Die Wurzeln des Traums

Der Wald atmete schwer. Zwischen den knorrigen, mit Moos überzogenen Stämmen vibrierte die Luft, als wären die Schatten lebendig, unwillkommene Begleiter auf einer Reise ohne Ziel. Es war kein gewöhnlicher Urwald, kein Ort, den man auf Karten finden konnte. Hier hatte der Raum seine Ordnung verloren, die Zeit sich von der Linearität verabschiedet.
Die Wurzeln, endlos verschlungen, bildeten ein Netz, das wie eine alte, vergessene Sprache wirkte. Jede Linie, jede Verzweigung schien eine Botschaft zu tragen, verborgen vor den Augen, aber spürbar wie ein Pulsieren tief im Schädel.
Der Schamane und der Kreis
Er saß da, der Schamane, eine Gestalt aus Schatten und Licht, mit einem Gesicht, das zugleich uralt und zeitlos wirkte. Seine Augen glühten wie die Überreste eines längst erloschenen Feuers, und in seinen Händen hielt er die Schale – ein Gefäß, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit, die in der Dämmerung schimmerte.
„Trink,“ sagte er, seine Stimme wie das Knistern trockener Blätter im Wind.
Ich nahm die Schale, zögernd, meine Finger schwer und unwillig. Der Duft der Flüssigkeit war fremd, ein Gemisch aus Erde, Rauch und einer unerklärlichen Süße. Ayahuasca, flüsterte etwas in meinem Kopf, ein Wort, das zugleich Versprechen und Warnung war.
Das Zerbrechen der Wirklichkeit
Der erste Schluck brannte, als hätte ich flüssiges Feuer verschluckt. Doch es war kein Schmerz, der blieb, sondern eine seltsame Wärme, die sich langsam ausbreitete, die Muskeln lockerte, die Gedanken entwirrte – oder vielleicht auch genau das Gegenteil tat.
Die Welt begann zu kippen. Die Stämme des Waldes wuchsen in die Unendlichkeit, verschmolzen mit dem Himmel, während die Erde unter meinen Füßen pulsierte, als ob ein Herz darunter schlug. Der Schamane blieb reglos, ein dunkler Punkt in einem Meer aus Farben, die explodierten, sich wandten, dann wieder erloschen.
„Es ist ein Traum,“ dachte ich, „oder mehr als das.“
Die Reise in den Ursprung
Die Wurzeln, verworren und lebendig, griffen nach mir, doch nicht mit Gewalt. Sie zogen, sanft, unerbittlich, führten mich tiefer hinein, bis ich nicht mehr wusste, ob ich kroch, fiel oder schwebte. Die Dunkelheit war überall, durchzogen von Linien aus Licht, die wie die Erinnerungen eines fremden Bewusstseins wirkten.
Ich sah Dinge, die nicht zu sehen waren: Ein Baum, der zugleich ein Körper war, mit Ästen, die wie Adern pulsierten. Augen, die aus der Rinde blickten, jedes ein Fenster in eine andere Realität.
Ein Flüstern begann, zuerst kaum hörbar, dann immer lauter, ein Chor aus Stimmen, die alle dieselbe Frage stellten: „Woher kommst du?“
Die Halluzination des Lebens
Die Antwort war nicht klar. Ein Leben, zersplittert in Fragmente, blitzte auf: Ein Kind, das auf einer Schaukel lachte, ein Haus, dessen Fenster im Regen weinten, ein Körper, der zu Staub zerfiel. Alles war real und nichts war es, wie Bilder in einem alten Spiegel, dessen Oberfläche Risse zeigt.
„Du suchst,“ sagte der Schamane, und plötzlich war er wieder da, obwohl ich ihn nie hatte, gehen sehen.
„Wonach?“ fragte ich, meine Stimme ein Echo, das nicht zurückkam.
„Das, was verloren ging,“ sagte er, und seine Hand wies auf die Dunkelheit vor mir.
Die Offenbarung der Wurzeln
Die Wurzeln waren überall, durchzogen alles, verbanden alles. Sie waren nicht nur der Wald, sie waren die Welt. Jede Verzweigung war eine Wahl, jeder Knotenpunkt ein Leben, das hätte sein können, oder eines, das noch kommen würde.
Ich spürte, wie sie mich durchdrangen, wie sie Erinnerungen aus mir zogen, Bilder und Gedanken, die ich vergessen hatte oder nie gewusst hatte, dass sie existierten.
„Du bist Teil des Ganzen,“ sagte der Schamane, „aber das Ganze ist nicht vollständig.“
Die Wurzeln zogen sich zurück, ließen mich allein in einer Leere, die so tief war, dass sie kein Ende hatte.
Das Erwachen
Als ich die Augen öffnete, war der Wald noch da, doch er hatte sich verändert. Die Farben waren blasser, die Schatten weniger bedrohlich. Der Schamane war verschwunden, nur seine Schale lag noch da, leer und schimmernd im letzten Licht des Tages.
Ich atmete tief ein, und die Luft schmeckte nach Erde und Salz, nach Leben und Tod. Die Wurzeln waren wieder still, doch ich konnte sie immer noch spüren, tief unter meinen Füßen, als ob sie auf mich warteten.
„Es war ein Traum,“ flüsterte ich, „aber es war mehr als das.“