sah nur Schatten. Silhouetten. Keine Gesichter.

Ich blieb, bis es still wurde.

Dann ging ich.
Mit den Papieren in der Jacke.
Und dem Namen wieder im Kopf.
Elian.
Westsektor.
Turm.

Kapitel 4 – Der Mann mit dem Koffer

Ich fand den Westsektor nicht. Er fand mich.

Die Straßen dort hatten keine Schilder mehr. Nur Pfeile ohne Richtung, Namen aus Radiostatik. Die Häuser hockten wie kranke Tiere – geduckt, verdreht, mit offenen Mündern. Manche hatten kein Dach mehr, aber ihre Türen waren verschlossen. Als würde jemand darin schlafen. Oder wachen.

Ich bog in eine Gasse, weil ich das Gefühl hatte, ich sollte. Vielleicht roch sie anders. Vielleicht war da dieser dünne Hauch von verbranntem Gummi, der mich an etwas erinnerte. Oder weil es plötzlich still wurde. Zu still.

Er saß auf einem Klappstuhl. Mitten im Dreck, neben einem Haufen Bauschutt, der mal ein Kiosk gewesen war. Trug einen Anzug, altmodisch, aber nicht dreckig. Schwarzer Koffer neben ihm, makellos. Keine Staubspur. Keine Falte. Der Mann war blass, aber nicht bleich. Eher: konturlos. Wie ein Foto, das nie ganz entwickelt wurde.

„Du bist spät“, sagte er.

Ich blieb stehen. Sagte nichts. In dieser Stadt schien das sicherer.

Er sah mich nicht direkt an. Fixierte einen Punkt hinter mir. Vielleicht eine Erinnerung. Vielleicht gar nichts.

„Du suchst Elian.“ Kein Fragezeichen. Kein Zweifel.

Ich nickte.

Er seufzte. Lang und leise. Dann griff er nach dem Koffer. Öffnete ihn nicht. Nur berührte ihn, als wäre das die Art, wie er denkt.

„Elian war hier. Vielleicht ist er’s noch. Aber der Turm hat ihn verändert.“ Dann drehte er den Kopf, sah mich zum ersten Mal an. Die Augen: zu grau, um echt zu sein.

„Und dich auch, wenn du gehst.“

„Was meinst du mit Turm?“ fragte ich. Die Stimme klang fremd in meinem eigenen Mund.

Er lächelte. Nur mit den Lippen. Die Augen blieben tot.

„Der Turm erinnert sich. An jeden. Aber nicht auf die gleiche Weise.“

Ich trat einen Schritt näher.

„Was bist du?“, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Krieg. Oder Rest davon.“

Dann stand er auf. Nahm den Koffer. Ging. Ohne Eile. Einfach weg. Kein Staub wirbelte auf, keine Schritte hallten.

Ich blieb allein zurück.
Krieg.
Elian.
Turm.

Drei Worte. Wie Koordinaten.
Oder eine Warnung.
Oder ein Gedicht, das keiner mehr zu Ende geschrieben hatte.

Kapitel 5 – Die Brücke

Ich fand sie kurz vor Sonnenuntergang. Falls das da noch eine Sonne war – eher ein matter Fleck hinter Ruß und Dunst, der sich kaum noch traute, Schatten zu werfen.

Die Brücke kam plötzlich. Keine Vorankündigung, kein Geländer zum Festhalten. Sie spannte sich wie ein Knochen über ein Tal aus schwarzem Wasser. Kein Fließen. Kein Gluckern. Nur diese glatte, unbewegte Fläche, in der sich nichts spiegelte. Nicht mal ich.

Ich stand am Anfang der Brücke und wusste nicht, ob ich das wirklich tun sollte.

Sie war aus Stahlbeton, von Rissen durchzogen wie alte Haut. In der Mitte fehlten ein paar Platten. Oder sie waren einfach weggedacht worden. Wer weiß das hier schon.

Ich trat drauf.
Ein Schritt.
Zweiter.
Der Boden vibrierte leicht. Oder mein Herz.

Ich ging weiter.
Fünfzehn, zwanzig Meter.
Dann stand ich plötzlich da.
In der Mitte.

Dort, wo man nicht hinsollte, wenn man nicht weiß, was auf der anderen Seite wartet.

Am Geländer war etwas eingeritzt.
„ICH BIN HIER“
Groß, krakelig, fast wütend.
Ich fuhr mit den Fingern über die Buchstaben.
Frisch.
Nicht alt.
Das Metall war noch rau, als hätte jemand erst gestern… oder heute…

Ich starrte aufs Wasser. Suchte nach einer Bewegung. Einem Zeichen.
Nichts.

Aber ich hörte was.
Ein Flüstern. Ganz leise.
Keine Sprache. Eher ein Atmen, das jemand zu verstecken versuchte.
Es kam aus dem Wasser. Oder von unter der Brücke. Oder aus mir selbst.

„Du bist nicht allein“, sagte jemand.
Ich drehte mich um.
Niemand.

Doch da war eine Gestalt am Brückenanfang.
Nicht näher definierbar.
Groß? Klein?
Schwarz umrandet vom Dunst.

Ich blinzelte.
Weg.

War vielleicht auch nie da.

Ich stand da, das Wasser zu meinen Füßen, der Wind wie eine Hand im Nacken.
Ich dachte an Elian.
An seine Stimme.
Ich erinnerte mich nicht daran. Aber mein Körper tat es.
Das Zittern.
Die Wärme.
Die Lücke.

Ich ließ meine Hand auf dem Schriftzug ruhen.
„ICH BIN HIER“
Das war keine Nachricht.
Das war ein Bekenntnis.
Oder ein letzter Schrei.

Ich ging weiter.
Schritt für Schritt.
Und kam auf der anderen Seite an.

Aber irgendwas blieb zurück.

Kapitel 6 – Das Hotel Linnea

Das Schild hing noch.
„Hotel Linnea“ – geschwungene Lettern auf Milchglas, angeschlagen, aber lesbar.
Ich sah es aus der Ferne, eingerahmt von zwei gekippten Laternenmasten, als hätte die Stadt selbst gesagt: Da lang, Fremde. Hier beginnt’s.

Das Gebäude war alt, fünf Stockwerke, Fassade aus Stein, der in der Dunkelheit bläulich glänzte. Die Fensterläden schlugen leise im Wind, obwohl keiner wehte. Ich spürte das sofort – dieser Ort atmete. Nicht wie ein Lebewesen. Eher wie ein Raum, der sich erinnert, dass er mal jemandem gehört hat.

Ich trat durch die Drehtür, die sich überraschend leicht bewegte. Innen: Dämmerlicht, der Geruch nach altem Teppich und Zigarettenrauch. Der Staub lag wie Schnee auf allem, aber der Strom… der Strom war da.
Irgendwo spielte Musik. Leise.
Jazz.
Ein Saxofon, das nicht ganz wusste, was es erzählen wollte.

Die Rezeption war noch da – ein Holztresen mit eingelassenem Messingschild: Bitte klingeln.
Dahinter: eine Pappfigur. Eine Frau mit blauer Uniform und aufgedrucktem Lächeln.
Ich grinste zurück.
„Na dann, buchen wir mal ein.“

Ich nahm den Schlüssel vom Haken.
4. Stock. Zimmer 512.
Seltsame Zahl. Fünfter Stock, aber Schlüssel für den vierten? Ich fragte nicht weiter. In dieser Stadt fragt man besser nicht zu viel.

Der Fahrstuhl war tot.
Ich nahm die Treppe.
Knarrend, wie alles. Aber stabil.
Im dritten Stock roch es nach verbranntem Holz.
Im vierten nach Lavendel.
Im fünften: nach Elian.

Ich blieb vor Zimmer 512 stehen.
Der Schlüssel passte.
Ich trat ein.

Es war kein normales Hotelzimmer.
Nicht mehr.
Zwei Betten, unberührt. Ein Schreibtisch mit einer alten Schreibmaschine.
Daneben: ein Zettel.
Weiß.
Leer.
Nur: ein kleiner Fleck.
Vielleicht Blut. Vielleicht Kaffee. Vielleicht beides.

An der Wand hing ein Mantel.
Dunkelgrün, wollig, alt.
Ich trat näher. Rieb das Material zwischen zwei Fingern.
Er war noch warm.
Oder ich war es.

Auf dem Nachttisch stand eine leere Tasse.
Daneben: ein Haar. Schwarz. Glatt.
Nicht von mir.

Ich setzte mich auf das linke Bett.
Es gab einen Abdruck im Kissen.
Elian?
Vielleicht.
Oder irgendwer vor ihm. Oder nach ihm.
Ich schloss die Augen.

Der Jazz wurde lauter.
Dann leiser.
Dann flüsterte etwas.
Ganz nah. Direkt an meinem Ohr.

„Warum jetzt?“
Ich drehte mich um.
Nichts.

Nur der Geruch blieb.
Lavendel.
Und Regen auf Beton.

Kapitel 7 – Die Stimme

Ich wachte auf, bevor ich eingeschlafen war.

So fühlte es sich an.

Der Jazz war verstummt. Kein Laut mehr, nicht mal das elektrische Summen, das sonst immer irgendwo durch Wände kriecht. Nur mein Atem. Und… etwas darunter. Eine Art Echo. Als würde mein Ausatmen nicht ganz allein sein.

Ich lag auf dem Bett. Bewegte mich nicht.
Wusste: Wenn ich mich jetzt umdrehe, ist da was.
Keine Figur. Keine Gestalt.
Etwas Dazwischen.

Ich drehte mich trotzdem um.

Niemand.

Aber ich hörte es jetzt klarer.
Eine Stimme.
Nicht laut.
Nicht deutlich.
Eher: ein Gedanke, der von außen kam.

„Jenna.“

Ich saß auf.
„Was?“

Keine Antwort.

Nur wieder dieser Name.
Zart.
Zerbrechlich.
Als würde ihn jemand im Mund halten, der ihn nicht aussprechen darf.

„Jenna.“

Ich stand auf.
Ging zum Fenster.
Draußen: die Straße leer. Dieselbe Leere wie immer – und doch…
Eine Bewegung.
Ein Schatten vielleicht.
Oder nur der Vorhang im Nachbarhaus.

Ich öffnete das Fenster.
Der Wind kam mit etwas Mitgebrachtem.
Ein Geruch.
Süßlich. Wie nasser Stein und Honig.
Und: Erinnerung.

Nicht direkt.
Eher das Gefühl, dass man gleich weiß, woran man sich erinnert.
Und es dann wieder verliert.

„Du warst schneller früher.“

Ich zuckte zusammen.
Die Stimme jetzt deutlicher.
Immer noch flüsternd.
Aber… drin. Nicht draußen.
Hinter den Ohren.
Unter der Haut.

„Du hast es vergessen, Jenna.“

„Was denn?“, fragte ich. Laut. Zu laut.

Die Lampe flackerte.

„Du weißt es.“

Ich tastete nach dem Zettel. In meiner Jackentasche.
Elian. Der Name war noch da.
Aber es fühlte sich anders an.
Fremder.

Ich drehte mich im Raum.
Sah auf die Wände.
Auf die Ecken.
Auf das Kissen, das sich schon wieder geformt hatte.
Etwas saß dort.
Gerade noch.

Dann war es weg.

Ich verließ das Zimmer.
Rannte die Treppe runter.
Vorbei an der Papp-Rezeptionistin mit dem aufgeklebten Lächeln.
Die Drehtür bremste nicht.
Draußen war Nacht.

Ich stand da.
Und die Stimme sagte:

„Du findest ihn. Wenn du dich verlierst.“

Und ich antwortete:

„Ich hab mich längst verloren.“

Dann war Stille.

Und ich wusste, wohin ich als Nächstes musste.

Kapitel 8 – Spiegelsaal

Der Weg zum Museum führte durch ein Viertel, das aussah wie ein vergessenes Bühnenbild. Fassaden, nur noch Kulissen, dahinter nichts – nur Schatten und leergeräumte Räume. Die Stadt war kein Ort mehr. Eher ein Zustand.

Das Museum lag an einem Platz ohne Namen. Ein Brunnen stand da, aber ohne Wasser. Im Becken lagen Münzen, grün angelaufen. Ich sah sie an und fragte mich, wofür die Leute hier mal gewünscht hatten. Und ob irgendwas davon eingetreten war.

Das Eingangstor des Museums war aus Glas, angeschlagen, aber ganz. Innen: Dämmerlicht. Der Empfangsbereich leer. Nur ein altes Ticket auf dem Boden, aufgedruckt:
Dauerausstellung: Erinnern – Spiegel der Stadt.

Klang passend.
Ich folgte den Schildern, mehr aus Bauchgefühl als Verstand.

Der Spiegelsaal lag im Untergeschoss.
Eine doppelflügelige Tür, halb offen.
Dahinter: Stille.
Keine Geräusche. Kein Echo meiner Schritte.
Nur Licht, das von nirgendwo kam und sich überall brach.

Der Raum war groß. Rund.
Und überall Spiegel.

An den Wänden, an der Decke, sogar auf dem Boden.
Verschmiert. Zerkratzt.
Manche gesprungen.
Einige: vollkommen intakt.
Zu intakt.

Ich trat hinein.
Sah mich hundertfach.
Aber nie ganz.
Immer fehlte etwas. Ein Auge, ein Schatten, ein Teil des Gesichts.
Manchmal sah ich mich in Bewegung, obwohl ich stillstand.
Manchmal bewegte sich mein Spiegelbild nicht mit.

Ich blieb stehen.
Direkt vor einem dieser makellosen Spiegel.
Und dann sah ich ihn.

Elian.

Hinter mir.
Oder im Spiegel.
Oder durch den Spiegel hindurch.

Er war älter.
Schmaler.
Hatte diesen Blick, den Menschen kriegen, wenn sie zu viel allein waren.
Er bewegte den Mund.
Ich hörte nichts.
Seine Lippen formten: Jenna.

Ich trat näher.
Er hob die Hand.
Ich hob sie auch.
Aber wir berührten nicht dasselbe Glas.
Er spiegelte mich nicht.
Er war…
Eigenständig.

Dann sprach er.
Wirklich.
Ein Wort, kaum hörbar.
Nur ein Hauch.

„Zu spät.“

Das Glas zersprang.

Nicht laut.
Kein Knall.
Nur ein feines, knisterndes Auseinanderbrechen.
Wie Frost, der langsam in einer Fensterscheibe wächst.

Ich trat zurück.
Alle Spiegel im Raum begannen zu flackern.
Zeigten nicht mehr mich.
Sondern andere.
Menschen, die ich nicht kannte – oder kannte, aber vergessen hatte.
Kinder. Frauen. Ein Mann mit einem Regenschirm.
Ein Kind, das mich ansah wie jemand, der weiß, dass ich lüge.

Ich drehte mich um.
Niemand hinter mir.
Nur ich.
Oder was von mir übrig war.

Der Spiegelsaal begann zu flüstern.
Nicht eine Stimme. Viele.
Fragmente. Sätze.

„Warum hast du ihn gelassen?“
„Du warst zuerst dort.“
„Er hat gewartet, Jenna.“
„Du hast dich nicht umgedreht.“

Ich rannte.
Stolperte, schlug fast aufs Glas.
Fand den Ausgang, irgendwie.
Treppe rauf.
Licht.
Draußen.

Der Himmel war jetzt tiefblau.
Und still.

Ich setzte mich an den leeren Brunnenrand.
Der Stein war kalt.
Die Stimme in meinem Kopf sagte nichts mehr.

Aber ich wusste, was jetzt kam.
Der Tunnel.
Das Licht.

Oder: das, was darunter lag.

Kapitel 9 – Das Licht

Es war kein Licht, das man suchte.
Es war eins, das einen fand.
So wie ein Geräusch, das man nur hört, wenn man aufhört, etwas Bestimmtes hören zu wollen.

Ich sah es das erste Mal aus dem Augenwinkel.
Zwischen zwei U-Bahn-Schächten, wo die Rolltreppen tot waren und alles nach Eisen roch.
Ein Flackern.
Wie ein Bildschirm, der kurz anspringt, bevor er sich entscheidet, wieder zu sterben.

Ich ging hin. Natürlich.
War ja eh zu spät für Zweifel.
Oder Umkehren.
Oder all die anderen Luxusgefühle, die Leute mit heilen Biografien sich leisten.

Der Tunnel war nicht angeschrieben. Kein Linienplan, kein Ziel.
Nur eine Betonöffnung, aus der dieser Schimmer kam – kaltweiß, mit einem Hauch von etwas Wärmerem dahinter. Wie Kindheit unter Neonlicht.

Ich stieg hinab.
Die Stufen schienen endlos.
Oder ich war es, der nicht mehr zählte.
Unten: Stille.
Aber nicht die tote Art.
Eher: gespannte.
Die, bevor etwas passiert.

Ich trat in den Gang.
Die Wände: glatt, ohne Graffiti, ohne Geschichte.
Nur ein schmaler Streifen Licht an der Decke.
Ich folgte ihm.

Dann, nach vielleicht drei Minuten – oder drei Leben – kam ich an.
Ein Raum.
Nicht groß.
Nicht klein.
Ein Raum wie ein Gedächtnis.

In der Mitte: ein Tisch.
Darauf: ein Bild.

Ich trat näher.

Ein Kinderbild.
Von mir.
Kein Zweifel.
Ich kannte dieses T-Shirt, diesen schiefen Pony, den Blick, der so tat, als hätte er nichts zu verstecken.

Daneben: ein Musikspielzeug.
So eins mit Kurbel.
Ich berührte es nicht.
Es spielte trotzdem.

Eine Melodie, die ich nicht kannte.
Oder mal kannte.
Es war, als würde sie direkt in mein Rückenmark sickern.

Ich setzte mich auf den Boden.
Weiß nicht warum.
Einfach.
Wie eine Reaktion auf ein Gefühl, das ich noch nicht zuordnen konnte.

Dann ging das Licht aus.
Alles.

Bis auf ein Punkt.
An der Wand.
Ein Riss.
Und aus diesem Riss: Licht.
Nicht grell.
Eher… erinnernd.

Ich ging darauf zu.
Erwartete nichts.
Aber etwas wartete auf mich.

Ich legte die Hand auf die Wand.
Sie war warm.
Nicht von außen.
Von innen.
Als würde jemand auf der anderen Seite seine Hand an dieselbe Stelle legen.

Dann hörte ich es.

„Du bist fast da.“

Eine andere Stimme diesmal.
Sanfter.
Müde.
Vielleicht Elian.
Vielleicht ich.

Ich ließ die Hand dort.
Atmete.
Das Spielzeug hörte auf zu spielen.

Und ich wusste, die Jagd hatte begonnen.

Kapitel 10 – Die Jagd beginnt

Ich verließ den Tunnel rückwärts.
Nicht aus Aberglauben – eher aus Instinkt.
Etwas war in mir aufgewacht.
Oder in der Stadt.
Vielleicht beides.

Oben war es wieder Nacht.
Natürlich war es Nacht.
In dieser Stadt war es immer irgendwie Nacht, auch mittags.

Ich ging. Ziellos.
Aber das Ziel war längst nicht mehr draußen.
Es war hinter mir.
In mir.
Unter mir.

Es begann subtil.
Ein Kribbeln im Nacken, das blieb, auch wenn ich stehen blieb.
Ein Schatten zu viel an der Häuserwand.
Ein Flüstern ohne Mund.
Nicht Stimme – Gewicht.

Etwas folgte mir.
Kein Tier.
Kein Mensch.
Etwas, das mich kannte.
Aber nicht von früher.
Von innen.

Ich versuchte, nicht zu rennen.
Rennen macht dich echt.
Ich ging. Gleichmäßig.
Verließ den U-Bahn-Schacht, lief durch den Park, der kein Park mehr war – nur eine Fläche mit verbranntem Gras und verbogenen Schaukeln.

Dann: das alte Schwimmbad.
Ich erinnere mich nicht, wie ich dort ankam.
Aber ich war da.

Ein Klotz aus Beton, eingerissen, von Moos gefressen.
Die Fliesen draußen noch da – dieses türkisblau, was früher mal Frische bedeutete.
Jetzt: Totenton.

Ich trat ein.
Tür hing schief. Kein Geräusch.
Drinnen: das Becken.

Leer.

Aber das Wasser… war trotzdem da.
Nicht sichtbar.
Aber da.

Ich trat näher.
Beugte mich über den Rand.

Und sah eine Stadt.

Nicht diese.

Eine andere.
Bunter.
Lebendiger.
Aber falsch.
Die Straßen waren zu gerade.
Die Fenster zu dunkel.
Die Menschen zu ruhig.

Dann bewegte sich einer.
Sah direkt zu mir.
Ein Mann.
Verwaschenes Gesicht.
Aber: Elian?
Er hob die Hand.
Nicht zum Gruß.
Zum Abschied.

Dann flackerte das Bild.
Weg.

Ich hörte Schritte.
Hinter mir.
Langsam.
Feucht.
Wie nasse Füße auf Stein.

Ich drehte mich nicht um.
Drehte mich nie um.

Ich sprang ins leere Becken.
Es war nicht leer.
Es war gefüllt mit Licht.
Oder Erinnerung.
Oder Angst.

Ich tauchte.

Kein Wasser.
Nur Kälte.
Nur ich.

Dann wieder Stille.

Als ich die Augen öffnete, war ich am Beckenrand.
Oben.
Tropfnass.
Aber meine Kleidung war trocken.

Etwas stand am Beckenrand auf der anderen Seite.

Nicht ich.

Etwas, das mich imitierte.
Bewegte sich nicht.
Atmete nicht.
Sah.

Dann blinzelte ich.
Und es war weg.

Ich blieb noch eine Weile sitzen.
Nicht aus Müdigkeit.
Aus Trotz.

Ich hatte verstanden.

Das Ding –
Was auch immer es war –
Es wollte nicht, dass ich Elian finde.
Es wollte, dass ich vergesse, dass ich suche.

Aber ich erinnerte mich jetzt.
Klar.
Heftig.
Wie ein Schmerz, den man wieder zulässt.

Ich stand auf.

Und ging zum Turm.

Kapitel 11 – Der Turm

Er stand da, als wäre er schon immer dort gewesen.
Der Turm.
Kein Monument. Kein Wahrzeichen. Kein Gottverdammtes Symbol.
Ein Fehler in der Landschaft.
Wie ein Stift, der durch ein Blatt gestoßen wurde, zu schnell, zu fest.

Schwarz.
Matt.
Kein Fenster. Keine Öffnung.
Nur Höhe.
Und Stille.
Eine, die atmet. Schwer. Und tief.

Ich kam bei Sonnenaufgang an – oder was hier dafür durchging.
Der Himmel war weiß wie Zähne nach einem Albtraum.
Der Wind schwieg.
Selbst die Vögel, die sonst kreisten, als wären sie auf Drogen, waren verschwunden.
Ich war allein.
Und nicht.

Der Boden vibrierte, kaum spürbar.
Als würde etwas unter der Erde schlafen.
Oder aufwachen.

Die Tür war nicht da.
Dann war sie da.
Einfach so.
Ein Riss im Beton, der sich öffnete wie ein Auge.
Darauf stand, eingeritzt in kindlicher Schrift:

„NUR, WENN DU VERGISST.“

Ich legte die Hand auf die Kante.
Sie war kalt.
Nicht temperaturkalt –
Erinnerungskalt.
Als würde etwas aus mir gezogen, kaum dass ich sie berührte.

Ich trat ein.
Es gab kein Geräusch.
Nicht mal mein eigenes.
Kein Hall. Kein Schritt. Kein Atem.

Nur: der Aufstieg.
Eine Wendeltreppe.
Endlos.
Kein Licht, keine Fenster, kein Geländer.
Nur die Ahnung von oben.

Ich stieg.
Stufe für Stufe.
Es war, als würde mein Körper noch wissen, wohin er wollte.
Aber mein Kopf? Der fing an zu vergessen.

Erst das Jahr.
Dann den Ort.
Dann: Warum.

Ich musste mich zwingen.
Den Namen zu murmeln.
Immer wieder.

„Elian. Elian. Elian.“

Wie ein Mantra.
Oder wie jemand, der sein Passwort nicht verlieren will.

Auf halber Höhe kam ein Raum.
Nicht groß.
Nicht eingerichtet.
Nur: ein Stuhl.
Und ein Tonbandgerät.

Ich drückte auf Play.
Die Stimme.
Klar.
Männlich.
Traurig.
Elian?

„Wenn du das hörst, bist du fast oben. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich’s war, der dich gerufen hat. Vielleicht war’s der Turm. Vielleicht du selbst.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich noch da bin. Oder ob ich nur die Erinnerung bin, die du brauchst, um weiterzumachen.“

Dann: Klick.
Ende.

Ich lachte. Kurz. Trocken.
War’s Verzweiflung?
Erlösung?

Ich stieg weiter.

Der Turm schien sich zu verändern.
Die Wände flimmerten.
Mal sah ich Bilder.
Mal: Szenen.
Ein Haus, das brannte.
Ein Junge, der lachte.
Ein Mädchen, das sich versteckte.
Meine Hände zitterten.
Nicht aus Kälte.
Aus Wissen.

Dann: die letzte Tür.
Kein Schloss.
Nur: ein Spalt.

Dahinter: Licht.
Sanft.
Lebendig.
Nicht grell.
Nicht hart.

Ich trat ein.
Und da war er.

Elian.

Oder das, was von ihm übrig war.

Kapitel 12 – Die obere Etage

Er stand mit dem Rücken zu mir.
Schmal.
Schultern hochgezogen, als hätte er seit Jahren gewartet.
Oder gefroren.
Ein Mantel hing lose an ihm, zu groß oder zu leer.
Sein Haar war länger, dunkler, oder ich erinnerte mich falsch.

„Elian“, sagte ich.

Er bewegte sich nicht.
Aber etwas in der Luft zuckte.
Ein Lichtreflex. Ein Riss im Moment.
Dann drehte er sich um.
Langsam.
Ohne Eile.

Das Gesicht –
Es war seins.
Und nicht.
Ein bisschen älter, ja.
Ein bisschen… weniger.

Die Augen aber –
Die waren wie damals.
Und wie nie.
Glas zwischen uns.
Aber kein Spiegel.

Er lächelte.
Oder vielleicht spannte sich nur sein Gesicht.
„Du hast’s also geschafft“, sagte er.

Ich nickte.
„Hab dich gesucht.“
Es klang falsch.
Wie eine Entschuldigung, die zu spät kam, weil der Briefträger im Schnee stecken geblieben ist.

„Ich weiß.“
Seine Stimme war weich.
Aber da war was.
Wie Splitter hinterm Ton.
Worte, die nicht gesagt wurden, weil sie wehtun könnten. Oder weil sie schon zu oft gesagt wurden.

„Warum bist du nicht zurück?“
Ich fragte das.
Weil ich’s wissen musste.
Oder weil ich hoffte, dass er’s auch nicht wusste.

Er ging zum Fenster.
Das einzige hier oben.
Ein Blick auf eine Stadt, die nicht mehr die war, aus der ich kam.

„Ich bin gegangen, weil ich zu viel wusste. Und geblieben, weil ich zu wenig vergessen habe.“
Er lachte kurz.
Kein Humor. Nur Luft.

Ich trat näher.
Spürte, wie der Raum mit jedem Schritt dichter wurde.
Als würde die Luft an mir hängenbleiben.
Der Turm summte. Ganz leise.
Er erinnerte sich.
An mich.
An ihn.
An uns.

„Ich wollte dich retten“, sagte ich.

Er sah mich an.
Nicht böse.
Nicht verletzt.
Nur:
Müde.

„Du wolltest dich retten.“
Er sagte es nicht als Vorwurf.
Nur als Fakt.

Ich wollte widersprechen.
Konnte nicht.
Er hatte recht.
Vielleicht hatte er immer recht gehabt.

Ich sah auf seine Hände.
Zittrig.
Leer.

„Willst du mitkommen?“
Das fragte ich.
Obwohl ich wusste, dass man das hier nicht fragt.

Er schüttelte den Kopf.
Langsam.
„Ich bin schon zu sehr Teil von dem hier.
Und du –
Du wirst es auch bald sein,
wenn du nicht gehst.“

Ich trat einen Schritt zurück.
Meine Brust zog sich zusammen.
Nicht aus Schmerz.
Aus Gewicht.

Er trat näher.
Berührte meine Schulter.
Seine Hand war warm.
Und durchsichtig.

„Erinner dich“, flüsterte er.
„Aber nicht alles.“

Dann ging das Licht aus.

Und ich stand allein im Turm.

Kapitel 13 – Elian

Ich blieb stehen.
Nicht weil ich wollte.
Weil etwas in mir stoppte, wie ein Uhrwerk, dem plötzlich bewusst wird, dass es nur tickt, weil jemand es gewickelt hat.

Die Dunkelheit war nicht schwarz.
Sie war voll.
Wie mit Gedanken, die keiner sagen wollte.

Und dann –
ging das Licht wieder an.
Ein anderes Licht.
Von innen.
Vom Raum selbst.
Oder von mir.

Und er war wieder da.
Elian.
Oder das, was ihn nachspielte.

Die gleiche Gestalt.
Aber das Gesicht…
…glatt.
Leer.
Wie eine Oberfläche, auf der mal etwas war.
Aber zu oft abgewischt.
Zu oft verdrängt.

Ich konnte nicht schreien.
Es hätte eh nichts gebracht.
Die Stimme in mir war zu leise.
Und zu nah.

Er trat auf mich zu.
Gleichmäßig.
Geräuschlos.
Der Boden schien ihn nicht zu berühren.

Ich wich zurück.
Nur ein Schritt.
Mehr ging nicht.

„Was willst du noch hier?“
Seine Stimme klang wie durch Wasser.
Verzerrt, aber vertraut.

Ich öffnete den Mund.
Fand nichts.

„Du bist schon lange fort.“

Da war’s wieder.
Der Satz.
Er kannte mich.
Oder er tat so.

Die Gestalt hob die Hand.
Sie zeigte nach unten.
Durch den Boden.
Ich sah: nichts.
Aber ich fühlte.

Dort war etwas.
Eine Erinnerung, tief vergraben.
Schwer.
Warm.
Und hässlich.

„Du hast mich gehen lassen“, sagte er.
Und diesmal klang es wie er.
Elian.
Nicht das Echo.

Ich flüsterte:
„Ich hab’s nicht geschafft…“

„Doch. Du hast nur nicht gewollt.“

Das war der Moment.
Der Punkt, an dem ich wusste:
Ich konnte bleiben.
Und ihn behalten.
Aber verlieren, was ich war.

Oder ich konnte gehen.
Und ihn verlieren.
Aber mich behalten.
Was auch immer davon noch übrig war.

Ich trat vor.
Berührte seine Brust.
Sie war fest.
Kalt.
Aber da.

„Ich erinner mich. Aber du bist nicht mehr hier.“
Ich sagte das.
Leise.
Wie ein Gebet.
Oder ein Abschied, der nicht laut sein will, weil er sonst zerbricht.

Die Gestalt schloss die Augen.
Und zerfiel.
Nicht spektakulär.
Einfach:
Weg.

Ich stand allein in einem Raum, der sich wieder verdunkelte.
Aber diesmal:
war es meine Entscheidung.

Ich drehte mich um.
Der Ausgang war offen.

Der Abstieg konnte beginnen.

Kapitel 14 – Der Rückweg

Ich ging.
Nicht schnell.
Nicht langsam.
Ein Schritt nach dem anderen, als müsste ich mit jedem beweisen, dass ich noch da war.
Der Turm atmete leiser jetzt.
Oder ich hörte einfach weg.

Die Treppen waren dieselben, und doch:
leichter.
Weniger Widerstand, weniger Flüstern.
Die Wände zeigten nichts mehr.
Kein Bild.
Kein Elian.
Kein Ich.

Nur Grau.
Nur Raum.

Unten angekommen, öffnete sich die Tür von selbst.
Kein Ruck.
Kein Geräusch.
Als wäre ich nie darin gewesen.
Als hätte ich nur geträumt, dass ich oben war.

Draußen war wieder Tag.
Ein anderer Tag.
Nicht heller, nicht wärmer.
Aber offener.
Als hätte jemand in der Stadt die Luft ausgetauscht.
Den Druck gesenkt.

Ich stand eine Weile einfach nur da.
Auf der Schwelle.
Die Sonne – oder was davon übrig war – brach durch ein Wolkenloch und traf mich im Gesicht.
Und ich spürte’s.
Ganz kurz.
Etwas wie Leben.

Der Weg zurück war nicht mehr derselbe.
Die Straßen kannten mich jetzt.
Sie schauten nicht mehr durch mich hindurch.
Sie erinnerten sich.
Und ließen mich ziehen.

Ich kam am alten Hotel vorbei.
Die Papp-Rezeptionistin war weg.
Dafür lag ein Schlüssel auf der Treppe.
Zimmer 4B.

Ich nahm ihn nicht mit.

In der Ferne hörte ich wieder Musik.
Nicht Jazz diesmal.
Etwas Kindliches.
Vielleicht das Spielzeug aus dem Tunnel.
Oder mein Herz, das wieder lernen wollte, zu schlagen.

Ich ging zur Brücke.
Sie stand noch.
Der Schriftzug war verwischt.

„ICH BIN HIER“
Nur noch das „HIER“ war lesbar.
Und das reichte.

Ich überquerte sie.
Langsam.
Einmal drehte ich mich um.
Da war nichts hinter mir.
Kein Turm.
Kein Elian.
Kein Schatten.

Nur der Himmel.
Weit.
Und merkwürdig still.

Kapitel 15 – Fortgang

Ich verließ die Stadt durch ein anderes Tor.
Es war keines, das ich kannte.
Keine Tür, kein Bogen, kein großes „Danke fürs Kommen“.
Nur ein Riss in der Mauer, überwuchert von Efeu, der aussah wie Schrift, die niemand mehr lesen konnte.
Ich trat hindurch.
Kein Widerstand.
Die Stadt ließ mich gehen.
Oder sie war fertig mit mir.

Der Boden jenseits war weicher.
Erde.
Nicht mehr Beton.
Ein Gefühl unter den Füßen, das sich erinnerte, was Frühling war.
Obwohl es nicht Frühling war.
Nicht hier.
Nicht jetzt.

Ich blieb stehen.
Schaute zurück.
Nichts.
Nur Nebel.
Als hätte sich die Stadt wieder in sich selbst zurückgezogen.
Ein Atem, der stillsteht.

Ich öffnete meinen Rucksack.
Der Zettel lag noch drin.
„Elian“
Aber die Tinte war verlaufen.
Kein Name mehr.
Nur ein Fleck.
Ein Schatten von Bedeutung.

Ich legte ihn auf einen Stein.
Ließ ihn dort.
Vielleicht findet ihn jemand.
Oder der Wind nimmt ihn mit.

Ich ging weiter.

Im Rücken das Gefühl, gesehen worden zu sein.
Nicht von einem Menschen.
Von der Geschichte.
Von dem, was war.
Oder nie war, aber trotzdem blieb.

In der Jackentasche:
Nichts.
Keine Beweise.
Kein Foto.
Keine Stimme.

Nur ich.

Und vielleicht war das genug.

Kurz bevor der Weg sich verlor, hörte ich es noch einmal.
Ganz leise.
Wie aus einer anderen Richtung.
Vielleicht aus mir selbst.

„Vergiss mich.“

Ich antwortete nicht.
Ich lächelte.
Und ging weiter.

Nachwort

Manche Städte verlässt man,
und manche bleiben in einem zurück.
Jenna hat nicht gefunden, was sie gesucht hat.
Oder vielleicht doch –
aber in einer Form, die sich nicht festhalten lässt.
Elian war Erinnerung, war Verlust, war Teil von ihr –
und Teil der Stadt.
Was bleibt, ist kein Abschluss.
Sondern eine leise Ahnung:
Dass nicht alle Wege Antworten brauchen.
Und nicht jedes Vergessen Verlust ist.
Manchmal ist es auch ein Schutz.

Der Turm steht noch.
Vielleicht nur nachts.
Vielleicht nur in denen,
die etwas mit sich tragen,
was nie ganz gegangen ist.

(letzter Eintrag auf einer gefundenen Mauer, eingeritzt in Stein)

„Ich bin nicht verschwunden.
Ich bin nur ein Ort geworden.“

 

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