Das Archiv unter der Stadt

Ich stehe vor einem Abgrund. Nicht irgendeinem Abgrund, sondern einem verdammten Treppenhaus, das sich ewig nach unten windet. Spiralförmig. Wie ein aufgeschnittener Apfel, nur dass niemand den süßen Teil haben will. Meine Hand gleitet über das Metallgeländer, das kalt ist. Eiskalt. So kalt, dass es an meinen Fingerspitzen brennt.
Die Beleuchtung ist beschissen. Diese Neonröhren, die alle paar Sekunden flackern und dann ein Geräusch machen wie ein sterbender Kühlschrank. Ich hasse dieses Geräusch. Es erinnert mich an die Zeit, als ich mit heftigem Fieber im Bett lag und der Ventilator die ganze Nacht dieses rhythmische Klacken von sich gab.
Ich gehe die Treppe hinunter. Stufe für Stufe. Der Beton ist abgenutzt, in der Mitte jeder Stufe ist eine kleine Mulde. Wie viele Menschen sind hier schon langgelaufen? Tausende? Millionen? Die Wände sind grau, aber nicht überall. Stellenweise blättert die Farbe ab und darunter kommt ein seltsames Ocker zum Vorschein. Wie der Sand am Strand von Málaga, nur schmutziger, lebloser.“Weiter“, sage ich zu mir selbst. Meine Stimme hallt im Treppenhaus. Ein Echo, das von den Wänden zurückgeworfen wird, bis es sich verliert.

Ich höre meine eigenen Schritte. Tap, tap, tap. Sie klingen seltsam metallisch auf dem Beton.Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich einen Absatz. Eine Tür. Schwer, aus Metall, mit einer verbeulten Oberfläche. Kein Griff, nur eine flache Metallplatte, wo normalerweise ein Griff sein sollte. Ich drücke dagegen, nichts passiert. Ich stemme mich mit der Schulter dagegen, lege mein ganzes Gewicht hinein. Die Tür gibt plötzlich nach, öffnet sich mit einem rostigen Knarren, das mir durch Mark und Bein geht.
Der Raum dahinter ist dunkel. Stockdunkel. Ich taste nach einem Lichtschalter, finde keinen. Aus meiner Hosentasche ziehe ich mein Feuerzeug. Ein billiges Plastikding aus dem Kiosk an der Ecke. Ich drücke den kleinen Metallhebel nach unten und eine schwache Flamme erscheint. Sie wirft tanzende Schatten an die Wände.Was ich sehe, verschlägt mir den Atem.
Der Raum ist riesig. Eine unterirdische Halle. Überall stehen metallene Regale, die bis zur Decke reichen. Und in den Regalen: Akten. Tausende, nein, Millionen von Akten. Manche in vergilbten Mappen, andere in modernen Kunststoffhüllen.“Was zum Teufel“, murmle ich und meine Stimme wird von der Dunkelheit verschluckt.Ich gehe einen schmalen Gang zwischen den Regalen entlang.
Das Feuerzeug gibt nicht viel Licht, aber genug, um die Beschriftungen an den Regalen zu erkennen. Namen. Überall Namen. Und Daten. Geburtsdaten vermutlich.Das Feuerzeug wird heiß in meiner Hand. Ich lasse den Hebel los und die Flamme erlischt. Dunkelheit umhüllt mich wieder. Ich zünde es erneut an. Die Flamme erscheint, kleiner diesmal. Der Brennstoff geht zur Neige.Ich biege um eine Ecke und stehe vor einem Schreibtisch. Alt, aus dunklem Holz, mit einer grünen Filzauflage, die an den Rändern ausgefranst ist.
Auf dem Tisch steht eine Lampe mit einem grünen Glasschirm. Ich drücke auf den Knopf an der Seite und tatsächlich – sie funktioniert. Ein warmes, grünliches Licht breitet sich aus.Unter der Lampe liegt eine Akte. Ich setze mich auf den knarrenden Holzstuhl vor dem Schreibtisch und schlage sie auf. Mein Herz macht einen Satz. Das bin ich. Mein Name, mein Geburtsdatum. Und darunter: Träume.Die Seiten sind vollgeschrieben mit einer kleinen, ordentlichen Handschrift.
Ich lese den ersten Eintrag:Traum vom 14. März: Subjekt befindet sich in einem Boot auf offenem Meer. Das Wasser ist türkisblau, die Sonne brennt. Subjekt hat Durst, findet aber nur eine Flasche mit Meerwasser. Trinkt trotzdem. Wacht mit trockenem Mund auf.Ich blättere weiter. Jede Seite ist voll mit detaillierten Beschreibungen meiner Träume. Träume, an die ich mich nicht einmal erinnere. Träume von Flugzeugen, die in Wohnzimmern landen. Von Mahlzeiten, bei denen das Besteck schmilzt. Von Gesprächen mit Menschen, deren Gesichter wie Wachs zerfließen.“Das ist unmöglich“, sage ich laut. „Das ist völliger Schwachsinn.“Ein leises Kichern hinter mir lässt mich herumfahren. Da steht jemand. Eine Gestalt im Schatten, nur schemenhaft zu erkennen.“Wer ist da?“, frage ich, und meine Stimme klingt viel zu hoch.Die Gestalt tritt einen Schritt näher. Es ist eine alte Frau. Weißes Haar zu einem strengen Knoten gebunden, eine altmodische Brille auf der Nase. Sie trägt einen grauen Kittel, wie ihn Laboranten tragen.“Du bist früh dran“, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie raschelndes Papier. „Normalerweise kommen sie erst, wenn die Akte voll ist.““Was ist das hier? Was soll das alles?“, frage ich und zeige auf die Akte vor mir.Die Frau lächelt. Ein seltsames Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht. „Das Archiv natürlich. Jeder Traum, den jeder Mensch jemals hatte, wird hier aufgezeichnet. Manche nennen es das kollektive Unbewusste. Andere nennen es einfach Bürokratie.“Sie geht um den Schreibtisch herum und nimmt mir die Akte aus der Hand. „Das ist noch nicht fertig“, sagt sie und klappt sie zu. „Du solltest jetzt gehen. Komm wieder, wenn dein letzter Traum geträumt ist.“Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. „Und wann wird das sein?“Die Frau zuckt mit den Schultern. „Das weiß niemand. Nicht einmal wir. Träume sind unberechenbar. Wie das Leben selbst.“Sie stellt die Akte in ein Regal hinter dem Schreibtisch und dreht sich wieder zu mir um. „Aber ich kann dir einen Gefallen tun. Willst du einen Blick in fremde Träume werfen? Die Träume deiner Liebsten vielleicht?“Ich zögere. Natürlich will ich das. Wer würde nicht wollen, zu wissen, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht, wenn sie schlafen?“Ja“, sage ich schließlich.Die Frau nickt und geht zu einem anderen Regal. Sie zieht eine dicke Akte heraus und legt sie vor mich auf den Tisch. „Bitte sehr“, sagt sie.Ich schlage die Akte auf. Der Name auf dem Deckblatt lässt mein Herz stolpern. Es ist der Name einer Person, die mir sehr nahesteht. Jemand, den ich zu kennen glaubte.Die erste Seite zeigt einen Traum von vor vielen Jahren. Ein Traum von Verrat und Flucht. Ein Traum, in dem ich die Rolle des Feindes spiele.Ich schlucke hart und blättere weiter. Die Träume werden intensiver, verstörender. In vielen von ihnen komme ich vor, aber nicht als die Person, die ich zu sein glaube. In diesen Träumen bin ich ein Monster.“Das stimmt nicht“, sage ich. Meine Hände zittern. „Das sind Lügen.“Die alte Frau lacht leise. „Träume lügen nicht. Sie enthüllen nur Wahrheiten, die wir im Wachzustand nicht sehen wollen.“Ich klappe die Akte zu und schiebe sie von mir weg. „Ich will das nicht sehen.““Natürlich nicht“, sagt die Frau. „Niemand will wirklich sehen, was in den Köpfen anderer vorgeht. Besonders nicht in den Köpfen derer, die wir lieben.“Ich stehe auf. Der Stuhl kratzt über den Betonboden. „Ich gehe jetzt.“Die Frau nickt nur. „Der Ausgang ist da, wo der Eingang war. So ist es immer.“Ich drehe mich um und gehe den Gang zurück. Die Regale scheinen jetzt höher zu sein, die Gänge enger. Das Licht der grünen Lampe wird schwächer, je weiter ich mich entferne.Als ich die Metalltür erreiche, drücke ich dagegen. Sie öffnet sich ohne Widerstand. Dahinter ist nicht das Treppenhaus, sondern ein langer, weißer Korridor. Am Ende des Korridors sehe ich Tageslicht.Ich laufe darauf zu. Meine Schritte hallen von den weißen Wänden wider. Das Licht wird heller, blendender.Und dann bin ich draußen. Auf einer belebten Straße einer spanischen Stadt. Menschen gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Die Sonne brennt auf meinen Kopf. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn.Ich setze mich auf eine Bank unter einem verdorrten Olivenbaum. Mein Atem geht schnell, mein Herz rast immer noch. Ich schließe die Augen und atme den Geruch von heißem Asphalt und Autoabgasen ein.Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich am Straßenrand einen kleinen Kiosk. Derselbe Kiosk, in dem ich mein Feuerzeug gekauft habe. Ich gehe hin und kaufe mir eine Flasche Wasser. Die eiskalte Flüssigkeit rinnt meine trockene Kehle hinunter.Neben dem Kiosk steht ein Zeitungsständer. Die Schlagzeile der Tageszeitung springt mir ins Auge: „Unterirdisches Archiv bei Bauarbeiten entdeckt.“ Darunter ein verschwommenes Foto von einer Treppe, die ins Dunkle führt.Mir wird schwindelig. Ich lehne mich gegen die Wand des Kiosks. Die raue Oberfläche kratzt an meinem Rücken durch das dünne T-Shirt hindurch.“Alles in Ordnung?“, fragt der Kioskbesitzer, ein älterer Mann mit sonnengegerbter Haut und einem grauen Schnurrbart.“Ja“, sage ich. „Nur die Hitze.“Er nickt verständnisvoll. „Es ist zu heiß für März“, sagt er. „Das Klima verändert sich. Nichts ist mehr, wie es einmal war.““März?“, frage ich verwirrt. „Wir haben doch August.“Der Mann schüttelt den Kopf. „Nein, Señor. Heute ist der 14. März.“Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, trotz der Hitze. Der 14. März. Genau wie in dem ersten Eintrag in meiner Akte. Der Traum mit dem Boot und dem Meerwasser.Ich verabschiede mich hastig und gehe die Straße hinunter. Die Stadt kommt mir gleichzeitig vertraut und fremd vor. Wie ein Ort, den man nur aus Erzählungen kennt, aber nie selbst besucht hat.An einer Kreuzung bleibe ich stehen und schaue mich um. In der Ferne sehe ich das Meer. Ein schmaler Streifen Blau am Horizont. Türkisblau, genau wie in dem aufgezeichneten Traum.Ein Taxi hält neben mir. Der Fahrer lässt das Fenster herunter. „Zum Hafen?“, fragt er.Ich nicke, obwohl ich nicht weiß, warum. Der Fahrer lächelt. Im Rückspiegel sehe ich, dass er die gleiche altmodische Brille trägt wie die Frau im Archiv.“Die Boote legen bald ab“, sagt er, als wir losfahren. „Sie sollten sich beeilen, wenn Sie noch eines erwischen wollen.““Wohin fahren die Boote?“, frage ich.Der Fahrer lacht. Ein raschelndes Lachen. „Nach draußen natürlich. Auf das offene Meer. Dorthin, wo die Träume enden.“Ich schließe die Augen. Wenn ich sie wieder öffne, werde ich in meinem Bett sein, denke ich. Das hier ist nur ein weiterer Traum. Ein Traum im Traum.Aber als ich die Augen öffne, halte ich vor dem Hafen. Der Taxifahrer ist verschwunden. Die Autotür steht offen. Ich steige aus und gehe zum Kai.Dort liegt ein kleines Boot. Weiß, mit einem blauen Streifen an der Seite. Im Boot sitzt die alte Frau aus dem Archiv. Sie winkt mir zu.“Es wird Zeit“, ruft sie. „Die Flut kommt.“Ich zögere. Wenn ich in dieses Boot steige, gibt es kein Zurück mehr, das spüre ich. Aber was ist die Alternative?Ich denke an die Akte. An die fremden Träume, in denen ich ein Monster bin. An meine eigenen Träume, die ich vergessen habe.Der Wind frischt auf. Das Meer wird unruhiger. Kleine Wellen schlagen gegen die Kaimauer.“Entscheide dich“, sagt die Frau. „Jetzt.“Ich mache einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Meine Füße auf den Holzplanken des Stegs klingen hohl, wie ein entferntes Echo. Das Boot schaukelt leicht, als ich einsteige.Die Frau reicht mir ein Ruder. „Du musst selbst steuern“, sagt sie. „Ich bin nur der Lotse.“Ich nehme das Ruder. Es fühlt sich schwer an, aus dunklem, poliertem Holz. Die Frau löst das Seil, mit dem das Boot festgemacht war. Langsam treiben wir vom Kai weg, hinaus auf das offene Meer.Die Sonne spiegelt sich auf dem Wasser, wirft tanzende Lichtreflexe. In der Ferne sehe ich andere Boote. Kleine weiße Punkte auf dem endlosen Blau.“Wohin fahren wir?“, frage ich.Die Frau zeigt nach vorne, wo Meer und Himmel miteinander verschmelzen. „Dorthin, wo die nächste Seite beginnt“, sagt sie.Ich spüre eine seltsame Ruhe in mir. Eine Akzeptanz, die ich nicht erklären kann. Als hätte ich schon immer gewusst, dass es hierauf hinauslaufen würde.Das Wasser wird tiefer, dunkler. Unter der Oberfläche meine ich Bewegungen zu sehen. Große Schatten, die unter uns hindurchgleiten.“Keine Sorge“, sagt die Frau, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Das sind nur die anderen Träume. Sie können dir nichts anhaben, solange du im Boot bleibst.“Ich nicke, obwohl ich nicht verstehe, was sie meint. Mein Mund ist trocken. Ich habe Durst.“Gibt es hier etwas zu trinken?“, frage ich.Die Frau reicht mir eine Flasche. „Nur das“, sagt sie.Ich öffne die Flasche und rieche daran. Meerwasser. Natürlich.Ich setze die Flasche an die Lippen. Das Salzwasser brennt in meinem Mund, in meiner Kehle. Aber ich trinke trotzdem. Ich trinke, bis die Flasche leer ist.Die Frau nimmt mir die leere Flasche ab und wirft sie über Bord. Sie sinkt schnell, verschwindet im Dunkel unter uns.“Jetzt wird es Zeit aufzuwachen“, sagt sie.“Aber ich bin doch wach“, protestiere ich.Sie schüttelt den Kopf. Ihr weißes Haar hat sich aus dem Knoten gelöst und weht im Wind. „Niemand ist jemals wirklich wach“, sagt sie. „Wir träumen alle. Ständig. Auch jetzt.“Sie streckt die Hand aus und berührt meine Stirn. Ihre Finger sind eiskalt. „Wach auf“, flüstert sie.Und dann ist da nichts mehr als Dunkelheit.Ich taste um mich herum. Meine Finger berühren etwas Weiches. Stoff. Eine Bettdecke. Ich bin in meinem Bett.Es ist dunkel im Zimmer, aber nicht stockdunkel. Durch die Ritzen der Jalousie fallen schmale Streifen Mondlicht. Ich höre das ferne Rauschen des Meeres.Mein Mund ist trocken, als hätte ich tagelang nichts getrunken. Auf dem Nachttisch steht ein Glas Wasser. Ich greife danach, trinke gierig.Als ich das Glas wieder abstelle, fällt mein Blick auf ein Stück Papier neben der Lampe. Ich schalte die Lampe ein. Das grünliche Licht wirft lange Schatten an die Wand.Auf dem Papier steht in einer kleinen, ordentlichen Handschrift: „Traum vom 14. März: Subjekt befindet sich in einem Boot auf offenem Meer. Das Wasser ist türkisblau, die Sonne brennt. Subjekt hat Durst, findet aber nur eine Flasche mit Meerwasser. Trinkt trotzdem. Wacht mit trockenem Mund auf.“Daneben liegt mein Feuerzeug. Ein billiges Plastikding aus dem Kiosk an der Ecke.