Die Stadt der Vögel

Ich ziehe das Netz fester über mein Gesicht, als ich die Treppe des alten Hochhauses hinuntersteige. Die Krähen sind bereits wach, ihre Schreie hallen durch die zerfallenen Straßen der Stadt wie ein unheimliches Morgenlied. Ihre schwarzen Leiber bedecken jeden Zentimeter der Stadt – auf den Dächern, den zerbrochenen Fenstern, den verrosteten Klimaanlagen, die wie tote Metallkadaver an den Hauswänden hängen. Sie picken an allem, was noch übrig ist, und wenn sie nichts mehr finden, kommen sie zu uns.
Meine Lungen brennen schon jetzt, obwohl ich kaum draußen bin. Die Federn der Krähen sind überall – sie wirbeln durch die Luft wie Ascheflocken nach einem Brand, dringen durch die engsten Maschen unserer Netze und setzen sich in unseren Atemwegen fest. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde ich Glas einatmen. Aber wir haben keine Wahl. Ohne die Netze würden wir ersticken, bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht.
„Beeil dich“, ruft Hiroshi von unten. Er steht am Fuß der Treppe, einen Sack über der Schulter, sein Gesicht hinter einem fleckigen Netz verborgen. „Die Krähen werden bald wissen, dass wir hier sind.“
Ich nicke und beeile mich, die letzten Stufen hinunterzukommen. Der Asphalt unter meinen Füßen ist rissig und von Vogelkot bedeckt. Überall liegen die Überreste dessen, was einmal eine pulsierende Metropole war: zerbrochene Neonröhren, verrostete Fahrzeuge, aus denen Federn quellen, und Berge von Plastikmüll, die langsam von den Krallen der Vögel zerlegt werden. Es gibt keine Autos mehr, keine funktionierenden Ampeln, keine Menschenmengen. Nur uns – und die Krähen.
Hiroshi und ich schleichen durch die Ruinen, unsere Schritte vorsichtig, um kein Geräusch zu machen. Doch es ist zwecklos. Die Krähen spüren uns, lange bevor wir sie sehen können. Ein lautes Krächzen ertönt irgendwo über uns, und dann noch eines. Innerhalb von Sekunden wird die Luft lebendig mit schlagenden Flügeln. Ich sehe nach oben und erstarre. Der Himmel verdunkelt sich, als Tausende von Vögeln gleichzeitig auffliegen, ihre Schatten tanzen über die Wände wie ein makabres Ballett.
„Lauf!“, schreit Hiroshi, aber ich kann mich nicht bewegen. Meine Beine sind wie eingefroren, während die ersten Krähen auf uns herabstürzen. Ihre scharfen Schnäbel glänzen im schwachen Licht der Morgensonne, und ihre Augen sind kalt und leer, als hätten sie längst vergessen, dass sie einst friedliche Wesen waren.
Ein stechender Schmerz zuckt durch meine Schulter, als einer der Vögel mich trifft. Ich schreie auf und schlage wild um mich, doch es sind zu viele. Hiroshi packt mich am Arm und zieht mich in Richtung eines halb eingestürzten Gebäudes. Wir stolpern hinein und schlagen die Tür hinter uns zu, gerade als die ersten Krähen gegen das Holz hämmern.
Drinnen ist es dunkel und stickig, aber wenigstens sind wir vorerst sicher. Ich reiße das Netz von meinem Gesicht und huste, bis meine Brust schmerzt. Schwarze Federn kleben an meinen Lippen und in meinen Haaren. Hiroshi lehnt schwer atmend an der Wand, sein Gesicht aschfahl.
„Das wird schlimmer“, sagt er zwischen zwei keuchenden Atemzügen. „Jeden Tag mehr von ihnen. Jeden Tag weniger von uns.“
Ich nicke, unfähig zu sprechen. Mein Blick fällt auf die gegenüberliegende Wand, wo jemand etwas in großen, krakeligen Buchstaben auf den Putz gemalt hat: „Sie wissen, dass wir hier sind.“
„Was meinst du, warum tun sie das?“, frage ich schließlich. „Warum greifen sie uns an?“
Hiroshi schüttelt langsam den Kopf. „Vielleicht… vielleicht wollen sie nur zurück, was wir ihnen genommen haben. Den Himmel. Die Freiheit. Das Leben.“
Ich will ihm widersprechen, doch dann höre ich es – ein leises Kratzen, direkt über uns. Die Krähen sind noch da. Sie warten. Und sie wissen genau, wo wir sind.
Langsam hebe ich den Kopf und sehe durch ein Loch in der Decke nach oben. Dort sitzen sie, Hunderte von Augenpaaren, die auf uns herabstarren. Ihre Federn fallen wie schwarzer Schnee auf uns herab, und ich spüre, wie sich ihre Blicke in meine Haut bohren.
„Wir können nicht ewig hierbleiben“, flüstere ich.
Hiroshi sieht mich an, seine Augen voller Resignation. „Vielleicht müssen wir das auch gar nicht.“
Dann verstummt er, und wir beide lauschen dem unaufhörlichen Krächzen der Krähen, das wie ein Countdown klingt.
Die Bäume um mich herum flüstern, als ich durch das dichte Unterholz stolpere. Ihre Äste biegen sich wie tastende Finger, obwohl kein Wind weht. Die Stimmen sind leise, kaum mehr als ein Wispern, aber sie sind überall – in den Blättern, im Rascheln des trockenen Laubs unter meinen Füßen, selbst in der feuchten Luft, die ich atme. Es ist eine Sprache, die ich nicht verstehe, Worte, die sich wie Echos aus einer anderen Welt anhören.
„Hör nicht hin“, hat mir meine Mutter immer gesagt, bevor sie verschwand. „Die Bäume erinnern sich an jeden, der je hier war. Und sie wissen, wer als Nächstes gehen muss.“
Ich schüttle den Kopf, versuche, die Flüsterstimmen auszublenden. Aber je weiter ich gehe, desto lauter werden sie. Manche klingen wie verzweifelte Schreie, andere wie sanftes Murmeln, wieder andere wie Lachen, das vor Jahren verstummt ist. Jede Stimme trägt eine Geschichte mit sich, doch keine davon gehört zu jemandem, der noch am Leben ist.
Vor mir tut sich eine Lichtung auf, und ich bleibe abrupt stehen. Die anderen haben recht – man sollte die Lichtungen meiden. Überall liegen Handys, Hunderte, vielleicht Tausende, wie tote Insekten auf dem Boden verstreut. Einige sind alt, ihre Bildschirme gesprungen oder ganz schwarz. Andere sehen fast neu aus, als wären sie erst gestern hier abgelegt worden. Manche vibrieren noch schwach, als wollten sie verzweifelt ihre letzten Nachrichten abschicken. Aber die Akkus sind längst leer, genau wie die Menschen, die sie einst bei sich trugen.
Ich bücke mich und hebe eines der Geräte auf. Sein Gehäuse ist kalt, doch als ich es in der Hand halte, spüre ich ein seltsames Kribbeln in meinen Fingern. Der Bildschirm bleibt dunkel, aber plötzlich höre ich eine neue Stimme in meinem Kopf, klarer als die anderen. Sie spricht meinen Namen.
„Lass es fallen“, flüstert eine andere Stimme hinter mir. Ich fahre herum und sehe Theo dort stehen, sein Gesicht aschfahl. Er hat seinen Bogen dabei, die Pfeilspitze zittert leicht, als er ihn sinken lässt. „Du weißt, was passiert, wenn du sie berührst.“
Ich öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, doch da dringt die Stimme aus dem Handy in mein Bewusstsein, so laut, dass ich zusammenzucke. Sie ist jetzt direkt in meinem Kopf, eine Frau, die weint und meinen Namen ruft. „Warum bist du nicht gekommen?“, fragt sie. „Ich habe gewartet…“
Meine Hand zuckt zurück, und ich lasse das Handy fallen. Es landet klappernd zwischen den anderen, aber das Flüstern in meinem Kopf bleibt. Es hallt nach, als würde es sich in mich eingraben wollen. Ich presse die Hände gegen meine Ohren, doch die Stimme wird nur noch lauter.
„Was hast du gehört?“, fragt Theo, seine Stimme bricht fast. Er macht einen Schritt auf mich zu, doch dann hält er inne, als fürchte er, die Lichtung zu betreten. „Sag es mir!“
Ich schüttle den Kopf, Tränen laufen über meine Wangen. „Sie hat nach mir gerufen“, bringe ich schließlich hervor. „Sie hat gesagt…“ Doch ich kann den Satz nicht beenden. Die Worte fühlen sich falsch an, als würden sie nicht mir gehören.
Theo senkt den Blick und starrt auf die Handys, die wie ein Teppich aus vergessenen Leben über die Lichtung verteilt sind. „Das tun sie immer“, murmelt er. „Sie locken dich hierher. Sie wollen, dass du bleibst.“
„Aber warum?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits ahne. Die Bäume um uns herum scheinen näher zu rücken, ihre Äste greifen gierig nach uns. Die Flüsterstimmen werden lauter, mischen sich zu einem Chor aus Schmerz und Verlangen. „Warum lassen sie uns nicht in Ruhe?“
Theo antwortet nicht sofort. Er hebt seinen Bogen und zielt auf einen der Bäume, ohne wirklich zu zielen. „Weil wir auch Teil von ihnen werden, wenn wir lange genug hierbleiben“, sagt er schließlich. „Jeder, der verschwindet, wird zu einem Teil des Waldes. Ihre Stimmen bleiben hier, gefangen zwischen den Bäumen. Und sie wollen Gesellschaft.“
Ich will etwas erwidern, doch da höre ich es – ein anderes Flüstern, diesmal direkt neben mir. Es kommt von Theo. Seine Augen glänzen seltsam, als er mich ansieht. „Du solltest gehen“, sagt er, aber seine Stimme ist nicht mehr ganz menschlich. Sie klingt… verzerrt, als würde sie von etwas anderem überlagert.
„Theo?“, frage ich vorsichtig, doch er antwortet nicht mehr. Stattdessen hebt er langsam seinen Arm und zeigt auf etwas hinter mir. Ich drehe mich um und sehe eine weitere Gestalt zwischen den Bäumen stehen. Es ist eine Frau, ihr Gesicht blass und durchscheinend. Sie hält ein Handy in der Hand. Ihr Mund bewegt sich, aber ich höre ihre Worte nicht, weil die Flüsterstimmen jetzt ohrenbetäubend laut sind.
„Lauf“, höre ich Theos Stimme wie aus weiter Ferne. „Lauf, solange du noch kannst.“
Aber meine Beine gehorchen mir nicht. Ich stehe einfach da, während die Frau näher kommt, ihre Schritte völlig lautlos. Dann streckt sie ihre Hand aus, und ich sehe, dass sie mein Gesicht hat.