As Time Goes By

Die Stadt der Flüsse

Ich stoße das Boot mit einem langen, rostigen Stock vom Ufer ab und gleite hinaus auf den Kanal. Das Wasser ist eine trübe Suppe aus Schlamm, Plastikmüll und undefinierbaren Bröckchen, die sich bei genauerem Hinsehen als zerfallene Reste von etwas Größerem entpuppen – ein Schuh hier, ein Stück eines Spielzeugs dort. Die Sonne versucht vergeblich, durch den Smog zu dringen, aber selbst ihr Licht wirkt müde, wie ein alter Film, der schon zu oft abgespielt wurde.

Das Boot unter mir ist aus Autoreifen gebaut, zusammengehalten von Seilen, die einmal Teil eines Fischerbootes waren. Es quietscht bei jeder Bewegung, als würde es jeden Moment auseinanderfallen. Aber es hält. Noch. Genau wie wir.

„Da!“, ruft meine Schwester Elena von der anderen Seite des Bootes und deutet auf etwas im Wasser. Ich folge ihrem Finger und sehe es: eine Ratte, die sich an einem halbversunkenen Selfiestick festklammert. Sie paddelt panisch, ihre Augen weit aufgerissen, als wüsste sie genau, dass sie hier nicht überleben wird.

„Fang sie“, sage ich und reiche Elena das Netz. Sie lehnt sich gefährlich weit über den Rand des Bootes, ihre Finger umklammern das Netz wie einen Rettungsanker. Als sie die Ratte endlich erwischt, quiekt das Tier schrill, windet sich verzweifelt in dem engen Gefängnis.

„Sie ist dünn“, murmelt Elena und hält das Netz hoch. „Vielleicht zu dünn.“

„Wir werden sehen“, antworte ich und fahre weiter.

Früher war Venedig voller Leben. Touristen strömten durch die Gassen, fotografierten die Kanäle, die Brücken, die Palazzi. Ihre Selfiesticks ragten wie bizarre Insektenfühler in die Luft, während sie lachten und posierten, als wäre diese Stadt ein Ort, der nur für sie existierte. Jetzt treiben ihre Stöcke in den Wellen, verheddert in Plastiktüten und kaputten Wasserflaschen. Manche sind noch intakt, andere zerbrochen, als hätten sie den Kampf gegen das Wasser verloren.

Aber die Touristen kommen nicht mehr. Warum auch? Was gibt es hier noch zu sehen außer Verfall? Die prächtigen Gebäude stürzen ein, die Mauern sind von Moos und Schimmel überzogen. Die Gondeln liegen am Grund der Kanäle, ihre Ruder längst zerfallen. Nur die Ratten sind geblieben. Und wir.

„Warum machen wir das noch?“, fragt Elena plötzlich, ihre Stimme klingt flach, als hätte sie die Frage schon tausendmal in ihrem Kopf hin und her gewälzt. „Was bringt es noch?“

Ich sehe sie an, ihre hohlen Wangen, die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie hat recht. Was bringt es? Wir fischen Ratten, weil es nichts anderes mehr gibt. Weil wir essen müssen, um zu überleben. Aber überleben wozu? Um in einer sterbenden Stadt zu vegetieren, bis auch wir zu Staub zerfallen?

„Weil wir keine Wahl haben“, sage ich schließlich. „Solange wir atmen, müssen wir kämpfen.“

Elena schnaubt bitter. „Kämpfen? Wogegen? Den Müll? Die Ratten? Uns selbst?“

Ich antworte nicht. Stattdessen steuere ich das Boot in Richtung einer der größeren Verschmutzungen im Wasser. Ein Berg aus Plastikmüll türmt sich dort auf, so hoch, dass er fast die Brücke darüber berührt. Manche der Plastikteile sind noch bunt, Überreste von Dingen, die einst schön waren – eine Spielzeugfigur, ein Stück eines Kinderballs, eine zerrissene Plane mit dem Logo eines Getränkemarktes.

„Halt das Boot stabil“, sage ich und greife nach einem der langen Haken, die wir immer dabei haben. Ich ziehe an dem Müllberg, versuche, ihn auseinanderzuziehen, um zu sehen, was darunter ist. Vielleicht finden wir etwas Nützliches. Eine Konservendose. Ein Stück Schnur. Irgendetwas.

Doch dann höre ich es – ein leises Knistern, wie von statischem Rauschen. Es kommt aus dem Müllberg. Ich halte inne und starre auf die Plastikmassen, die sich langsam bewegen, als würden sie atmen.

„Hörst du das?“, frage ich Elena.

Sie nickt, ihre Augen groß vor Angst. „Was ist das?“

Ich weiß es nicht. Aber ich spüre, wie sich die Haare in meinem Nacken aufrichten, als würde etwas uns beobachten. Etwas, das sich unter dem Müll versteckt.

Plötzlich schießt eine Hand aus dem Berg, grau und aufgedunsen, die Finger gekrümmt wie Klauen. Ich springe zurück, mein Herz hämmert in meiner Brust. Dann folgt ein Kopf, ein Gesicht, das kaum noch menschlich aussieht. Die Haut ist schlaff, die Augen milchig weiß.

„Helft mir“, krächzt die Gestalt, ihre Stimme brüchig wie trockenes Laub. „Bitte… helft mir.“

Elena schreit auf und lässt das Netz fallen. Die Ratte nutzt die Gelegenheit und springt ins Wasser, paddelt davon. Ich will das Boot wenden, aber der Müllberg bewegt sich weiter, als würden sich noch mehr Hände, noch mehr Körper daraus befreien.

„Rudere!“, schreie ich Elena an, aber sie sitzt wie erstarrt da, ihre Augen auf die Gestalten gerichtet, die sich jetzt aus dem Wasser heben.

„Sie sind überall“, flüstert sie.

Und sie hat recht. Der Müllberg bricht auseinander, und darunter kommen sie zum Vorschein – Dutzende, vielleicht Hunderte von Körpern, die im Wasser treiben. Manche bewegen sich, andere nicht. Aber alle starren uns an, ihre toten Augen glänzend wie poliertes Glas.

„Es tut weh“, sagt eine Stimme, dann noch eine, und noch eine, bis das Flüstern zu einem Chor wird. „Es tut so weh.“

Ich packe den Stock fester und stoße das Boot so hart ich kann vom Ufer ab. Wir müssen hier weg. Sofort.

Aber das Wasser hinter uns brodelt, als würde es leben. Die Gestalten folgen uns, ihre Arme strecken sich nach uns aus.

„Schneller!“, schreie ich, aber Elena ist wie gelähmt.

Dann höre ich es wieder – das Knistern, lauter diesmal. Es kommt nicht von den Toten. Es kommt von uns. Von dem Boot. Von den Reifen, die sich langsam auflösen, als würde das Wasser sie verschlingen.

„Wir sinken!“, schreit Elena, als das Boot bedrohlich schwankt.

Ich sehe nach unten und erkenne, dass das Wasser bereits durch die Ritzen sickert. Der Müll, die Ratten, die Toten – all das spielt jetzt keine Rolle mehr.

„Schwimm!“, rufe ich und springe ins Wasser, bevor das Boot ganz untergeht.

Die Kälte trifft mich wie ein Schlag, aber ich zwinge mich, zur Oberfläche zu kraulen. Als ich auftauche, sehe ich Elena, die sich verzweifelt an einen der Reifen klammert. Doch dann bemerke ich die Hände, die sich um ihre Beine schlingen, sie nach unten ziehen.

„Nein!“, schreie ich und schwimme zu ihr, aber es ist zu spät. Ihr Kopf verschwindet unter der Oberfläche, und ich sehe nur noch die blasse Hand, die ein letztes Mal aus dem Wasser ragt, bevor sie für immer versinkt.

Ich bleibe allein zurück, umgeben von den Toten, die mich aus dem Wasser anstarren. Ihre Stimmen hallen in meinem Kopf wider, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin oder wer ich bin.

„Du bist eine von uns“, flüstern sie. „Du warst es immer.“

Und dann ziehen sie mich unter Wasser.

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