Die Stadt der Kinder

Ich ducke mich tiefer in den Schatten eines umgestürzten Kiosks, während das Echo ihrer Schritte durch die verfallenen Straßen hallt. Sie sind überall – die Kinderkönige der Stadt, mit ihren selbstgebauten Waffen und harten Augen, die zu alt für ihre Gesichter wirken. In ihren Händen halten sie Rohre, Messer, Molotowcocktails und manchmal sogar richtige Schusswaffen, wie die Schrotflinte des Mädchens, das gerade an mir vorbeigeht. Ihr Blick streift kurz über meinem Versteck, aber sie bemerkt mich nicht. Noch nicht.
„Die Alten haben alles kaputtgemacht“, sagt sie zu einem der anderen, ein Junge kaum älter als zehn, dessen Gesicht unter einer Schicht aus Ruß und Dreck kaum zu erkennen ist. „Sie haben uns nichts als Asche und Lügen hinterlassen.“
Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich bin einer von diesen „Alten“, obwohl ich erst Mitte dreißig bin. Aber hier, in dieser zerstörten Welt, bin ich uralt. Ein Überbleibsel einer Zeit, die diese Kinder nur aus den Geschichten kennen, die sie sich gegenseitig erzählen – Geschichten voller Hass und Verrat.
Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, als sie weiterziehen. Ihre Gruppe verschwindet in einem der Metro-Eingänge, deren Treppen wie offene Münder in die Dunkelheit führen. Die Tunnel dort unten sind tödlich, das weiß ich. Sie haben sie in Fallen verwandelt, voller Stolperdrähte, Sprengfallen und Gruben. Niemand geht dort hinunter, außer man hat den Tod verdient.
Aber ich muss da runter. Meine Schwester ist irgendwo dort unten. Sie war Teil ihrer Bande, bevor sie verschwand. Vielleicht lebt sie noch. Vielleicht auch nicht. Doch solange ich es nicht genau weiß, kann ich nicht aufgeben.
Ich warte, bis die Straße leer ist, dann schleiche ich zu dem Eingang, den sie genommen haben. Der Geruch von Moder und verbranntem Plastik steigt mir in die Nase, als ich die ersten Stufen hinabsteige. Das Metallgeländer ist eiskalt unter meinen Fingern, und das einzige Licht kommt von vereinzelten Feuern, die irgendwo in der Tiefe brennen. Die Schatten tanzen an den Wänden, als würden sie mich verspotten.
Plötzlich höre ich ein leises Knacken unter meinem Fuß. Ich halte inne und sehe nach unten. Eine dünne Drahtschlinge spannt sich über die Treppe, kaum sichtbar im Halbdunkel. Wenn ich weitergegangen wäre, hätte ich sie ausgelöst. Mein Atem stockt, als ich den Mechanismus entdecke, der an der Decke befestigt ist – eine improvisierte Falltür, von der schwere Metallstangen baumeln. Ein falscher Schritt, und ich wäre jetzt tot.
„Du bist entweder mutig oder dumm“, sagt eine Stimme hinter mir. Ich fahre herum und sehe das Mädchen mit der Schrotflinte am oberen Ende der Treppe stehen. Sie hat mich gefunden. Ihre Waffe ist direkt auf mich gerichtet, und ihr Finger liegt am Abzug. „Was tust du hier?“
Ich hebe langsam die Hände, damit sie sieht, dass ich unbewaffnet bin. „Ich suche jemanden“, sage ich. „Meine Schwester. Sie war bei euch.“
Das Mädchen kneift die Augen zusammen. „Name?“
„Lena“, antworte ich. „Sie ist zwölf Jahre alt. Blonde Haare, blaue Augen. Sie hatte eine Narbe über der linken Augenbraue.“
Etwas flackert in ihrem Blick – vielleicht Erkennen, vielleicht auch nur Misstrauen. „Komm mit“, sagt sie schließlich und winkt mich mit der Waffe nach oben. „Wenn du lügst, bist du tot.“
Ich folge ihr zurück auf die Straße, wo die anderen bereits auf uns warten. Ihre Blicke bohren sich in mich wie Messer, aber ich ignoriere sie und konzentriere mich auf das Mädchen, das mich gefangen hat. Sie führt mich zu einem alten Café, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Drinnen sitzen mehrere Kinder um einen Tisch, auf dem eine Karte der Metro-Tunnel ausgebreitet liegt.
„Er sucht seine Schwester“, sagt das Mädchen zu den anderen. „Lena.“
Ein kleiner Junge mit einer Brille, deren Gläser gesprungen sind, sieht auf. „Lena… die, die in die Falle gelaufen ist?“
Mir wird kalt. „Was meinst du damit? Welche Falle?“
Der Junge zögert, aber dann zeigt er auf einen Punkt auf der Karte. „Hier. Im Nordtunnel. Wir haben sie gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Sie ist gerannt, direkt in die Sprengfalle. Es gab keine Überlebenden.“
Ich starre ihn an, unfähig, die Worte zu verarbeiten. Lena… meine kleine Schwester… tot? Nein. Das kann nicht sein. Sie würde niemals so unvorsichtig sein. Sie war klug, vorsichtig…
„Zeig mir die Stelle“, sage ich schließlich, meine Stimme rau vor Anspannung.
Das Mädchen mit der Schrotflinte mustert mich lange, dann nickt sie. „Okay. Aber wenn du versuchst, uns reinzulegen, bist du der Nächste, der brennt.“
Wir machen uns auf den Weg zurück in die Tunnel, tiefer in die Dunkelheit, die nach Tod und Vergessen riecht. Jeder Schritt fühlt sich schwerer an als der letzte, aber ich gehe weiter. Denn wenn es auch nur die kleinste Chance gibt, dass Lena noch lebt, muss ich sie finden. Selbst wenn es mich das Leben kostet.