Moguéran war noch da

Nach der stürmischen Nacht war alles still. Fast zu still. Nur das Meer hielt dagegen, schlug unbeeindruckt seine Wellen gegen den Strand. Der Wind hatte nachgelassen, aber die Luft war noch salzig und schwer, wie eine Erinnerung, die nicht verblassen wollte. Ich stand vor der Haustür, der Hund tänzelte ungeduldig um meine Beine. Sein Blick sagte alles: Zeit, rauszugehen.
Früher hätte mich niemand an den Strand gekriegt. Nicht bei dem Wetter. Nicht überhaupt. „Was will ich da? Sand in den Schuhen, kaltes Wasser bis zu den Knien und der ewige Wind. Kein Mensch braucht das.“ Das hatte ich immer gesagt, mehr zu mir selbst als zu anderen.
Aber jetzt? Jetzt war es anders. Vielleicht, weil der Hund darauf bestand. Vielleicht auch, weil Moguéran mich irgendwann eingefangen hatte, so wie es immer alle einfängt. Man wehrt sich eine Weile, und dann gibt man nach.
Der Himmel war grau, aber nicht mehr drohend. Eher so ein nachdenkliches Grau, das den Tag nicht richtig anfangen lassen wollte. Die ersten Schritte über die Düne fühlten sich an wie ein Übergang – weg von dem, was drinnen war, hin zu dem, was draußen wartete.
Der Strand lag vor mir, leer bis auf ein paar Möwen, die sich über irgendwas in den Tangfeldern stritten. Der Hund rannte los, voller Energie, als hätte er die Nacht nur gewartet, um endlich frei zu sein. Ich blieb stehen, zog die Kapuze ein Stück enger um meinen Kopf und atmete tief ein. Die Luft brannte in meiner Nase, kalt und klar.
Es war seltsam, wie die Stille des Strandes sich anders anfühlte als die des Hauses. Drinnen war sie bedrückend, fast schwer, als müsste ich mich durch sie hindurch kämpfen. Hier draußen war sie leicht, fast willkommen.
Ich ging los, die Hände tief in den Taschen. Der Hund kam zurück, bellte kurz, lief wieder vor. Die Wellen rollten gleichmäßig auf den Strand, und das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. Ich ließ meinen Blick über das Wasser schweifen, bis hin zum Horizont, der sich kaum vom Himmel unterschied.
Früher hätten wir hier zusammen gestanden, Marie und ich. Ich hätte versucht, ihr zu erklären, warum ich den Strand nicht mochte. Sie hätte gelacht, diesen kurzen, leichten Ton, der immer ein bisschen zu spät kam, wie ein Nachklang. Und dann hätte sie irgendwas gesagt, das mich doch überzeugt hätte, mitzukommen. Sie hatte diese Art, mich in Bewegung zu setzen, ohne dass ich es merkte.
Mein Handy vibrierte in der Tasche. Ich zog es heraus, ein wenig widerwillig, als würde das Geräusch die Ruhe des Strandes stören. Ihr Name stand da, so klar und doch irgendwie fremd. Marie.
„Vielleicht komme ich bald“, schrieb sie. Keine Anrede, kein Hallo, nichts. Einfach nur das.
Vielleicht.
Ich starrte auf das Wort, ließ es in meinem Kopf kreisen. Es war so typisch für sie, dieses Zögern, diese Unverbindlichkeit. Sie wollte immer alles offenhalten, jede Tür einen Spalt breit offen lassen, für den Fall, dass sie sich umentscheiden musste.
„Warum vielleicht?“ schrieb ich zurück.
Der Hund hatte etwas entdeckt, vielleicht eine Muschel, vielleicht ein Stück Holz. Er sprang darum herum, bellte einmal kurz und rannte dann weiter. Ich folgte ihm langsam, spürte den Sand unter meinen Schuhen, das Knirschen bei jedem Schritt.
Das Handy vibrierte wieder.
„Weil ich es nicht genau weiß. Aber ich denke an dich. Und an Moguéran.“
An Moguéran. Natürlich. Dieser Ort hatte sie genauso festgehalten wie mich, nur dass sie immer die Möglichkeit hatte zu gehen. Und sie hatte sie genutzt. Ich blieb stehen, sah auf die Wellen hinaus und spürte die Kälte, die durch meine Jacke kroch.
„Moguéran ist noch da. Ich auch“, schrieb ich.
Es war keine Einladung, aber auch kein Abschied. Mehr konnte ich nicht sagen. Nicht jetzt.
Der Hund kam zurück, das Fell voller Sand, die Zunge aus dem Maul hängend. Ich bückte mich, rieb ihm über den Kopf, und er sah mich mit diesem unveränderten Blick an, der alles zu sagen schien und doch nichts verriet.
Wir gingen weiter, immer am Rand des Wassers entlang. Die Gischt spritzte gelegentlich bis zu meinen Schuhen, aber ich achtete nicht darauf. Meine Gedanken waren woanders.
Marie hatte eine Art, sich in meinem Kopf festzusetzen, ohne dass ich es wollte. Selbst jetzt, wo ich sicher war, dass es vorbei war – oder zumindest fast –, schaffte sie es, einen Raum in mir zu beanspruchen.
Das Handy vibrierte ein letztes Mal.
„Vielleicht nächste Woche“, schrieb sie.
Nächste Woche. Das war etwas Greifbares, fast Konkretes. Aber eben nur fast. Ich steckte das Handy zurück in die Tasche, sah dem Hund zu, wie er eine Möwe verfolgte, die immer knapp außer Reichweite blieb.
Der Strand endete an den Klippen, wo die Steine schroff ins Wasser ragten. Ich blieb stehen, ließ den Blick noch einmal über das Meer gleiten. Es war so ruhig, so gleichmäßig, dass es fast wie ein Versprechen wirkte.
„Na los“, sagte ich schließlich zum Hund. „Zurück nach Hause.“
Er bellte kurz, sprang an mir vorbei und rannte voraus, den Kopf hoch erhoben, als hätte er etwas Wichtiges vor.
Ich folgte ihm, langsam, jeden Schritt spürend. Moguéran war noch da. Und ich auch. Vielleicht war das genug.